Montag, 24. Dezember 2007

Zurich-Airport: Die bewegende Ankunft von Mena aus Paris

Erst später habe ich realisiert, dass für uns die Welt für eine Weile stille gestanden ist, als wir Mena in der Ankunftshalle im Flughafen Zürich wohlbehalten in Empfang genommen hatten. Ganz selbstsicher kam sie an der Seite des Begleiters daher. Die Übergabe gegen Unterschrift vollzog sich als etwas Selbstverständliches für den Mann und für uns als einen bedeutenden Augenblick.
 
Da standen wir dann, schauten das kleine und in diesem Moment beinahe erwachsen scheinende Mädchen an. Es strahlte, es erzählte. Alles verlief so, wie man es ihm geschildert hatte. Mena wusste im voraus, dass wir an der Glasfront nach ihr ausschauen würden. Sie erkannte uns sofort, winkte, informierte den Begleiter, wir seien da.
 
Anstatt den Weg für andere Ankommende freizuhalten, standen wir einfach still. Erstaunlich, dass uns niemand rügte. Alle fanden ihren Weg wie das Wasser im Quellbereich, wenn es noch kein fixes Bett hat.
 
Unsere 5 ½-jährige Enkelin war in diesem Moment etwas aufgedreht, fotografierte uns, zeigte eine Filmsequenz auf ihrer Digitalkamera, den Blick vom Himmel in die Landschaft, aus dem Flugzeug aufgenommen. Kinder von heute. Da staunen wir. Es wird uns bewusst, wie sich das Wissen der Menschen entwickelt und die Welt verändert hat. Und wie Kinder mit der Technik befreundet sind. Sie spielen mit ihr.
 
Nach der kurzen Bahnfahrt haben wir in Zürich dann die Bahnhofshalle durch den Weihnachtsmarkt verlassen. Mena bewunderte die Tanne mit den vielen Swarowski-Kristallen, die mit dem Licht spielen und Farben herbeizaubern. Sofort wollte sie zu uns nach Hause, um mit dem Grossvater diese Tanne zu malen, das Plakat dann im Freien aufhängen, damit alle wüssten, das „fête“ (das Fest) sei da.
Mit den Farbstiften allein wurde der Baum noch nicht so ausstrahlend, wie sie es gesehen hatte. Anderntags wurde ihm dann aber doch noch zu einem annähernden Glanz verholfen. Der Grossvater schnitt ihr Schnipsel von irisierendem Papier zu und sie verteilte diese so locker, wie es nur Kinder können. Jetzt sei der Baum „magique“ (zauberhaft, magisch), erklärte sie.
Dieses französische Wort werden wir gewiss über die Feiertage hinaus behalten und dort einsetzen, wo das Leben farbig ist und wo wir staunen können.
 
In diesem Sinne „Une bonne année magique 2008!“ (ein gutes, magisches Jahr 2008) an die gesamte Leserschaft.

Sonntag, 16. Dezember 2007

Wintermorgen in Einsiedeln: Besinnliche Dezember-Reise

Weihnachten 2007 wird anders für uns. Wir sind wieder gefordert. Mena, unsere 5 1/2 Jahre alte Enkelin, will mit uns feiern. Sie wird alleine von Paris nach Zürich fliegen. Letzte Woche telefonierte sie mir und sagte: „Grosy! Ich habe es in der Schule erzählt, dass ich allein zu Euch komme. Aber sie glauben es mir nicht!“ (Sie besucht die 3. Stufe der „Ecole maternelle“.) Sie ist fest entschlossen, allein zu reisen, seitdem sie von einer Freundin erfahren hat, wie der Begleitservice der Fluggesellschaften funktioniert. Dieses Mädchen flog in den Herbstferien zur Grossmutter nach Berlin. Es konnte Mena ganz genau informieren.

Nun bin ich nach Einsiedeln gefahren, um dort Kerzen und Schokoladenschmuck für den Christbaum einzukaufen. Es soll diesmal ein besonders strahlender werden. Der offizielle Weihnachtsmarkt war bereits vorbei, doch fand ich in den hier ansässigen, traditionellen Geschäften genau das, was ich suchte. Bei „Lienert“ die Kerzen aus der eigenen Produktion, im Laden der Schafbock- und Lebkuchenbäckerei „Goldapfel“ verschiedenste Varianten von Schokolade, die sich für die Christbaum- und Tischdekoration eignen. Auch bei „Tulipan“ wurde ich fündig. Und dort trinke ich jeweils einen Kaffee und geniesse etwas aus der eigenen Bäckerei. Die Auswahl ist immer gross und die Wahl schwierig. Alles ist fein, von höchster Güte.
 
Auch zu Benziger gehe ich regelmässig. Diesmal schaute ich nach Kinderbüchern aus und fand solche, die einen Bezug zu Weihnachten herstellen. Benziger kenne ich seit Kindsbeinen. Meine Mutter war Präsidentin des Mütter- und Frauenvereins. 1945 fand in unserer Gemeinde, in der katholischen Kirche, eine Volksmission statt. Mutter organisierte den Verkauf von Andenken (Bücher, Andachtsbilder, Gebetsbildchen, Rosenkränze, Figuren von Heiligen, Kreuze usw.) Und diese wurden von Benziger, Einsiedeln, geliefert. Ich durfte, damals 6-jährig, helfen, die grosse Sendung auszupacken und miterleben, wie eine Ausstellung entsteht. Das hat mich geprägt. Wenn von Einsiedeln als einem „Kultur- und Wallfahrtsort“ gesprochen wird, entspricht das auch meiner Wahrnehmung, immer noch. Aber heute ist auch der Sport an diesem Ort ein wichtiger Tourismus-Faktor.
 
Der Mittelpunkt von Einsiedeln ist aber das Kloster mit seiner Gnadenkapelle innerhalb der barocken Kirche. Ein Anziehungspunkt für Millionen von Menschen. Die zeitlose Schönheit der schwarzen Madonna, die aus einer goldenen Wolke hervortritt, fasziniert nicht nur die Katholiken. Hier finden alle, die danach suchen, Einkehr und innere Ruhe. Es ist ein Ort, der uns für eine Weile aus der hektischen und materiell organisierten Alltagswelt heraustreten lässt. Hier können viele ihre Ängste zurücklassen.
 
Wer erstmals nach Einsiedeln kommt, sollte das „Salve Regina“, den Gruss der Mönche an die Gottesmutter, nicht verpassen. Dieses Loblied wird seit beinahe 500 Jahren täglich als Abschluss der Vesper gesungen. (Beginn der knapp halbstündigen Vesper: 16.30 Uhr.) Wer einmal dabei war, wird wiederkommen. Der Gesang ist eindrücklich schön.
 
Es erstaunt nicht, dass das Logo von „Einsiedeln Tourismus“ mit der Silhouette des Klosters für die gesamte Region wirbt.
 
Hier haben Primo und ich geheiratet. Nicht in der barocken Kirche selbst. Zu uns passte die schlichte Turmkapelle besser, die damals den Pfadfindern vorbehalten war.
 
Als Hochzeitsgeschenk durften wir am Tag zuvor die Röcke der Madonna in der Sakristei bewundern. Sie werden in einem alten, gepflegten Schrein aufbewahrt. Ein schmaler Bildband mit dem Titel „Das Kleid der Madonna“ (*) zeigt die offenen Schubladen, in denen die kostbaren Gewänder geschützt aufbewahrt werden. Jedes einzelne hat seine Geschichte. Es heisst da: „Um die Wette vergaben Frauen und Männer ihre kostbaren Stoffe und Röcke an ,Unsere liebe Frauw’. Pater Thaddäus Zingg listet in seiner Dokumentation viele Donatoren aus dem Kreis der Wohlgeborenen auf. Zwei Beispiele sollen das illustrieren: ,Es opferet Maximilian, erwählt König in Polen, Erzherzog in Oesterreich, Ornat mit ganz güldenen Blumen...’ oder ,Die Mutter Napoleons III. besuchte mehrmals Einsiedeln, schenkte ihr Brautkleid, das als Muttergotteskleid verwendet wurde’.
 
Am Tag meines Besuchs trug sie das Menzingerkleid.  Eine Arbeit von Menzinger Nonnen, die 1958 an der SAFFA (Ausstellung für Frauenarbeit) in Bern ausgestellt worden war. Die Stickerei auf diesem Kleid zeigt zwei Engel mit erhobener Krone. Es ist zusätzlich mit virtuosen Ornamenten bestickt.
 
Als ich nach meinem Besuch aus der Kirche heraustrat, war die Welt weiss geworden. In kurzer Zeit fielen so viele Flocken vom Himmel, dass ich eine veränderte, hellere Welt vorfand. Ich war sehr früh nach Einsiedeln gereist, weil ich hoffte, auf dem Weg dem Zürichsee entlang den Sonnenaufgang zu erleben. Den fand ich nicht, bemerkte nur bei der Ankunft, dass die Strassen- und Dekorationslichter gerade ausgeschaltet wurden. Dieser Augenblick markiert überall den eben eingetretenen Sonnenaufgang. Sonst war er für mich als solcher nicht markant wahrzunehmen, die Nebeldecke war zu dicht.
 
Die Anreise nach Einsiedeln ist am schönsten mit der Bahn. Ab Wädenswil überwindet sie innert einer halben Stunde 264 Höhenmeter. Während einem Drittel der Fahrt kann die weite Sicht über den See einerseits nach Zürich hin und andererseits über die Inseln und den Damm von Rapperswil hinweg Richtung Obersee bewundert werden. Die von der Jahreszeit und dem Wetter beeinflusste Sicht ist immer wieder anders. Immer wieder ein Erlebnis, auch wegen der Hügel und der dahinter liegenden Berge, die den See umgeben.
 
Vor Jahren fuhr ich an einem verhangenen Morgen auch nach Einsiedeln.  Es war dunkel, ich war schläfrig, erwachte aber wie nach einem Paukenschlag, als wir in Schindellegi-Feusisberg eintrafen. Der Zug hatte gerade die Nebelgrenze überfahren, und die Sonne lachte über mein Erschrecken. Nie mehr habe ich einen so tief berührenden Sonnenaufgang erlebt. Noch immer hoffe ich auf eine Wiederholung.
*
Hinweis
(*) Der erwähnte kleine Bildband wurde 1974 von Pater Thaddäus Zingg, Einsiedeln, herausgegeben.
Die zweite, 1983 erschienene Auflage, ist bei Buchhandlung Benziger AG, Klosterplatz, CH 8840 Einsiedeln, immer noch erhältlich. Sie ist nicht mit einer ISBN-Nummer versehen.

Samstag, 8. Dezember 2007

Post: Die Mitarbeit in der Briefzustellung beflügelte mich

Heute fehlte der „Tages-Anzeiger“ in unserem Briefkasten. An seiner Stelle lag die „Neue Zürcher Zeitung“. Eine Verwechslung, die ich gut nachvollziehen kann. Abonnierte Zeitungen und neu auch abonnierte Wochenblätter ohne aufgedruckte Adresse zuzustellen, ist eine anspruchsvolle Arbeit.


Meine mehrjährigen Erfahrungen als „Postaushelferin“ (Zustellung der Briefpost am Samstag) spiegeln sich in diesem Verständnis.
 
