Mittwoch, 25. Juli 2012

Rhein und Thurauen und das Krokodil von der Tössegg


Wir hatten in Flaach das Naturzentrum Thurauen besucht und wanderten anschliessend zur Mündung der Thur, wo sie in den Rhein fliesst. Trotz unsicherer Wetterprognosen konnten wir den Ausflug geniessen. Zwischen vielen Wolkenfrachten grüsste immer auch der blaue Himmel.


Der Rhein beansprucht an diesem Ort einen weiten Raum, und auf den ersten Anblick war ich sogar unsicher, ob die Thur hier wirklich mit ihm zusammentreffe. Der Pegelstand war hoch und drängte den Zufluss eher zurück, als dass er die Strömung sichtbar werden liess. Nur auf dem Prospektblatt erkannten wir die Thur in grünlicher Farbe, den Rhein blau eingezeichnet. Die Thur speiste in diesen Tagen den grossen Bruder vielleicht aus dem Grund.


Dieses Auengebiet trägt den Namen Eggrank-Thurspitz. Eine alte Bezeichnung. Ihr Inhalt wirkt wie Sprudel auf mich, erklärt sich selbst. Egg = Ecke, Rank = Biegung, Kurve, Spitz = kleines Stück Land mit spitzer Kontur. Diese Bezeichnungen gestalten ein inneres Bild, das dem Anblick entspricht.

Dass dieser Ort nicht alle Geheimnisse preisgibt, macht ihn wertvoll. Er muss zu einem gewissen Grad unzugänglich bleiben, damit das Leben in ihm nicht gestört oder sogar zerstört wird. Auengebiete sind heilige Orte, an denen sich scheue Wesen gern niederlassen. Das Prospektblatt wirbt mit dem Eisvogel, der Haselmaus, der Ringelnatter, dem Perlgrasfalter und verschiedenen Blumen. Und es spricht von Fischen, Libellen und Vögeln.


Auf einem Steg konnten wir in urwaldähnliche Waldbestände schauen. Diese unbeeinflussten Gebiete regen an, über das Leben nachzudenken, über die Heilkräfte der Natur, wenn man sie machen lässt. Zuerst aber müssen ihr diese wertvollen Lebensräume zurückgegeben werden. Der Thur wurde einst ein denaturiertes Bett verpasst. Von ihm will man sich definitiv trennen. Die 1. Etappe des 1999 eigeleiteten Projekts Hochwasserschutz und Auenlandschaft Thurmündung konnte 2011 abgeschlossen werden. In diesem erfrischten Zustand nahm sie uns auf und zeigte manch verborgene Schönheit.


Zurück im Zentrum schauten wir uns nochmals um, betrachteten die Bücherauslage und die geschmackvollen Souvenirs. Ich entdeckte eine Postkarte, die den Eggrank exakt so zeigte, wie ich ihn an diesem Tag kennen lernte. Eine Bestätigung, ein schöner Schlusspunkt.


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Themenwechsel. Plötzlicher Platzregen. Es goss wie aus Kübeln. Es stürmte. Der Wind hätte gerne unsere Regenschirme zerfetzt. Da wurden wir auf eine Wanderwegtafel aufmerksam, die zur Schiffstation Rüdlingen lenkte. Wir folgten ihr, erreichten den Ort, staunten, wie schnell am Ende des Rheincouloirs bei der Tössegg ein Schiff aus dem dicken Nebel auftauchte. Es nahm uns auf und führte uns nach Eglisau.

Anfänglich prasselten die Regentropfen noch an die Fenster, dann war der Spuk vorbei. Ruhig vollzog sich unsere Reise.


Hinter mir schaute ein Mädchen im Kindergartenalter aus dem Fenster, kommentierte vieles, was es sah. Es entdeckte Haufen aus Ästen und Zweigen und wollte wissen, ob es ein Biberbau sei. Das könnte sein, antwortete die Mutter, denn hier ist der Biber im Vormarsch und wird unterstützt. Dieses Kind war sehr aufmerksam, an allem interessiert. Es kommentierte aus der eigener Sicht. Ein kleiner Erdrutsch hatte offenbar einen von Bibern zusammengetragenen Asthaufen in den Fluss gestossen und diesen dort verankert. Aber es ragte doch noch ein markanter Ast aus dem Wasser, und in diesem sah das Kind ein Krokodil. Gut nachvollziehbar für mich. Aber die Mutter konnte dieses Sehen nicht goutieren. Immer wieder hiess es nein, nein, es sei kein Krokodil. Hier wäre das Wasser zu kalt. Doch, doch, es sei ein Krokodil gewesen, die kämpferische Antwort. Unvorstellbar für mich, einen Kinderblick nicht zu akzeptieren, auch wenn er mit der strengen Realität gerade nicht exakt übereinstimmt. Das Kind muss dieses Tier aus Büchern oder Filmen kennen. Darum sah es im Ast das Auftauchen eines Krokodilgrindes aus dem bewegten Wasser.