Für einen Rückblick habe ich mein Tagebuch von 1983 hervorgeholt. Dort ist meine erste, noch von der Vorgängerin begleitete Tour beschrieben. Damals brauchten wir noch Schlüssel, um die Briefkästen innerhalb eines Hauseingangs zu bedienen. Neu waren aber die als Code verschlüsselten Namen auf dem Tableau der Hausglocken. Ein Druck auf das richtige Wort – und die Haustür öffnete sich. Heute müssen die Briefkästen aussen angebracht sein, was die Arbeit wesentlich vereinfacht.
 
Frau K., die mich einführte, beeindruckte mich. Sie verteilte die Briefe in einem erschreckenden Tempo. Da, dort, hier, unten, oben, rechts. Ein kurzer Blick auf eine Anschrift und schon hob sich der Arm in die richtige Richtung. Ihre Arbeit pulsierte und die Briefkästen schepperten in ihrem persönlichen Takt. Schon im 2. Haus übergab sie mir den entsprechenden Bund. Was Frau K. verinnerlicht hatte, fehlte mir aber noch. Zwar gründlich, aber noch zu langsam, versuchte ich, die Adressaten zu finden und die Bürde loszuwerden. Im 3. Haus übernahm sie dann selbst wieder das Zepter, und ich ging neben ihr her. Ihre vielfältigen Hinweise, worauf ich ganz speziell achten müsse, kamen locker daher. Konnte ich das alles behalten? Würde ich überhaupt den Weg mit seinen vielen Abzweigungen wieder erkennen? Ob ich dann noch daran denke, dass der Zugang zu den Briefkästen einmal sogar durch eine Metzgerei und an einem andern Ort durch ein Restaurant führe? Auf unserem gemeinsamen Weg grüsste Frau K. einige unserer Postkunden und stellte mich als Nachfolgerin vor. Mich machte sie auch auf schwierige Kunden aufmerksam. Die hagere Frau dort, höre das Gras wachsen und jener Mann telefoniere regelmässig dem Chef, weil er immer etwas auszusetzen habe.
 
Auf halber Tour war dann unser Handwagen leer, unsere Arbeit aber noch nicht beendet. Es wartete ein deponierter Postsack, dessen Inhalt wir umladen und auch noch verteilen mussten. Wichtig war, dass die einzelnen, nummerierten Pakete in richtiger Reihenfolge verstaut wurden. Nur so können die Pakete selber den weiteren Weg der Tour vorgeben.
 
Nach nur einmaliger Begleitung und doch in kurzer Zeit hatte ich die Aufgabe dann verinnerlicht, und meine Arme reagierten ebenso roboterhaft wie jene von Frau K., wenn ich eine Anschrift las. Und jedesmal, wenn ich den leeren Wagen in die Sihlpost zurückbrachte, freute ich mich, dass jetzt wieder viele wichtige Papiere an ihren Zielen angekommen waren.
 
Gastarbeiter warteten immer schon vor ihrer Haustür auf die Post aus der Heimat. Manchmal musste ich ihnen etwas Amtliches vorlesen, was sie nicht verstanden hatten und nach Möglichkeit erklären. Da leuchtete dann ein sonst verschlossenes Gesicht, wenn eine erwartete Mitteilung endlich angekommen war.
 
Und ich wurde beschenkt. Am Morgen brachte ich jeweils nicht nur die Post in die Metzgerei Gut. Ich gab auch meine Bestellung ab. Im Stoffsack befanden sich der Zettel mit meinen Wünschen und das Portemonnaie mit dem nötigen Geld. Wenn ich ihn auf dem Rückweg abholte, waren immer auch Zugaben darin. Oft hat die liebenswürdige Frau Gut eine Flasche warme Fleischbrühe hinein verpackt, in der ich dann zu Hause die zarten Leberknödel aufwärmen konnte. Die ganze Familie träumt noch von dieser echten Bouillon. Diese feine Metzgerei gibt es leider schon lange nicht mehr. Heute müssen wir in der Stadt an vielen Orten Fleisch in der Plastikfolie kaufen. Das widerstrebt mir immer noch. 
 
Manchmal spüre ich ein bisschen Heimweh nach diesen Zeiten. Auch darum, weil mein Wesen gut zu den Postboten passt. Es ist eine Gemeinschaft eigenständiger Menschen, die sich gerne bewegen, selbständig arbeiten und nicht darüber jammern, wenn es regnet oder schneit. Unvergesslich ist mir der Moment, wenn um 8 Uhr die Glocke im Sortierraum klingelte. Das war das Zeichen, dass wir ausschwärmen konnten. Auch wer seine Tour schon vorher bereitgestellt hatte, musste warten, bis die letzten, manchmal verspäteten Zeitungen eingetroffen waren. Dann stürmten alle zum Lift, zwängten sich mit ihren Ladungen hinein, und sobald sich die Tür unten öffnete, spurteten sie davon. Viel schneller als ich es konnte.
 
Unterwegs durften wir die Einladung eines Wirts zu einem Kaffee annehmen. So informierte mich der für meine Tour zuständige Chef. Die Post schätze ein gutes Einvernehmen mit ihren Kunden. Die Gefahr, zu lange sitzen zu bleiben, kam nicht auf. Meine Tour z. B. wurde mit 3 Stunden à Fr. 16.– entlöhnt. Vertrödelte ich die Zeit aus irgendwelchem Grund, blieb der Lohn doch der gleiche.
 
Anfänglich fühlte ich etwas Stress, hatte Angst, die heiligen Hallen der Sihlpost wären schon verschlossen, wenn ich endlich zurückkäme. Das passierte aber nie.
 
Als ich den Dienst kündigte, erinnerte mich der Chef an die PTT-Brosche, die uns als Aushilfspöstler auszeichnete. Ob ich das Depot von Fr. 5.–  zurückerhalten oder die Brosche behalten wolle. Er lachte, als ich mich für die Brosche entschied. Das habe er erwartet.
Jetzt habe ich bei den Akten meiner Aufzeichnungen auch noch den Ausweis für Postaushelfer gefunden. Primo beobachtete mich, hatte volles Verständnis für meine Rührung.
 
Da heisst es: „Der Inhaber dieses Ausweises ist berechtigt, sich zu postdienstlichen Verrichtungen in den Diensträumen des nachverzeichneten Amtes aufzuhalten.“ 
Mit Stempel der Briefausgabe und Telefon-Nummer.
 
In Zürich-Mülligen ist im November 2007 ein neues, gigantisches Sortierzentrum entstanden. Da habe ich keinen Zutritt mehr. Im ersten Quartal 2008 beginnt dann der Abbau der Sihlpost in Zürich. Wie immer sich jetzt die Verteilung abspielt, ihr letzter Dienstast ist nicht maschinell besetzt. Es sind Menschen, die uns die Post bringen. Weil niemand von uns perfekt ist, können sich Verwechslungen oder Verspätungen einstellen. Gerade auch in der strengen Weihnachtszeit. Für dieses Verständnis werbe ich, obwohl ich Perfektion grundsätzlich liebe und sie voraussetze.

Samstag, 24. November 2007

Der Christbaum auf dem Baukran, das Windrad im Garten

Heute steht das Windrad beinahe still. In den vergangenen Wochen aber arbeitete es schwer. Die Bise trieb es an und gönnte ihm keine Pausen. Unsere Augen waren meist zu langsam, um die einzelnen Fächer noch zu erkennen. Einmal landete es im Gras und musste zurechtgebogen werden. Dann folgte es wieder seiner Bestimmung. Primo hatte es aus einer gebrauchten Alu-Getränkedose zugeschnitten und es an der Teppichstange befestigt. Das leichte Material erwies sich als richtig. Es reagiert auf feinste Anstösse und folgt den verschiedensten Windrichtungen.
 
Und heute darf es einmal ruhen. Dafür ist jetzt mein eigenes, inneres Rad im Schwung. Wer es antreibt, weiss ich nicht genau. Ich stelle mir vor, dass es eine geistige Energie ist.
 
Vom Wind wissen wir, dass er ein Beweger ist, eine Energie, die wir nicht sehen können. Was wir wahrnehmen, sind seine Reaktionen: Die Blätter zittern, wenn er in die Bäume fährt. Die Wasseroberfläche kräuselt sich, wenn er gegen den Strom bläst. Als Velofahrende kenne ich ihn als Rücken- oder Gegenwind. Und ich fürchte ihn, wenn er zum masslosen Sturm wird, weil er auch als Zerstörer bekannt ist.
 
In Museen können wir Weltkarten aus jener Epoche finden, als die Erde noch als eine Scheibe aufgefasst wurde. Auf solchen Darstellungen sind an den 4 Ecken des Bildes jeweils die Winde als blasende, menschliche Köpfe dargestellt. Aber niemand hat den Wind je als Person gesehen. Das ist Bildsprache, Symbolsprache. Ich bin immer noch am Suchen, wie ich meine persönliche Lebensenergie als Bild verstehen könnte. Das Windrad allein genügt nicht. Es braucht noch ein Symbol für die Energie selbst.
 
So viel habe ich bis jetzt aber begriffen: Sie braucht Anstösse, um zur Bestform aufzulaufen. Gestern Abend bekam ich einen solchen „Schupf“ (Anstoss), als ich auf dem Baustellenkran in meinem Umfeld einen erleuchteten Christbaum entdeckte. Hoppla! Die Weihnachtszeit bricht an.
Und heute lief dann in dieser Hinsicht vieles wie am Schnürchen: Letizia hatte sofort Zeit, die typografische Textgestaltung unserer Weihnachts- und Neujahrskarte zu besprechen und mir einen Entwurf zu liefern. Dann holte ich in der Papeterie die passenden Briefumschläge und fand in den Auslagen gleich noch die Agenden für 2008. Danach zog mein Velo eine grössere Kurve in die Innenstadt, damit ich die festlichen Briefmarken einkaufen konnte. Die „Philateliestelle“ innerhalb der Fraumünsterpost in Zürich ist dafür die richtige Adresse.
 
Beschwingt bin ich zurückgekommen. Beschwingt gehe ich an weitere Vorarbeiten für den Versand heran. Ich liebe diese Zeit, in der Kontakte wieder gefestigt werden. Es macht mir Spass, Briefe zu schreiben und Glückwünsche zu versenden. Beschwingt bin ich jetzt auch, weil ich endlich eine Form gefunden habe, in der ich die Beobachtungen rund ums Windrad in einen Beitrag fürs Blogatelier einbinden kann. Und jetzt weiss ich auch gleich noch, wie die mich gerade bewegende Energie heisst: Begeisterung.
 
Aber: Begeisterung kann auch gefährlich werden. Darüber gibt jeweils der Blutdruckmesser Auskunft.

Freitag, 9. November 2007

Thema Heizen: Eine Störung weckt Erlebnisse von früher

Letzte Woche erschreckte mich ein mäandrierendes Bächlein im Keller. Es trat wie eine Quelle aus dem Geviert, in dem die Heizung untergebracht ist. Nachdem nun die verkalkten Schutzanoden im Wassertank durch neue ersetzt worden sind, kann ich sie wieder vergessen. Sie ist ja autonom und wird unser Zuhause weiterhin zur rechten Zeit und im rechten Ausmass wärmen.
Ganz anders früher. Da wurde unser Kachelofen mit Holz und Kohle gefüttert, und das war hauptsächlich meine Aufgabe. Ganz im traditionellen Mutter-Verständnis von damals. War ich ohne grosse Unterbrüche zu Hause, war es hier gemütlich und warm. Wir liebten unseren Ofen, der von der Küche her geheizt wurde. Im Spätherbst, wenn die Saison begann, jubelten die Kinder, wenn sie Feuer entfachen und dem Knistern der Tannenholzspäne zuhören konnten. Und alle liebten wir die auf dem Ofen lagernden, mit Kirschensteinen gefüllten Stoffsäcke. Froren wir beim Heimkommen aus der Stadt, legten wir sie auf den Boden, standen darauf und lehnten an den Ofen. Und sogleich kehrte unsere eigene Wärme zurück. Wir nahmen sie auch ins Bett mit. Sie waren immer richtig warm, ganz anders als die Bettflaschen, die mit warmem oder heissem Wasser gefüllt werden müssen.
 
Im Ofen konnte auch gekocht werden. Die beiden Fächer wurden rege benützt. Von der Küche her, hinter einer Klappe, brodelten Eintöpfe und briet Rösti. Im Stubenfach liessen wir Wasser verdunsten. Da konnten die Kinder auch beobachten, wie sich am emaillierten Gefäss Kalk ablagerte und Gesteinswände entstanden. Das aus Messing hergestellte Ofentürli in der Stube wurde jeweils von Felicitas hingebungsvoll poliert und sah dann wie ein Schmuckstück aus.
 
Es faszinierte uns auch das Simmern im Ofen, das vom verdunstenden Wasser ausging. Obwohl sehr leise, tönte es doch so, wie wenn Geschichten erzählt würden. Lauschten wir ihnen, fühlten wir, dass hier unser unverwechselbares Zuhause sei. Das ist denn auch der grösste Verlust, den uns die moderne Gasheizung, mit der wir übrigens sehr zufrieden sind, abverlangte. Das Simmern ist verstummt.
 
Auch in unserer ersten gemeinsamen Wohnung in Zürich-Höngg mussten wir selber heizen. Primo sagte oft, Holz gäbe doppelt warm. Erstmals, wenn wir es in den dritten Stock hinauftrügen und dann, wenn es verbrannt werde.
 
Wir heirateten in jenem Oktober, dem dann der sehr kalte Winter mit der „Seegfrörni“ folgte. (1963 gefror der Zürichsee zum letzten Mal.) Unsere schlecht isolierte Wohnung war kaum zu erwärmen. In der Dachlukarne, die mir als Kühlschrank diente, gefror die Milch zu einem Block. Meinem Schwager, der in einem hinteren, nicht beheizbaren Zimmer wohnte, schob ich jeweils am Morgen nach dem Betten eine heisse Bettflasche unter die Decke, um ihm eine minimale Wärme bereit zu halten. Es bildete sich dann Kondenswasser, und die Matratze schimmelte. So waren die Verhältnisse früher.
 
Und zum Heizen gehörte die Kaminreinigung mit dem unheimlichen Russ, der sich in unserer Stube überall absetzte. Mit Leintüchern deckte ich Schränke und die offene Bücherwand jeweils vorsorglich ab, wenn ich den Kaminfeger erwartete. Wir lebten wirklich elementar.
 
Wenn die Holzlieferung angesagt war, hatte ich immer ein schlechtes Gefühl, dass sich die wackeren Männer für uns abmühen müssen, obwohl es ihr Beruf war. Ein Trinkgeld allein konnte doch ihre Rücken nicht stärken. Einmal ergab es sich wieder, dass eine extreme Kälte wochenlang anhielt und das Holz und die Kohle überall knapp wurden. Es war vor Weihnachten und alle Kundschaft drängte auf Lieferung. Wir wurden als letzte noch bedient. 4 Männer trugen am 23. Dezember die schweren Lasten in unseren Keller. Es war 8 Uhr abends. Man sah ihnen an, wie erschöpft sie waren. Da luden wir sie ganz unkompliziert zu Kaffee, Fleisch, Käse und Brot an unseren Tisch ein. Sie langten gerne zu, konnten aufatmen, denn sie hatten ihr Soll mehr als erfüllt. Wir kamen ins Gespräch. Ich erinnere mich gut, weil dieses Zusammensein für mich zu den schönsten Weihnachtserlebnissen gehört.

Freitag, 2. November 2007

Trost für alle jene, die an übertriebenem Ehrgeiz kranken

Kurz vor ihrem Tod habe ich Doris nochmals getroffen. Wir kennen uns aus der Schulzeit hier in Zürich im Kreis 5. Da sagte sie zu mir: „In mir ist einfach alles zu gross angelegt, mein Mitgefühl, meine Hilfsbereitschaft, mein Gerechtigkeitssinn, mein Engagement, alles.“
 
Sie war eine leidenschaftliche Natur. Gerne wäre sie Anwältin geworden, doch konnten ihr die Eltern das Studium nicht finanzieren. Aber als sie nach einer Lehre eine Anstellung fand, sparte sie konsequent für die Ausbildung zur Krankenschwester und übte diesen Beruf dann viele Jahre aus. Immer mehr sah sie das Leid an den Rändern der Gesellschaft und engagierte sich für Drogenabhängige und Sans-Papiers und begleitete manche Menschen beim Sterben. Sie brachte vielen Hilfe, aber ebenso viele stöhnten, wenn sie ihre kompromisslosen Ideen 1:1 umsetzen wollte. Sie beutete sich aus und verlangte das unbewusst auch von uns andern.
 
Nun ist sie gestorben. Am Grab wurden ihre aus Krankheit und Leid erwachsenen Einsichten vorgelesen. Ob es ihre eigenen Worte oder jene einer Dichterin oder eines Dichters sind, weiss ich nicht.
 
Ich muss
nicht alles richtig machen,
nicht alles beweisen
und nicht alles begründen können.
 
Ich muss
nicht alles verstehen,
nicht alles logisch darlegen
und nicht alles erklären können.
 
Ich muss
nicht über allem stehen,
nicht immer weiter wissen
und nicht immer vernünftig sein.
 
Ich darf
meine Gefühle zulassen,
überschwänglich und traurig sein,
lachen und weinen.
 
Welch ein Glück!
 
Die Trauerfamilie hat diesen Text auch noch als Danksagung verschickt. Da liegt er nun seit Tagen auf meinem Schreibtisch und bewegt mich. Seine Botschaft ist stark und kann gewiss einsichtig machen und erlösend wirken, wenn wir uns zu viel zugemutet haben.
 
Stimmig ist er auch, wenn das Wort „muss“ durch „kann“ ersetzt wird.

Donnerstag, 18. Oktober 2007

Abschied vom „Glückscht“, unserem gemütlichen Zuhause

„Abschiedlich leben“. Diesen Begriff hat mir Karl vermittelt, ein Verwandter aus der Elterngeneration. Er war Chronist, lebte im Sihltal. Nach seinem 70. Geburtstag begann er, seine umfangreiche Dia-Sammlung zu durchforsten und jenen Menschen oder Institutionen Bilder zu verschenken, die in einem Zusammenhang mit ihnen standen. Es konnte vorkommen, dass er plötzlich vor unserer Haustür stand und ganz selbstverständlich annahm, dass ich Zeit hätte für eine Dia-Schau. Ich musste ihm dann das cremefarbene Rouleau vor dem Küchenfenster herunterlassen, damit er mir Bilder zeigen konnte, bevor er sie weggab. Aufnahmen aus dem Zürcher Oberland, Stimmungsbilder der Jahreszeiten, historische Gebäude usw. Ja, er wusste genau, dass wir ähnlich schauten und von Gleichem fasziniert waren und dass mir seine Aufnahmen gefielen.
 
Als er starb, sagte der Pfarrer nach der Abdankung, es sei noch nicht bekannt, ob Karl seine Kamera ins Jenseits mitgenommen habe.
 
Wenn er seine Dias zum Verschenken bereit machte, erlebte er einen Teil seines Lebens rückwärts. Gab er sie dann weg, hatte er einen für ihn wichtigen Abschied vollzogen. Er fühlte, dass er leichter wurde. Und als der Tod kam, waren da keine Fesseln mehr, die ihn zurückhielten. Nachdem er sich vergewissert hatte, wie seine Arbeiten geschätzt wurden, konnte er alles loslassen.
 
Nun steht dieser Titel „Abschiedlich leben“ auch über meiner Familie. Der Besitzer unseres gemieteten Bernoulli-Reihenhauses fordert es für die eigene Familie zurück. Er gibt uns viel Zeit für die Suche einer neuen Behausung. Wir werden alle Jahreszeiten nochmals bewusst erleben dürfen.
 
Seit 1971 leben wir hier. Wir konnten dieses Reiheneinfamilienhaus mit seinem Garten mieten, weil der Besitzer der Meinung war, es gehöre einer Familie. Viele Jahre redeten wir nur vom „Glückscht“, nach der damals 7-jährigen Felicitas, die das Haus sofort als das „glückschtä“ (das glücklichste) erkannt hatte.
 
Nun habe ich gerade jenen Begleitbrief wieder gelesen, den der Hausmeister dem Vertrag damals beigelegt hatte. Es heisst da: „Die Mietverträge sind, wie Sie sehen, vom Zürcher Hauseigentümerverband ausgestellt und beinhalten verschiedene komplizierte Artikel, die automatisch übernommen werden müssen. Ich bin jedoch überzeugt, dass wir bei eventuellen Unstimmigkeiten bestimmt einig werden. Ich wünsche mir verträgliche und saubere Mieter, die ich in Ihnen bestimmt ausgewählt habe. Meine Mieter müssen sich jedoch auch wohl und zufrieden fühlen in ihrem neuen Heim.“
 
Das waren beste Voraussetzungen, die sich auch erfüllt haben. Ich erwähne diese Haltung für Aussenstehende, die vielleicht von Klischeevorstellungen beeinflusst sind und viele Zürcher Liegenschaftenbesitzer generell als harte Verhandlungspartner und nur auf den eigenen Vorteil ausgerichtet einschätzen.
 
Nun trägt der Sohn unseres Hausmeisters die Haltung seiner Eltern weiter. Und wir nehmen Abschied. Karl gab seine Fotos damals aus den Händen. Und ich fotografiere jetzt erst recht. Vor allem aber nicht mit einer Kamera, sondern mit dem Herzen.






Sonntag, 14. Oktober 2007

Versatzstücke aus der gestrigen Frömmigkeit neu konzipiert

Primo wollte mir die Ausstellung von Margarethe Dubach zeigen. Sie befindet sich in nächster Nähe seiner Werkstatt in der Galerie Esther Hufschmid an der Rotwandstrasse 52, CH-8004 Zürich.
 