Ich erinnere mich an Zeichnungen der eigenen Kinder, wie sie ein Tier oder seine Bewegungen intuitiv richtig zeichneten. Und dann sehe ich Frauen und Männer vor mir, die sich im wissenschaftlichen Zeichnen ausbilden lassen und eines Tages die Abstraktion entdecken. Und dann werden ihre dürftig erscheinenden Arbeiten als Kunst vorgestellt. Das hätte ich dieser Frau gerne gesagt. Wahrscheinlich erfolglos.

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Nochmals Themenwechsel. Am Morgen, als wir uns, von Rafz herkommend, im Bus der breiten Rheinbrücke näherten, sprang Primo vom Sitz, sprach gestikulierend, schilderte eine militärische Übung in einem Tempo, das dem fahrenden Bus entsprach. Es meldeten sich Erinnerungen an einen WK (Militärischer Wiederholungskurs) und diese wollte er mir genau am Ort, an dem sie ihren Ursprung hatten, vermitteln: „Ich erinnere mich gut. Hier starb ein Mann im Rhein. Er gehörte zu den Tauchern, musste eine befohlene Aufgabe erfüllen und verlor sein Leben. Es ist schon bald ein halbes Jahrhundert her.“

Als wir uns auf den Heimweg machten, wünschte ich, nochmals an diese zu Flaach gehörende Rheinbrücke zurückzukommen und dort etwas zu verweilen. Am Morgen „sah“ ich nämlich das Wasser von Wirbeln aufgewühlt. Das wollte ich nochmals sehen. Ich schreibe „sah“ in Gänsefüsschen, denn es muss sich um ein inneres Bild gehandelt haben. Als wir dorthin zurückkamen, floss der Rhein friedlich dahin. Wohl peitschten Regen und Wind auf seine Oberfläche, doch der Fluss blieb ruhig. Das zu sehen, überraschte mich. Entweder hat mich das tragische Ereignis, wie es Primo am Morgen schilderte, aufgewühlt, oder ein inneres Bild zeigte mir, dass der Taucher in einem Strudel umgekommen sei.

Die Frage ist unbeantwortet, wie so viele andere, die wir in unserem Leben noch nicht beantworten konnten. Auf jeden Fall sind wir beide der Meinung, dass Wissen immer mit äusserem Sehen und innerem Schauen verbunden sein muss. Die Wahrheit ist übergeordnet. Und dort hat auch das Krokodil aus Baumästen seinen Platz.

Freitag, 6. Juli 2012

Die herausragende Tanne – Nachbarin der Rautisiedlung

Die städtische Wohnkolonie Rautistrasse in Zürich war in den 1940er-Jahren ein Vorzeigemodell. Eine Wohnsiedlung nach skandinavischem Vorbild. Mit viel Holz, im Landistil erbaut. 7 zweistöckige Häuser beherbergten 44 Wohnungen auf einem leicht abfallenden Gelände. Ein Ort mit viel Grün, mit Natursteinplatten belegten Wegen, mit Büschen und Bäumen.

Verwachsen und doch nicht verwildert. Jedesmal, wenn ich dort vorbeigefahren bin, schaute ich nach ihm aus. Eine Art Idylle. Schon längere Zeit verlassen. Nun wird diese Siedlung abgebrochen. Sie ist verbraucht und entspricht nicht mehr den Ansprüchen und Raumnormen von heute. Neu werden hier 104 Wohnungen in 7 Neubauten entstehen.

Bevor die Bagger auffahren, haben wir noch Abschiedsfotos gemacht. Erst jetzt getrauten wir uns, näher in dieses Gelände hinein zu gehen. Wir entdeckten manch schöne Winkel und besonders auch die 3 Ateliers mit ihren von breiten Sprossen zusammengehaltenen Glasfronten. Ich sah sofort eine Verwandtschaft mit Bauten auf dem Monte Verità in Ascona, im Tessin.

Nach unserem Rundgang erinnerte ich mich, dass ich diesen Fussweg, auf dem wir gerade standen, schon einmal begangen habe. Kurz nach unserem Umzug nach Altstetten. Ich war da auf der Suche nach dem Standort der grossen Tanne, die ich von unserem Esszimmer aus sehe. Ein prächtiger Baum, gesund, stark und gross. Aus meinem Blickfeld ein ausstrahlender Mittelpunkt. Wie ein markanter Berg. Damals aber konnte ich seinen Standort nicht finden.