Unter dem Titel „Gottesnarren, Nothelfer und verjagter Tod“ stellt die berühmte Künstlerin Objekte aus, die mich sofort in alte, kirchliche Dimensionen zurückführten. Aus abgegriffenen Materialien wie Büchern (Gebetbüchern?), vergilbten Papieren, handgeschriebenen Texten, Knochenteilen, Heiligenfiguren oder Teilen von ihnen gestaltete sie eine neue Art von Ikonen, Altärchen oder Wandbildern. Mit zweckentfremdetem Material gab sie ihren Werken ein Gesicht, eine Stütze oder einen neuen Rahmen.
 
Ihre Arbeiten zeigen uns, wie sich Wandlung vollzieht. Die alten Formen mit ihren strengen Weisungen sind heute nur noch als Fragmente erkennbar. Nicht nur die Materialien sind abgewetzt, auch die religiöse Kultur hat von ihrer Substanz verloren.
 
In dieser Ausstellung dominieren Tod und Wandlung. Die Objekte erzählen uns noch, was früher war und wir, die wir in der Geborgenheit einer lebendigen Volksfrömmigkeit aufgewachsen sind, können in Dubachs Werken etwas von den damaligen Werten erkennen. Für mich sind es Sammlungen, die etwas retten wollen. Die neu entstandenen Ikonen sind meiner Empfindung nach nicht dafür gemacht, mit uns zu leben und uns zu unterstützen, denn in allen Arbeiten lauert der Tod.
 
Viele der ausgestellten Figuren tragen Totenköpfe, vor allem jene auf der langen Wandkonsole: skurril, witzig, kritisch und mit Verweis auf das, was überaltert, aber vielleicht auch voreilig fortgeworfen worden ist. Es könnte auch sein, dass sie über über uns lachen. Für mich sind es Tote, die nicht tot sind.
 
Im Gespräch mit der Galeristin schimmerte etwas davon auf. Sie fühle sich gut in deren Gesellschaft und werde am Arbeitsplatz von ihnen beflügelt. Was in der Nacht geschehe und welche Feste dann gefeiert würden, das könne sie nicht wissen. Am Morgen jeweils seien jedenfalls immer wieder alle auf ihren Plätzen, sagte sie verschmitzt.
 
An jenem Tag, nur wenige Stunden später, befanden wir uns an einem Ort, wo Glaube und religiöser Ausdruck noch lebendig sind. Da stehen, hängen oder sitzen die gepflegten Heiligenfiguren auf ihren Plätzen und ihre Strahlenkränze leuchten noch. Wir waren ins Kapuzinerkloster gekommen, um ein Feierabendkonzert „Leichte Klassik“ zu geniessen. Ein Zufall, dass sich der Ausstellungsbesuch an der Rotwandstrasse und der Konzertbesuch in Rapperswil beinahe nahtlos aneinander reihten und die Gegensätze verbanden. In diesem Konzert hob eine junge Mutter ihr vielleicht 9 Monate altes Kind von Zeit zu Zeit in die Höhe, auf dass es von den feinen Tönen durchdrungen wurde. Viele freuten sich daran.
 
Zwischen den Besuchen der beiden gegensätzlichen Welten beobachteten wir den Sonnenuntergang am See. Bevor die rote Glut unterging, erfüllte sie den Raum des gesamten Seebeckens mit rosafarbenem Licht und sandte ihre Lichtstrassen zu uns hin. Für jede Person ihre eigene und von allen nur diese einem selbst zustehende wahrnehmbar.
 
Gut möglich, dass solche Erlebnisse in fernen Jahren auch als Versatzstücke religiösen Empfindens gehandelt werden.

Donnerstag, 4. Oktober 2007

Flüelen UR: Begegnung mit kräftigenden Riesenkristallen

Als Einstieg ins obige Thema empfehle ich unserer Leserschaft Walter Hess‘ Blog vom 29.5.2007. Er beschrieb seine Begegnung mit den Kristallen schon damals im Abschnitt „Die Riesenkristalle aus dem Planggenstock“. Mein Aufsatz soll eher dem gefühlsmässigen Erleben eines solchen Ausstellungsbesuches gelten und den seinen ergänzen.
Als die beiden erfolgreichen Strahler Franz von Arx und Paul von Känel mit ihren sensationellen Kristallfunden aus dem Planggenstock oberhalb der Göscheneralp an die Öffentlichkeit traten, war das auch in den Tageszeitungen von Zürich zu lesen. Primo machte mich damals aufmerksam. Wir staunten, was da in jahrelanger Suche und mühevoller Arbeit aus dem Berginnern ans Licht geholt worden war, ohne zu ahnen, dass wir diese Schätze einmal sehen würden.
 
Auf einer Eisenbahnfahrt nach Erstfeld erhaschten wir dann zufällig die entsprechende Reklame auf einer Plane, die auf die Ausstellung hinwies. Sie war ebenfalls riesengross und an der Alten Kirche in Flüelen aufgehängt. Vorbei! Wir sassen im Zug und dieser hielt hier nicht an. Weggewischt auch sofort die Gedanken daran. Wir hatten ja schon ein Ziel für diesen Tag.
 
In Erstfeld dann zog Primo, beinahe wie von Geisterhand geführt, ein Papier aus dem Prospektständer, als wir den SBB-Schalterbereich durchquerten. „Das interessiert dich!“ sagte er dazu, ohne den Text gelesen zu haben. Mittlerweile kenne ich solche Impulse, die seinem Bauch entspringen und immer richtig sind. Das Papier „Eine Weltsensation – Riesenkristalle aus der Göscheneralp“ gab uns dann auch alle Hinweise zur Ausstellung in Flüelen. Sie war auch an diesem Tag geöffnet und präsentiert die Schätze noch bis zum 28. Oktober 2007 täglich von 10 bis 18 Uhr.
 
Einen Rundgang durch Erstfeld liessen wir aber nicht aus. Später fuhren wir im Postauto nach Flüelen. Und schon standen wir vor der Alten Kirche, ohne sie gesucht zu haben.
 
Der Kirchenraum nimmt sich zugunsten der Ausstellung von Mutter Erdes Schätzen ganz zurück. Er stellt nur seine schützenden Mauern zur Verfügung. Die Inneneinrichtung ist neu und auf die Ausstellung bezogen. Das Licht gedämpft, schützt die Exponate und verweist uns auf die Dunkelheit in der Erde.
 
Die Augen müssen sich zuerst an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnen. Das ist gut so. Auf diese Weise fördern die Ausstellungsmachenden unser ruhiges und rücksichtsvolles Ankommen.
 
Ich habe schon viele Ausstellungen gesehen, aber noch nie eine ohne erläuternde Namen, Titel, Texte oder Nummern. In Flüelen wird einzig darauf hingewiesen, dass die Kristalle in Millionen von Jahren in der Stille gewachsen seien. Wir sollen ihnen diese weiterhin gönnen.
 
Gerade wegen fehlender Worte oder Zahlen fanden wir leichten Zugang zu diesen uralten Wesen. Wer nicht lesen muss, kann schauen und sich dem Gegenüber öffnen. Da findet dann ein Austausch auf der Gefühlsebene statt. Es ist mir aufgefallen, dass alle Anwesenden sehr lange ruhig und ehrfürchtig und in sich versunken vor den einzelnen Naturschönheiten stehen geblieben sind. Wir alle erlebten und schauten mehr, als wir jetzt in Worten ausdrücken können.
 
Jede Kristallgruppe, jeder einzelne Kristallzapfen, schien sich am Licht zu freuen. Sie strahlten und gaben sich auch den prismatischen Lichtbrechungen hin. Wunderschön die Regenbogenfarben je nach Kristallqualität.
 
Elektrisches Licht unterstützte die Ausstrahlung. Da von unten her und ins Innere der Gruppe zündend, dort auf die Oberflächen und Kanten verweisend.  Plötzlich verstand ich, warum Mineralien- und Kristallsucher Strahler genannt werden.
 
Der Film, der Szenen auf der mühseligen Schatzsuche zeigt, rundete dann unseren Besuch bei den Riesenkristallen ab. Als wir ins Freie traten, rieben wir uns die Augen. Und wir schickten den Männern einen Dank. Ihre Aufwendungen körperlicher, materieller und zeitlicher Art müssen unermesslich sein. Im Laufe des Tages kamen wir immer wieder auf das Geschaute zu sprechen. Uns berührte besonders auch die Behutsamkeit der Männer, wie sie die Kristalle ins Freie brachten und dafür sorgten, dass sie vom Sonnenlicht nicht erschreckt wurden.
 
Im Halbschlaf dann, wieder zu Hause, erschienen mir die Kristalle nochmals vor den inneren Augen. Dort wirbelten sie umher und hüllten mich in ein lachsfarbenes, von Gold durchtränktes Licht, bevor sie, auch müde geworden, in meinem Erinnerungsschatz versanken.
 
Das ist sicher: Der Aufenthalt in der Umgebung von Jahrmillionen alten Kristallen bewegt. Üblicherweise werde ich wegen meines geschwächten Rückens an Ausstellungen rasch unruhig und schnell müde. Hier war das anders. An diesem Ort wurde ich gestärkt.
 
Entstammen solcher Ausstrahlung vielleicht jene Kräfte, die Menschen früherer Kulturen erkennen und nutzen konnten und die ihre Kultplätze danach ausrichteten? Und Strahler, sind es Menschen mit einem ausgeprägten Instinkt und im Banne dieser Kräfte? Die Antwort wissen nur sie selbst.
 
Zur Ausstellung ist die sehr ansprechende Schrift „Riesenkristalle“ erschienen. (CHF 5.–), in der auch Informationen zum Strahlerwesen zu finden sind (Gamma Druck + Verlag AG, CH-6460 Altdorf).
 
Im Vorwort wird Dr. Beda Hofmann, Konservator am Naturhistorischen Museum in Bern, zitiert. Er bezeichnet den Fund als weltweit einmalig.

Montag, 24. September 2007

Eine Bratwurst regt zum Nachdenken über das Leben an

Kurz vor der Abfahrt setzte sich eine Frau zu mir ins Abteil. Wir reisten in der S-Bahn dem linken Zürichseeufer entlang. Genussvoll ass sie eine Bratwurst und schmunzelte. Sie habe Hunger gehabt, sei zufällig am Wurststand vorbeigekommen. Den würzigen Düften konnte sie nicht widerstehen. Wie wenn sie sich entschuldigen wollte, sagte sie noch: „So etwas macht man ja eigentlich nicht. Essen im Gehen, Essen in der Eisenbahn, das war für uns doch tabu.“ Diese Aussage verrät unser Grossmutter-Alter. Sie hatte mich ganz selbstverständlich auch in diese Erfahrungen einbezogen.
 
Sie sinnierte weiter: Alles sei heute einfach anders. Aber sie bewertete die Umwälzungen nicht. Das hat mir gefallen. Ich empfinde das Leben auch als eine fortwährende Entwicklung. Manchmal denke ich, zum Leben gehöre ein uns alle umfassendes Kaleidoskop, das sich in gewissen Zeitabständen bewege und uns neue Muster hinhalte. Darum finde jede Generation ihre eigenen, neuen Themen und Lebensmodelle, mit denen sie dem Paradies näherzukommen versucht. Zugegeben, Veränderungen sind auch Verunsicherungen und können mühsam und schmerzhaft sein.
 
Einmal alt geworden, können wir der irrigen Ansicht verfallen, jetzt seien dann alle Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten, erschöpft.
 
Aber nur darum, weil wir viele Modelle aufblühen und verwelken sahen, wird die Welt sicher nicht sofort untergehen.

Samstag, 15. September 2007

Opfikerpark ZH: Wenn die Prärie zum urbanen Raum wird

Die Willkomm-Tafel beim Eintritt in den Park erleichterte mir die Orientierung. Sie wies darauf hin, dass ich ausserhalb der Stadt Zürich stehe. Es stand da geschrieben: „Willkommen im Opfiker-Park. Baden im See erfolgt auf eigene Verantwortung. Stadt Opfikon.“ Ich hatte also eine Grenze, oder wie heute gesagt wird, eine Nahtstelle überschritten. Hier dehnt sich der Grossraum Zürich aus. In fernen Jahren, so vermute ich, wird Opfikon ein Stadtteil sein. An diesem Tag aber wusste ich nicht einmal, dass Opfikon selber schon eine Stadt geworden ist. Das verlandete Gebiet, das hier noch sichtbar ist, deutet aber darauf hin, dass hier einmal Landwirtschaft betrieben worden ist.
 
Ich bin erstmals hier. Einerseits wollte ich endlich die seit ein paar Monaten verlängerte Tram-Linie Nummer 11 bis zur neuen Endstation Auzelg kennen lernen. Im Vorbeifahren entdeckte ich die in Einerreihe angepflanzten Bäume, die auf eine Promenade hinwiesen. Also: Nach der Endstation-Schlaufe im Tram sitzen bleiben und zur Station Orionstrasse zurückfahren. Dann Eintauchen in die aus dem Nichts geborene urbane Parkanlage. Im Rücken das Leutschenbachquartier mit den Gebäuden des Schweizer Fernsehens.
Dieses Gebiet mit seinen gewaltigen Umwälzungen erinnerte mich augenblicklich an den Ort „Villeneuve Prairie“ an der RER-Metro-Linie D, die als Schnellbahn aus Paris hinausführt. Dort entdeckte ich vor Jahren den Namen „Neue Stadt in der Prärie“. An beiden Orten zeigte sich mir neben der soeben entstandenen Architektur auch das unbebaute und dahindämmernde Land.
 
Es war Sonntag gegen Mittag hin, als Primo und ich auf Opfiker-Boden eintrafen. Der Park noch am Schlafen. Parkwächter aber an der Arbeit. Sie sorgten für Ordnung und Sauberkeit, sammelten da ein Papier, dort eine Blechbüchse ein. Der Wunsch nach Perfektion ist hier gut spürbar. Nichts Störendes soll vom Gesamtkunstwerk dieses neu geschaffenen Erholungsgebietes ablenken. Die Parkwächter in ihren gelben T-Shirts wirkten wie das Tüpfchen auf dem i.
 
Die Parkgärten von heute sind einer strengen Architektur verpflichtet. In Reih’ und Glied oder zu rechteckigen Flächen gestaltet, stehen die Bäume da. Aber die Schattenwürfe sorgen dafür, dass die Strenge gelockert wird. Über das Wasser führen Stege. Auf so genannten Kanzeln wachsen Platanen heran, die in einigen Jahren ein Dach erstellen und den Ort zum lauschigen Schattenplatz gestalten werden.
 
Der künstlich angelegte See bezauberte mich sofort, weil er alles abbildet, was in seinem Umfeld steht oder wächst. Bäume, Schilf, Mauern, Stege, Gebäude, eine Starkstromleitung und auch den Himmel mit der blinzelnden Sonne und den Wolkenfrachten. Alle Formen erscheinen auf dem Wasser weicher, weil es sich leicht bewegt. Es kam mir vor, wie wenn der Blick aufs Wasser die Gefühle dieses gesamten Raumes auffangen könnte. Alles, was nüchtern, allein der Zahlenwelt entsprungen gebaut worden ist, zeigt sich auf der Wasseroberfläche mild und weich.
 
Auch die Sonne zeigte sich im See und konnte dort ohne Sonnenfilter fotografiert werden. Selbst die Rauch- oder Wasserdampfsäule vom nahe gelegenen Kehrichtheizkraftwerk und Recyclinghof Hagenholz liess sich auf dem Wasser abbilden. Erstaunlich, aus welchen Weiten dieser künstliche See Bilder aufnehmen kann.
 
Die auf der linken Seite neu erstellten Wohnungsbauten machten mir deutlich, warum wir solche Häuser mit dem Wort „Block“ bezeichnen. Rechteckige Kuben, ohne Schnickschnack.
 
Am Ende der geraden Parkstrasse wurde eine schräge Betonmauer an den Hügel gebaut. In meinen Augen eine Schutzwand, aus Primos Sicht ein architektonisches Element. Wir sahen Kinder, wie sie diesen Ort erkletterten. Jenseits des Hügels die überdachte Autobahn.
 
Im Bereich der Wohnbauten sind Durchsichten zu Geschäftsbauten in eine hintere Region auszumachen. Diese stehen direkt an der Bahnlinie von Zürich nach Flughafen Kloten.
 
Als unsere Begeisterung so richtig angeschwollen war, stiegen Flugzeuge auf, donnerten über uns hinweg und erschreckten uns. Aha. Der Flughafen ist ja in unmittelbarer Nähe. Wie gehen die Bewohner dieser schönen Anlage mit dieser Hypothek um?
 
Danach verstand ich, warum hier die Wege Namen von Flugpionieren tragen. Da heisst einer Hamilton-Promenade, ein anderer Lindbergh-Allee.
 
Der Rundgang führte uns auf einem geschwungenen Weg nach rechts an den Parkrand. Hier wachsen  Bäume, die ihren Platz möglicherweise vor Jahren noch selber wählen konnten. Sie schotten den Raum dahinter ab. Da und dort sind Feuerstellen angebracht.
 
Auf dem Rückweg zeigte sich die Silhouette noch gegen Oerlikon hin. Da sind zwei Kirchtürme, die sie mitgestalten. Von hier aus gesehen weit weg und in keiner Weise dominierend. Sie gehören einfach zum Horizont.
 
Und über allem ein weiter, offener Himmel, der sich auf die Erde senkt. Hier wird er zu allen Jahreszeiten und mit allen Wetterkapriolen spannend zu erleben sein. Vielleicht auch in klaren Nächten.
 
Die Fläche dieses Gebietes für Naherholung und Freizeitgestaltung ist übrigens rund 12,8 Hektaren gross.

Mittwoch, 5. September 2007

Mathon GR: Die letzten Farbtupfer auf meine Ferienberichte

Auf dem Heimweg,  von Lohn (Graubünden) herkommend, begann es zu regnen. In der Rinne am Strassenrand sammelte sich das Wasser. Es bildeten sich Luftblasen, die uns begleiteten. Es gab da ganze Blasen-Familien, die sich zusammenfanden, grosse und kleine Gruppen und auch Einzelgänger. Manche lösten sich schnell wieder auf, andere waren langlebig. Neben ihnen hergehend, wurde unser Heimweg zum Spiel.
 
So sehe ich heute die Ferientage an mir vorüberziehen und entschwinden. Letzte Gelegenheit also, wenn ich nochmals vom Erlebten erzählen will.
 
Thema Wasser: Das Bachdelta auf halbem Weg nach Wergenstein
Primo nannte den Zusammenfluss zweier Bäche so: Bachdelta. Ihre Namen kennen wir nicht. Es schien uns nur, dass sie sich auf ihrem allerersten Wegstück in die Welt hinaus befänden und sich noch mit vielen Bächen und Flüssen vereinigen werden.
 
In diesem archaischen Gerölldelta gefiel es uns ausnehmend gut. Wir schauten den Sturzfluten zu, wie sie über den Felsabbruch hinab donnerten und an den Gesteinsbrocken schliffen. Es zeigte sich manches Gesicht im Stein, als wir die Strukturen betrachteten. Viele Formen, viele Farben. Auch eine weinrote war dabei. Der eine Bach kam ruhig daher, locker über die mächtigen Gesteinsbrocken springend. Der andere zeigte sich wild. Nach ihrem Zusammenfluss verschwindet das Wasser wie in einem Trichter unter der Strasse und stürmt dann durch das bewaldete, tiefe Tobel dem Tal zu, wo es dann in den Hinterrhein einfliesst.
Thema Bewegungsfreiheit
Einmal, als Mena zeichnete, sagte sie ganz unvermittelt: „Die Wohnung in Paris interessiert mich nicht.“ Es war, als ob sie ihren Gedanken einen Riegel schieben wollte. Sie war jetzt in Mathon, und nichts sollte sie von hier ablenken. Als ich sie verwundert anschaute, sprach sie gar noch abschätzig über ihr Zuhause.
 
Das hat seinen Grund: In Paris muss sie einen Code eingeben, wenn sie die Haustür öffnen will. Und sie darf nie alleine das Haus verlassen. Ganz anders in Mathon. Hier war sie frei, sprang durch die Haustür hinaus und kam über 2 Ecken und den Sitzplatz wieder zurück. Der Ort ist von seiner Lage her geschützt. Die Grenzen, die ihr in Paris gesetzt sind, gab es hier nicht. Und auch in der modern eingerichteten Wohnung stand den Kindern ausreichend Raum zur Verfügung.
 
Post und Zeitung
Die Post von Mathon ist von Montag bis Freitag von 7.45 h bis 8.45 h offen. Und der aus Zürich umgeleitete „Tages-Anzeiger“ wurde uns schon um 9 Uhr vor die Haustür gelegt. Ein Service, der vielleicht nur in der Schweiz so perfekt funktioniert. Mena rannte dann hinaus und holte das Blatt für den Grossvater. Die papierene Zeitung war eine Entdeckung für sie. Ihre Eltern lesen ihre Zeitung nur im Internet. Jedesmal schauten wir zusammen die Wetterprognosen an. Die mit Sonne, Wolken, Regen und in entsprechenden Farben dargestellte Wetterentwicklung ist auch für ein 5-jähriges Kind verständlich und spannend. Vorlesen musste ich nur, was zu Paris geschrieben stand.
 
Das Postauto brachte auch die Lebensmittel aus dem Tal hinauf. Einmal pro Woche war eine grosse Anlieferung. Da konnten dem Bauch dieses Gefährts alle bestellten Waren, auch Gemüse und Früchte, entnommen werden. Es traf sich, dass ich diese Ankunft einmal miterlebte. Primo packte gleich zu und half beim Ausladen. In solchen Momenten fühlte ich mich den Menschen aus Mathon sehr nahe. Ich bewundere ihre innovative Art. Sie kennen den Wert ihrer Region und verstehen es, ihrer Jugend tragfähige Perspektiven zu vermitteln, ohne die Seele dieser einmaligen Region zu verkaufen. Ihr Internet-Auftritt  www.muntsulej.ch ist in diesem Sinne beeindruckend.
 
Restaurant muntsulej
Für die Enkelkinder gehörten die Pommes frites, Glacékugeln und der Wirt, der für uns Musik auflegte, zu den Höhepunkten der Ferien. Mena sprach es in dieser Reihenfolge aus und ihre 1-jährige Schwester wippte seither jedesmal, wenn sie das Wort „Musik“ hörte. Ganz nach dem Motto von Franz Schweighofer „Kein Gast zu gross, kein Gast zu klein, um herzlich willkommen zu sein.“
 
Auch die Wirtin vom Gasthaus Orta in Lohn sei noch erwähnt. Einfühlsam gelang es ihr, Mena die Angst vor dem grossen Hund wegzunehmen.
 