Es gibt in unserem Umfeld nicht nur eine mächtige Tanne. Und die Wege zu ihnen sind geheimnisvoll, gehören in private Bereiche. Und immer stehen entweder Häuser davor oder andere gross gewachsene Bäume, die die gesamte Sicht auf „unsere“ Tanne verunmöglichen. Die Suche entwickelte sich unglaublich spannend. Einmal standen wir ganz nahe bei ihr, ohne zu wissen, dass sie es sei, nach der wir fahndeten. Da kamen wir von der Abbruch-Siedlung her und waren nur durch einen Zaun von ihr getrennt. Wir sahen ihren Stamm, sahen die Wunden, die entstanden sind, als unterste Äste weggeschnitten wurden. Es war unmöglich, diesen Baum ganz zu erfassen. Der Abstand, der nötig gewesen wäre, ist hier nicht gegeben. Auch die dunkle Ausstrahlung, hier unten am Boden, wollte so gar nicht zum Bild passen, das wir von unserer Tanne entworfen hatten. Und doch war da auch eine Ahnung, diese da könnte die gesuchte sein.
Gingen wir andere Wege, zeigte sich immer wieder eine Tanne, aber nicht die unsere. Die Art ihrer Krone war beim Suchen hilfreich. Sie kannte ich. Auch Form und Haltung ihrer Äste konnten uns weiterhelfen. Von meinem Esszimmerfenster aus sehe ich sie, wie sie diese wie zu einem Sonnenritual erhebt. Aber nirgendwo konnten wir ihre gesamte Ausstrahlung so sehen, wie es aus unserer Wohnung möglich ist. Wohl zeigte sie sich da und dort ebenfalls dominant, aber nie so frei wie ich sie sehen kann.
Mit Primo zusammen betraten wir an diesem Abend auch Sackgassenwege. Allein hätte ich das nicht gemacht. Aber ohne die Sichten und Aussichten, die sich da ergaben, hätten wir die Mitte unseres Labyrinths nicht erreicht. Einmal wurde ein Fenster geöffnet und nach unserem Weg gefragt. Es war ein freundlicher Mann, mit Primo bekannt. Wir wussten nicht, dass er hier wohnt.
An diesem Abend kam ich an viele etwas versteckte Orte in meiner nächsten Umgebung. Und ich sah in manches Dahinter. Die Fronten, die ich mit meinem Blick aus den Fenstern unserer Wohnung sehe, wurden zu Gebäuden. Zu meinem Dorf. So empfinde ich die Umgebung am Abend, besonders nach dem Eindunkeln, wenn eine Strassenlaterne ihr mildes Licht ausstrahlt und uns den Weg weist. Mir wurde bewusst, dass diese Umgebung mein Daheim ausmacht, auch wenn ich die vielen Menschen, die hier wohnen, nicht kenne.
Am andern Morgen ging ich nochmals ins Geviert der Girhalden-, Meiental-, Stampfenbrunnen- und Rautistrasse. Wieder mit dem Fotoapparat, und mehr und mehr verdichtete sich die Gewissheit, wir hätten unsere Tanne gestern gesehen. Ich fotografierte sie an verschiedenen Orten und erzählte am Mittagstisch davon. Primo stellte Fragen, die ich nicht beantworten konnte, und darum ging ich am Nachmittag nochmals auf die Pirsch. Ohne Fotoapparat, also ohne Ablenkung, und da entdeckte ich dann den Zugang von der Stampfenbrunnenstrasse her. Er führte mich in ein stilles Gelände, vorbei an gepflegten Häusern und Gärten. Ich fragte mich, ob ich im Paradies angekommen sei. Und weit vorne, in voller Grösse, entdeckte ich den gesuchten Baum und das militärgrüne Haus, in dessen Garten er steht. Da stand ich, jetzt ohne trennenden Zaun. Sichtbar vom Erdreich bis zur Krone. Ich hatte die Labyrinthmitte erreicht, war am Ziel angekommen.
Auf eine Art trunken, kam ich wieder heim. Es hatte sich eine feinsinnige Stimmung ergeben, in der ich nun auch diesen Beitrag schrieb.
Jetzt hoffe ich, dass der Baum stehen bleiben darf. Glücklicherweise befindet er sich nicht im Gelände der Wohnkolonie, die abgebrochen wird. Für mich ist er ein Freund, mit dem ich in den Himmel schaue. Den Bewohnern des grünen Hauses aber nimmt er viel Licht weg. Ich könnte verstehen, dass er von ihnen nicht so geschätzt wird wie von mir.