Schlussbild
Noch immer rätsle ich, ob das, was ich gesehen habe, Wirklichkeit war oder ob ich ein inneres Bild geschaut habe.
 
An einem der letzten Ferientage hörte ich auf der Höhe der Post das Gebimmel einer Kuhglocke näherkommen. Ich wartete. Aus dem toten Winkel an der Strasse gegen Wergenstein sah ich einen Sennenhund daherkommen, gleich hinter ihm eine grosse, drahtige Frau mit gebändigtem Kraushaar, einen Stecken in der Hand, neben ihr die Kuh, die den Umzug eingeläutet hatte. Hinter ihnen kam ein Pferd, auf ihm sitzend eine schöne, junge Frau. Und dahinter trotteten, gleichmässig ausgerichtet, 2 Wollschweine nebeneinander her.
 
Ich starrte auf diesen Umzug. Die vorangehende Frau schaute auch mich an, und ich sagte: „Isch das ä schööns Bild!“ (Ist das ein schönes Bild.) Und sie stimmte mir zu: „Gälled Sie!“ (Schweizer Redensart, die Zustimmung bedeutet).
 
War es eine Sennerin, und sah ich hier einen kleinen Alpabzug? Diese Episode ist ein wundersamer Abschluss meiner Mathon-Ferien. Ich bedauere nur, dass ich dieser Gruppe nicht länger nachgeschaut habe. Jetzt weiss ich nicht, wohin sie ging, und darum bin ich unsicher, wie ich sie einordnen muss. Vergessen werde ich sie sicher nicht.

Freitag, 31. August 2007

Lohn GR: Der Klanggarten in Mathons Nachbargemeinde

In Lohn, wo die Bise öfters zu Gast ist, darf sie seit 2 Jahren auch Künstlerin sein. Ich weiss nicht, ob sie allein für das Windharfenspiel zuständig ist, oder ob auch andere Winde ihren Anteil daran haben. Das alte Instrument, das nach dem griechischen Gott und König der Winde auch Äols-Harfe genannt wird, ist in Übereinstimmung mit dem Windzug hoch über dem Tal aufgestellt.

2 Halbschalen stehen in handbreiter Distanz mit dem Rücken zueinander. In diesem Zwischenraum sind etwa 6 ungefähr 2 Meter lange, vertikale Saiten aufgespannt, wie wir solche von Gitarren oder Geigen kennen. Der Wind bringt diese Saiten zum Klingen, wenn er sich durch die Öffnung zwängt. Dort wird er verdichtet und entlockt der Harfe ein Sirren und Summen, eine natürliche Musikalität. Auf einer Tafel wird darauf hingewiesen, dass ihre Kompositionen unendlich variabel seien und ich kann zusätzlich sagen, dass sie von ergreifender Schönheit sind.
 
Nicht weit von der Harfe entfernt, steht ein Glasflaschenturm, mit dem der Wind ebenfalls spielen kann. Wenn er in die Flaschen eindringt, bringt er Töne hervor, ähnlich wie sie der Panflöte entstammen. Und Primo wurde sogleich an Signaltafeln von Baustellen hier in Zürich erinnert. Dort tönt es genau so, wenn diese beschädigt sind und der Wind durch ein Loch pfeifen kann.
 
Beide Windklang-Instrumente sind Teil des Klanggartens „tùn resùn“, der auch in den angrenzenden Wald hineinführt. Dort hängt zwischen 2 Bäumen eine 2 Meter lange und etwa 60 cm breite Blechplatte, mit der Theater-Donner erzeugt werden kann. Hier spielten Kinder nach Herzenslust. Es fehlte nur noch der Blitz, um ein echtes Gewitter vorzutäuschen.
 
Ebenfalls im Wald fanden wir die Installation, die den Specht hörbar macht. Wir sahen Buben und Mädchen, die begeistert am Seilzug zogen und den klopfenden Specht imitierten. Hier war auf etwa 20 Metern Höhe ein Holzkasten angebracht. An diesen klopfte ein Holzklöppel, wenn die Kinder am Seil zogen.
 
Andernorts durften Glocken bewegt werden, die ein Herdengeläut nachahmten. An einer in der Erde versenkten Holzstange waren bewegliche Querstangen angebracht und an diesen Seitenarmen verschiedene Glocken aufgehängt. Die Kinder konnten an einem Knebel ziehen und die Glocken zum Läuten bringen. Da tönte es wie auf einer Alpweide.
 
Dort, wo Glocken dreistufig übereinander in Tonleiter-Anordnung zwischen 2 Bäumen aufgehängt waren, beobachteten wir eine Mutter, die ein Kinderlied anklingen liess.
 
Und ganz besonders berührten uns die hängenden Granit-Scheiben. Wenn sie leise angestossen wurden und sich gegenseitig anschlugen, tönte es, wie wenn Eis aufbricht.
 
Der Weg zu diesem Klanggarten mit seiner Urmusik ist gut markiert, Waldmännchen zeigen die Richtung an. Er beginnt hinter dem Gasthaus Orta, bei der Postautostation Lohn.
 
Etwas sehr Wichtiges wurde hier noch nicht angesprochen: Hier oben waren wir den Sternen nahe. In klaren Nächten funkelte und glitzerte es am Firmament. Der Himmel war offen, schüttete seine Juwelen über uns aus, ohne dass diese auf die Erde fallen mussten. Davon können wir in der Stadt nur träumen. Luftverschmutzung und künstliches Licht verwischen die Schönheit einer klaren Nacht.
 
Als Felicitas und ich einmal um Mitternacht draussen in den Himmel schauten, bemerkte sie gleich, dass das Firmament rund erscheint und einen Raum andeutet. Da war mir, als hätten wir jene uns schützende Hülle gesehen, in der die gesamte Menschheit aufgehoben ist.

Dienstag, 28. August 2007

Mathon GR: Heudüfte, Kräuterseife, Pilz und Schnecken

Die Bauern von Mathon GR nutzten die sonnigen Tage, um das Heu einzubringen. An allen Orten duftete es nach Kräutern und trockenem Gras, und wir sahen Männer und Frauen, wie sie es wendeten und sammelten. Im Gespräch mit dem Landwirt, Herr Willi Dolf*, äusserte Primo den Wunsch, eine Portion Heu mit nach Hause zu nehmen. Da brachte er uns von einer seiner höchst gelegenen Wiesen einen prall gefüllten Stoffsack voll. Bevor ich es demnächst in Kissenüberzüge einnähe, habe ich es ausgelegt, in den Händen gerieben und das Aroma eingesogen. So mache es der Bauer, erfuhren wir. Und ich stellte fest, dass dieses Heu dem Duft der in Mathon verwendeten Bergkräuterseife aus dem Bergell (auch ein Ort im Kanton Graubünden) exakt entspricht. Bekanntlich arbeitet die Kosmetik-Firma SOGLIO mit Naturprodukten. Trotzdem war ich elektrisiert, als mir meine Sinne diese Übereinstimmung meldeten.
Auf einer Wanderung ohne die Kinder und abseits von ausgetretenen Pfaden begegneten wir unverhofft einer geheimnisvollen Persönlichkeit, dem Fliegenpilz. Offensichtlich stand er gerade auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung. Sein Stamm schimmerte weiss, und die ebenfalls weiss gezackte Manschette wies ihn als vornehmes Wesen aus. Er nahm unsere Bewunderung huldvoll auf. Sein roter Hut war wie ein Regenschirm aufgespannt und beachtlich gross. Durchmesser: ungefähr 15 cm. Die weissen Flecken gefielen mir besonders, denn es sind keine Tupfer, wie es in Illustrationen immer wieder dargestellt wird, sondern Warzen, kleinen Papierfetzchen gleich, unterschiedlich gross, unterschiedlich weiss, wie hingeworfen, ganz nach dem Schönheitssinn der Natur. Dieser Pilz wuchs unter einer Tanne auf. Der braune, mit vielen Tannnadeln übersäte Grund brachte seine Farben zum Leuchten. Der rote Hut war übrigens mit einem orangefarbenen Rand geschmückt, dessen Oberfläche leicht gewellt an einen Kuchenrand erinnerte.
 
Als ihn Primo ein paar Tage später nochmals besuchen und fotografieren wollte, war er schon am Absterben. Schleimig und seiner fürstlichen Ausstrahlung beraubt, kurz vor der Auflösung.
Mena und der Grossvater sammelten Tannzapfen, vom Wind abgebrochene Äste, abgefallene Baumrinde und Bruchsteine, die sich ausgezeichnet für einen Puppenhausbau nach altem Vorbild eigneten. Aus dem hölzernen Material entstanden ein Stall mit Futterkrippe für die Kühe und ein Gehege für Ziegen. Mit den Steinen wurde ein Haus gebaut, ähnlich offen wie jenes von Tumasch Dolfs Elternhaus und vor ihm ein Gehege für verschiedene Tiere. Im VOLG-Laden werden den Kindern an der Kasse kleine, farbige Holzfiguren zum Spielen abgegeben. Für diese wünschte sich Mena einen Tierpark. Heidi und Peter, die Figuren aus Johanna Spyris Heidi-Geschichte, kamen auch aus dem VOLG-Laden zu uns. Und die Kühe gestaltete der Grossvater aus den gesammelten Tannzapfen. Diese Anlage entstand auf dem gedeckten Sitzplatz vor dem Ferienhaus. Über Nacht setzte dann Regen ein. Und am Morgen fanden wir zur grossen Überraschung 5 Gehäuse-Schnecken in den Stallungen. Es gefiel ihnen vor allem in der aus Baumrinde hergestellten Futterkrippe und wir hiessen sie gern willkommen. Sie gingen, je nach Witterung, hier ein und aus. Manchmal waren sie verschwunden, und Mena entdeckte sie in den Mauernischen. Dann wieder schlichen sie vor der Küchentür umher. Sie legte ihnen Fetzen kleiner Salatblätter aus und beobachtete sehr genau, wie diese die Fühler ausstreckten, die Nahrung fanden, daran frassen und wie das Grün langsam verschwand.
 
Wir erlebten immer wieder, ohne es zu erwarten, dass die Natur unsere Spiele, Spaziergänge und Beobachtungen um das erweiterte, was wir aus uns selbst nicht vermocht hätten.
*
*Frau Martina und Herr Willi Dolf vermieteten uns die Ferienwohnung in Mathon

Sonntag, 26. August 2007

Steinbock-Fest im „Center da Capricorns“, Wergenstein GR

In diesem 3. Bericht über Ferien in Mathon GR steht das „Center da Capricorns“ in der Nachbargemeinde Wergenstein im Mittelpunkt. Es ist dem Steinbock gewidmet und versteht sich als Innovations- und Informationszentrum für Natur, Kultur, Sprache und Forschung. Im Internet ist es unter www.capricorns.ch ausführlich dokumentiert.
 
Wergenstein liegt auf ähnlicher Höhe wie Mathon und ist von dort zu Fuss in zirka 40 Minuten oder mit dem Postauto erreichbar.
 
Am Wochenende 10. bis 12. August 2007 wurden hier verschiedene Anlässe durchgeführt. Neben den Capricorn-Gesprächen über „Das neue Bild der Schweiz – alpine Landschaftsentwicklung zwischen Brache und Metropole“ vom Freitag war am Samstag das Steinbock-Fest angesagt. In seinem Angebot war auch ein Animationsprogramm für Kinder. Da machten wir uns rechtzeitig auf den Weg. Auch der erwähnte Markt lockte uns.
 
7 Verkaufsstände präsentierten Spezialitäten aus dieser Region: Salsiz, Birnbrot, Honig, Käse, Postkarten, Kunsthandwerk, Holzspielzeug, Stein- und Textilprodukte, T-Shirts, Pasta und Kosmetikprodukte aus Soglio GR. Esther Grischott aus Pigna GR wird uns mit ihren Filzarbeiten in Erinnerung bleiben. Einerseits sitzen wir jetzt zu Hause auf Kissen, die sie gefilzt hat, andererseits hat sie uns mit ihren Vögeln aus Ästen und Filz begeistert. Sie nennt ihre Kreationen Grischart.
 
Verköstigen konnten wir uns mit Grillspezialitäten. Neben ausgesuchten Würsten und Fleischspezialitäten dieser Region entdeckte ich hier die Zigerschnitte, ein mit Kräutern aromatisierter Frischkäse, auf dem Grill geröstet. Ein Gedicht!
 
Musikalisch unterhielten uns 3 junge Frauen als Formation „al dente“ aus dem Domleschg. In sich versunken, spielten sie über ein paar Sunden hinweg unaufdringlich und liebenswürdig ihre Volksmusik. Sie schufen jene heitere und wohlige Stimmung, die ein Fest braucht, um zu gelingen. Zudem spielte auch die Sonne mit. Mena und ich sassen lange in ihrer Nähe und sogen die Klänge auf.
 
Auf einmal fuhr das Auto des „Zirkus Lollypop“ vor. Angekündigt war ein Animationsprogramm für Kinder mit  Einradfahren, Jonglieren, Akrobatik und anderen Spielen.
 
Es wurden Bodenmatten ausgerollt und Artisten-Requisiten ausgeladen. Alle am Fest anwesenden Kinder sprangen herbei und wurden sofort einbezogen. Mit sicherem Gespür, was dem einzelnen Kind entspreche, verteilte der Animator Bälle, Bänder, das Einrad, Hulahopp-Ringe usw. und seine Partnerin half jenen, die die rollenden Fässer besteigen wollten und begleitete sie. Buben fanden sich unter Anleitung auch zur Menschen-Pyramide zusammen. Alles vollzog sich ohne rivalisierendes Geschrei und von den Veranstaltern mit grosser Achtsamkeit. Höhepunkt war dann das Feuerschlucken.
 
Sogar die kleine, erst einjährige Nora durfte am Rand des Geschehens sitzen und mit den erhaltenen Jonglierbällen spielen.
 
2 Stunden waren schnell vorbei. Schon sammelten die beiden Artisten die Spielgeräte wieder ein und fuhren weiter. Bis dahin hatte sich unser Besuch in Wergenstein im Freien abgespielt. Anschliessend besuchten wir noch das Steinbock-Zentrum mit dem dazugehörigen Hotel Restaurant Piz Vizàn. Im Ausstellungsraum konnten wir Kristalle bewundern und manches über den Steinbock und andere Tiere erfahren. Und wir sahen die grossen, geflochtenen Tragkörbe in Tierform, wie sie für den Transport gebraucht werden. Mena versteckte sich darin und wünschte, dass man sie herumtrage. Dann entdeckte Letizia an Bändern befestigte Füsse vom Steinbock, von der Gemse und vom Hirsch. Schnell packte sie einen, zog den Ärmel ihrer Strickjacke über ihre Hand, und an deren Stelle schaute nun ein Steinbock-Fuss hervor. So stand sie vor uns hin und fragte verschmitzt: „Was stimmt hier nicht?“ Alle lachten, und manches Kind aus ihrem Umfeld wartete nur darauf, diesen Fuss auch im Ärmel verstecken und die Szene nachspielen zu können.
 
Für uns war dieser Ausflug ein Glücksfall, das Fest sympathisch und ganzheitlich. Die Ausstellung auch berührbar. Danke den Organisatoren und auch dem Postauto, dass es müde Kinder nach Mathon zurückgefahren hat.
 
Für den nächsten Tag war noch eine Steinbock-Exkursion auf 2340 ü. M. ausgeschrieben. Ein verlockendes Angebot, doch für uns leider eine Schuhnummer zu gross.

Donnerstag, 23. August 2007

Mathon GR: Türme, Glocken und Blumen im Chorgestühl

Von Mathon im Schweizer Kanton Graubünden ist bekannt, dass es einst als „Dorf der schönen Glocken“ bezeichnet wurde. Der ansehnliche Kirchturm steht noch da, doch haben wir nur noch eine Glocke sehen und hören können. Glocken sind für uns immer eine Attraktion, auch deshalb, weil Primo gelegentlich ein Glockenlied aus seiner Jugend anstimmt, in dem gefragt wird „Sind die Glocken all‘ da?“ Ein Kanon, vierstimmig, der den Kindern erklären kann, wie verschiedene Glocken zu einem Geläut zusammenfinden.
 
Mena hörte jeweils sofort, wenn in Mathon geläutet wurde. Sie rannte dann, wie von einer Tarantel gestochen, vors Haus. Ich musste nachkommen. Hier sahen wir die Bewegungen der Glocke, und wir ahmten mit unseren Armen den Klöppel nach, der die Glocke anschlägt. Am Mittag und am Abend spielten wir dieses 5 Minuten dauernde Spiel und achteten besonders auf das Ausklingen und die Klangwellen, die lange noch zu uns hinüber schwangen, auch als es schon zu läuten aufgehört hatte. Mehrmals zitierte Mena dann Grossvaters Erfahrung, wie er als kleiner Bub und Leichtgewicht den Glockenstrick in der Bergkirche von Hallau SH ziehen durfte und überraschend von der Glocke emporgezogen wurde. Zum Gaudi seiner grösseren und standfesteren Cousins. Und immer wieder fragte sie, wer hier in Mathon die Glocke schwinge. Vermutlich ein elektrischer Motor.
 
Ich weiss nicht, ob uns Nachbarn bei diesem Ritual beobachtet haben. Vielleicht erinnerten wir sie dann an die Schwarzwalduhr und an den Kuckuck, der zur festen Stunde aus seinem Verschlag hervorkommt.
 
Auch die architektonische Ausstrahlung der ungleichen Türme von Lohn und jene der alten Mathoner Kirche St. Antonius zogen uns an. Schon bei der Anfahrt, kurz nach Zillis im Schams, als das Postauto auf den vorgegebenen Serpentinen fuhr, machten sie auf sich aufmerksam. Selbstbewusst, aber auch einladend, schauten sie auf uns herunter.
Von unserem Ferienhaus in Mathon konnten wir die alten Wege, die der hügeligen Landschaft angepasst sind, überblicken. Heute dienen sie der Anfahrt moderner Landmaschinen, um die Felder zu bewirtschaften. Die Fahrbereiche für die Räder sind betoniert, das Innere des Wegs dem Gras überlassen. Eine feinfühlige Lösung, die der Landschaft einen künstlerlischen Anstrich gibt. Man könnte meinen, hier sei ein Landschaftskalligraph tätig gewesen. Die geschwungenen Linien aller Wege erinnern auch an Darbietungen an Turnfesten, wenn die Teilnehmenden Stoffbänder schwingen. Ich schaute immer wieder auf sie hinunter. Und sie lockten mich, zu ihnen zu kommen.
 
Die einjährige Nora hatte hier ihren Spass, wenn sie vom Grossvater im Kinderwagen so dem Abhang entlang chauffiert wurde, dass sie die Hände ausstrecken und die Grashalme auffangen konnte. Sie lachte auch, wenn diese ihre Backen kitzelten. Auf diesen Wegen blieben wir immer wieder stehen, betrachteten die Blumen, ihre Farben, ihre Formen. Besonders gegen den Abend hin, wenn die Sonne schon etwas von ihrer Stärke abgegeben hatte, leuchtete das Blau der kleinen Glockenblumen wundervoll. Hier fand ich wieder einmal meinen Liebling, das Zittergras, von dem der Dichter Karl Heinrich Waggerl schrieb: Warum am lichten Sommertag / das Zittergras wohl zittern mag? / Im Erdreich fühlts den Höllenwurm, / in Lüften Gottes Atemsturm. / Du Mensch, mit deinem Hirngewicht, du spürst das nicht.
 
Der Blick auf dem Rückweg gehörte dann jeweils nur noch dem alten Turm von St. Antonius, diesem standfesten, charaktervollen und sehr alten Bauwerk. Er steht da, als wolle er alle hinaufziehen, die des Weges kommen. Eigenartig schön ist dieser Turm auch wegen seines allseitig offenen Glockenfensters, das die Durchsicht zum Himmelsblau zulässt. Auf Mathons Homepage ist zu erfahren, dass die Kirche, zu der der eindrucksvolle Turm gehört, schon im Jahre 831 beschrieben worden sei. Heute ist sie nur noch eine geschützte Ruine, strahlt aber Würde aus.
 
Im VOLG-Laden erkundigte ich mich einmal an der Kasse, wann die Kirche geöffnet sei. Da war zufällig die Organistin, Frau Vögeli, auch am Einkaufen. Wir wurden einander bekannt gemacht, konnten ein Treffen vereinbaren. Während sie das Orgelspiel übte, durften Primo, Mena und ich die Kirche besuchen und ihrem Spiel zuhören.
 
Mena ist an allem interessiert, aber auch ein Sommervogel, der gerne herumhüpft. So bat ich die Mama, mir die Ente, Menas Kuscheltier, mitzugeben. Ich stelle immer wieder fest, dass sie sich für etwas Unbekanntes, in ihren Augen auch Geheimnisvolles, öffnen kann, wenn ihr die Ente Sicherheit gibt. Daran kann sie sich halten und sich ohne Scheu etwas Neuem ausliefern. Während dem Orgelspiel begann sie dann leise zu singen.
 
Wichtig war ihr auch der Sitzplatz. Das hölzerne Gestühl ist im Chor mit Blumen und Ranken geschmückt, und davon war sie angetan. Sie suchte sich die in ihren Augen schönste Blume, eine geöffnete Tulpe aus. Hier nahm sie Platz und ich musste mich neben sie setzen. Kaum war das Spiel aus, wollte sie sofort nach Hause, um mit dem Grossvater zusammen solche Blumen und Dekorationen zu malen.

Dienstag, 21. August 2007

Zeit zum Schauen: In Mathon GR, wo Tumasch Dolf lebte

Der Ort Mathon gehört zur Region Schamserberg in Graubünden und liegt auf 1527 Metern Höhe ü. M. Wir erreichten ihn mit der Bahn über Chur und Thusis und mit dem Postauto über Zillis. Ab Zillis werden 500 Höhenmeter innerhalb einer halben Stunde überwunden (bitte beachten Sie dazu auch die im Anhang verlinkten Blogs von Walter Hess). Mit uns reisten Felicitas, unsere ältere Tochter, und ihre beiden Kinder. Übers Wochenende besuchte uns Letizia und vervollständigte unsere Familie.
 
Mathon ist, was wir vermuteten, ein Geheimtipp, ein unverfälschter Ort in der Schweiz. 57 Einwohner und etliche Feriengäste beleben ihn. Er verzeichnet pro Jahr ungefähr 5000 Logiernächte. 8 Bauernbetriebe sorgen sich um die eindrückliche Landschaft und halten sie gesund. Hier gibt es sogar noch eine Post und einen VOLG-Lebensmittelladen.
 
Hier oben waren wir auf Du mit Bergen und Alpen, erlebten unzählige Modulationen von Nebel und Licht. Es machte Spass, den Nebelbänken zuzuschauen, wie sie sich vorwärts bewegten und den Bergmassiven entlang schlichen. Manchmal befanden wir uns selbst in der Wolke, was vor allem der 5-jährigen Mena gefiel. Meist aber beobachteten wir die Stimmung und die Alpen mit ihren vielen „Dahinter“ von unserem von der Natur geschaffenen Balkon aus. Hier oben wurde einem nicht bang. Der Raum zwischen den Bergen ist weit. Unten im Tal führt die Strasse zum San Bernardino. Kein Tag präsentierte sein Licht und seine Farben wie der vorangegangene. Wir hatten Zeit zum Schauen, fühlten uns wohl und beschenkt. Der zeitweilige Regen störte uns nicht. Auch er gehörte zum Geschehen.
In Mathon wuchs der rätoromanische Liederkomponist, Lehrer und Erzähler Tumasch Dolf auf. Sein aussergewöhnliches Elternhaus fiel mir schon am ersten Tag auf. In Mathon sind zudem mehrere prächtige Scheunen in der Blockbau-Art zu bewundern. Einige tragen Braun, ganz alte Grau. Ihr Silber strahlt aus und symbolisiert das Alter in Würde. Ich fragte mich immer wieder, wie die Bauleute diese prächtigen Baumstämme ohne technische Hilfsmittel aufeinander schichten konnten. Es müssen Bärenkräfte vorhanden gewesen sein.
 
Eine Gedenktafel am Geburtsthaus von Tumasch Dolf verweist in surselvischem Romanisch auf die Herkunft des Mathoner Künstlers. Es heisst da in deutscher Übersetzung, die ich seinem kleinen Erzählband „Meine Geige“ entnehme:
 
Elternhaus von
Tumasch Dolf
1889–1963
Komponist und romanischer Schriftsteller
Sammler von Volksliedern
 
Die schlichten Erzählungen seiner Kindheit öffneten mir sogleich den Zugang zu diesem Ort, seinem Wesen und den Blick rückwärts in eine Zeit, in der von allen viel körperliche Leistung und ein übergrosser Durchhaltewille gefordert wurden. Tumasch berichtet da beispielsweise von seinem ersten Gang nach Thusis. 7- oder 8-jährig muss er gewesen sein, als er den Vater dorthin begleiten durfte. Die Kuh Bregna wurde verkauft und sollte abgeliefert werden. Man stelle sich vor: Die beiden machten sich vor dem Morgengrauen auf den Weg, die Kuh an ihrer Seite, führten diese zum Käufer nach Thusis und kamen am selben Tag, in tiefer Nacht, auch wieder zu Fuss, zurück. Kein Wunder, dass der Bub total erschöpft war und auf dem letzten Wegstück mit seinen 500 Metern Steigung nicht mehr weitergehen wollte.
 
Eine andere Geschichte behandelt die Weihnachtsfeier in Plambi (heute nennt sich der Ort Lohn). Da sah der Erzähler erstmals einen Christbaum. Er war innerhalb einer Schar Schüler und Schülerinnen aus Mathon zur Feier in die Kirche gekommen. Sie trafen viel zu früh ein, klopften wegen der grossen Kälte bei einem alten Geschwisterpaar an, das sie aufnahm und ihnen von ihrem Wenigen, das sie besassen, austeilte. Eine Schnitte Brot, bestrichen mit Kastanienhonig. Tumasch sinniert beim Erzählen, dass die beiden Alten vielleicht nur dieses eine Brot und nur diesen Honig besassen und ihnen trotzdem grossmütig verteilten. Solche Haltung kenne ich auch von meinen Vorfahren und darum bin ich in innersten Schichten angesprochen. Wer solche wahre Geschichten mag, dem sei das folgende Taschenbuch empfohlen:
 
Tumasch Dolf:  „Meine Geige“, Erzählungen, Pano Verlag Zürich
 
In weiteren Beiträgen werde ich wieder von Mathon berichten.

Mittwoch, 1. August 2007

CH-Nationalfeiertag und die kämpferische Hymne von einst

Zu den Themen 1. August und Heimat fällt mir allerhand ein. Zuerst aus der Kindheit: Da waren die Abende unseres Nationalfeiertags etwas aussergewöhnlich Schönes. Damals war der 1. August noch ein normaler Arbeitstag, aber am Abend stieg man auf eine Anhöhe, hielt sich um ein grosses Feuer auf und schaute in die Ferne nach andern Feuern auf anderen Hügeln aus. Wir Kinder trugen ein Lampion und erhellten so den Weg durch den dunklen Wald. So schlicht zu feiern, blieb mir bis heute massgebend. Ich brauche keine Raketen. Sie sind mir zu laut, erschrecken die Tiere, verschmutzen die Luft. Sie stören mich und sie zerstören die stillen Gefühle der Heimat gegenüber. Denn an diesem Abend möchte ich besonders über mein Leben hier in der Schweiz sinnieren.
 
Ja, ich gebrauche das Wort Heimat immer noch, auch wenn es schon Politiker gegeben hat, die es gern abgeschafft hätten. Heimat ist ein Begriff wie tausend andere, der positiv oder negativ eingesetzt oder missbraucht werden kann, je nach persönlichen Erfahrungen und den Einflüssen von Eltern und Umwelt. Für mich ist der Begriff wohlwollend besetzt. Heimat ist der Ort, wo ich meine Wurzeln habe, wo ich auf die Welt gekommen bin, meine Augen erstmals geöffnet und meine ersten Entdeckungen gemacht habe. Heimat ist mir seit langem das Leben mit meinem Ehemann Primo. Zur Heimat gehört meine Sprache. Der Ort auch, wo ich verstanden werde. Und Heimat im grösseren Sinn ist das Land und das Volk, dem ich angehöre. Ich liebe die Landschaft und die Berge und die Eigenheiten und Sprachen in allen Kantonen der Schweiz. Ich schätze Werte, die mir hier vermittelt wurden. Je älter ich werde, desto öfter fühle ich aber Heimweh im eigenen Land. Viele Werte sind uns abhanden gekommen, ohne dass sich neue etablierten. Dass heute alles nur materiell bewertet wird, der Wirtschaft dienen muss und von ihr gesteuert ist, das gehört nicht mehr zu meinem Menschsein in der Schweiz. Ich distanziere mich auch vom Rassismus, der sich hier eingenistet hat. Ich spüre einfach, dass ich ein Auslaufmodell geworden bin.
Am diesjährigen 1. August werden die Enkelkinder den Abend beleben, und auf sie soll er zugeschnitten sein. Mena hat dem Grossvater bereits das Schweizer-Fahnentuch übergeben, dass er es an einem passenden Stecken befestige. Dieses Tuch hat sie von ihrer Tante zur Geburt erhalten. Und es hiess dazu, Mama solle sie darin einwickeln, damit sie eine rechte Schweizerin werde.
 
Mena ist in Kanada zur Welt gekommen, geht in Paris zur Schule, hat einen Schweizer Pass und einen Vater, der aus dem mittleren Osten stammt. Es wachsen da verschiedene Einflüsse in ihr, die alle am Heimatgefühl mitgestalten. Sie wird den Begriff einmal anders definieren als ich. Und das ist auch gut so.
 
Müsste ich Heimat fotografieren, wäre es ein altes Dampfschiff auf dem türkisfarbenen Urnersee, an dessen Heck die Schweizerfahne flattert. Mein Erstlingseindruck von der Schulreise 1951 aufs Rütli. Dieses Bild trage ich als kostbaren Schatz in mir.
 
Ich selbst habe erst begriffen, was Heimat ist, als ich in die Fremde ging. Da stürmte so viel Unbekanntes und Unverständliches auf mich ein und ich konnte mich nicht präzise ausdrücken. Vor allem gab es anfänglich keine Sprache, die mein Befinden oder meine Gefühle hätten beschreiben können. Das ging damals Vielen so. Wir hatten keine Reiseerfahrung, kannten andere Völker höchstens aus Büchern, vielleicht noch von Radio-Reportagen.
 
Wenn ich jetzt erzähle, dass mich meine Freundin Pia, auch eine Schweizerin, jeden Sonntag in meinem Zimmer an der Rue St-Placide in Paris besuchte und dass wir dann meistens die damals gebräuchliche Schweizer Vaterlandshymne sangen, um unser Heimweh noch ein bisschen zu steigern, dann werden viele, die das lesen, den Kopf schütteln. Ich jetzt auch. Nicht deswegen, weil wir ein wichtiges Lied, das unserem Herkunftsland gewidmet war, anstimmten, sondern über dessen Inhalt. Ich entnehme den Text dem Liederbuch „S Liedergärtli“ mit Untertitel „Was wir Mädchen singen“.
 
Ist es da verwunderlich, dass wir damals anders dachten und dass die Frauenrolle eine andere war? Wir sangen dieses Lied, ohne den Text wirklich zu verstehen. Es war für uns einfach etwas Vertrautes, das wir von feierlichen Momenten her kannten.
 
Meine Schlummermutter, eine vornehme Französin, fragte mich einmal, warum wir auch die englische Nationalhymne sängen, wir seien doch Schweizerinnen. Die Melodie war für beide Länder die gleiche. Der Text aber verschieden.
 
Vaterlandshymne
 
1. Rufst du, mein Vaterland, sieh‘ uns mit Herz und Hand all‘ dir geweiht. Heil dir, Helvetia, hast noch der Söhne ja, wie sie Sankt Jakob sah, freudvoll zum Streit!
 
2. Da, wo der Alpenkreis nicht dich zu schützen weiss, Wall dir von Gott, steh’n wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott.
 
3. Frei und auf ewig frei, ruf‘ unser Feldgeschrei, hall‘ unser Herz! Frei lebt, wer sterben kann, frei, wer die Heldenbahn, steigt als ein Held hinan, nie hinterwärts.
 
4. Doch wo der Friede lacht, nach der empörten Schlacht, drangvollem Spiel, o da viel schöner, traun, fern von der Waffen Graun’, Heimat, dein Glück zu baun’n, winkt uns das Ziel.
 
Dieses Lied verkörperte die wehrhafte Schweiz und lehnte sich sicher an die söldnerische Vergangenheit an. Die Frauen sind verborgen in der Heimat und im Glück, die die Männer fern von der Waffen Graun bauen wollen.