Montag, 15. Dezember 2014

Ausschau gehalten nach einer Weihnachtsgeschichte

Eine Freundin fragte mich dieser Tage, ob ich schon eine Weihnachtsgeschichte geschrieben habe. Es wäre an der Zeit. Sind solche überhaupt noch gefragt?
Weihnachtsgeschichten, die für mich Weihnachtsgeschichten geblieben sind, verstehen wahrscheinlich nur noch Menschen, die über 60 Jahre alt sind. Armut und vom Schicksal erzwungene Bescheidenheit waren uns allen wohlbekannt. Aber Wunden in einer Stadt wie Paris, die lernte ich erst 1958 kennen. Dort, wo ich wohnte (6. Arrondissement), war ich Nachbarin eines Trümmerhaufens. Eine für Paris typisch grosse Wohnsiedlung lag am Boden. Es dauerte Jahre, bis alle Steine weggeräumt wurden.

In den Metro-Gängen begegnete ich vielen Kriegsinvaliden. Männern mit amputierten Beinen, Armen oder verlorenen Augen. Erschütternd. Zu dritt beschlossen wir, im Dezember 1958 Clochards unter einer bestimmten Seine-Brücke zu besuchen und ihnen Weihnachtsgebäck zu bringen. Meine beiden Freundinnen, ebenfalls aus der Schweiz stammend, waren Dienstboten in einer Arztfamilie. Maria hatte 8 Kinder zu betreuen, Pia war für die Küche zuständig. Die beiden: gute Seelen, die einander immer unterstützten und erst ruhten, wenn alle Arbeit getan war. Und mir half Pia noch, das anfängliche Heimweh zu überwinden.

Die Weihnachtsgebäcke für die Clochards kauften wir bei einem Bäcker. Wir hätten keine Zeit oder Möglichkeit gehabt, diese selber herzustellen.

Die rauen, wetterfesten Männer trafen wir unter einer Seine-Brücke an; sie sassen um ein Feuer. Wir sangen ihnen ein Weihnachtslied. Sie waren sehr überrascht. Sie hörten zu, nahmen die Gebäcke auch gerne an. Aber gleich danach schickten sie uns fort. Geht weg, damit Euch nichts passiert. Ihr seid zu schade für diesen Ort.

Viele unserer Geschichten, die wir als Jugendliche lasen, beschäftigten sich mit Armut und Auswegslosigkeit. Und wundersamer Hilfe, weil es Mitmenschen verstanden, nicht nur an sich selbst zu denken. Solche Geschichten halfen uns, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit zu entwickeln. So entstand auch der erwähnte Besuch bei den Clochards.

Heute helfen die entstandenen Hilfswerke, Not zu lindern. Die vielen Bettelbriefe, die seit Ende Oktober bei uns eingetroffen sind, sprechen davon. Mich stört nur, dass einige Organisationen ihren Aufrufen noch kleine Geschenke beigeben, damit wir uns verpflichtet fühlen, ihnen Geld zu senden. Nach meinem Verständnis wird so Geld verschwendet.

Im gleichen Zeitraum haben uns auch masslos viele Reklamen für Spielzeug, Luxusartikel und kulinarische Köstlichkeiten erreicht. Der Abtransport solcher Druckerzeugnisse wird für mich mehr und mehr zum Problem. Diese Lasten! Bald muss es eine Organisation von jungen Leuten geben, die für die alten das Papier an die Strasse schleppen. Nicht alle Leute wohnen am Trottoirrand. Nicht alle wohnen in einem Haus mit Lift.

Und die Spielzeuganbieter bewiesen, dass Weihnachten eben ein Geschäft ist. Sie lieferten Prospekte mit Bestell-Listen. Die Kinder brauchten nur den entsprechenden Kleber an die richtige Stelle zu setzen, damit Eltern und Grosseltern die gewünschten Dinge problemlos bestellen oder einkaufen können. Es mag sein, dass allen gedient ist. Die Kinder wissen genau was sie wollen. Da wird der Umtausch nach dem Fest abnehmen. Aber ist das Weihnachten?

Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich als Kind im Vorschulalter oder in der Primarschule Wünsche formuliert hätte. Auch bei uns gab es Geschenke, aber nicht auf Bestellung. Die Mutter nähte und strickte sowohl für die Puppe wie auch für einen selbst. Es gab immer ein Geschenk. Dieses war aber nicht angefordert. Damals wohnten wir noch auf dem Land. Die Verführung durch Reklame war minim. Es gab auch noch keine spezielle Mode für Kinder, die wir hätten beanspruchen wollen. Wir freuten uns auf den Christbaum, die Lichter, die Lieder und später auch noch auf die Feier in der Kirche, wenn das elektrische Licht gelöscht wurde und nur noch die Kerzen brannten und wir Stille Nacht, Heilige Nacht sangen. Das war Weihnachten.

Am 25. Dezember tischte Mutter meist ihren vorbereiteten Hackbraten mit den versteckten Eiern auf und zum Dessert gab es Schlagrahm mit zerbröselten Meringueschalen.

Und jetzt erzähle ich noch eine richtige Weihnachtsgeschichte
Genau gesagt ist es eine Nacherzählung:

Eingeladen von einem befreundeten Unternehmer, der seinen Angestellten zusätzlich zum Lohn immer auch Kulturerlebnisse vermitteln wollte, erlebte ich 1993 das Lateinamerikanische Weihnachtskonzert mit Los Ramos. (Oscar Ramos und Monica Pososanto).

Sie spielten lateinamerikanische Weihnachtsmusik in seiner Montagehalle und sangen Lieder. Ramos hatte die Harfe aus Südamerika mitgebracht und auf ihre Geschichte verwiesen. Sie sei nach Europa heimgekommen.*

Ich erlebte dieses Konzert als ein bewegendes, heiteres Fest. Die Musik: einen mittragend in Welten der Lebensfreude. Einleitend sagte Ramos ganz selbstverständlich, dieses Konzert gelte den beiden Menschen, die am meisten für die Menschheit getan hätten: Maria und Josef.

Und dann erzählte er die Geschichte von Grossmutters Jesus-Figur:

Im Haushalt der Familie lebte auch ein Affe. Grossmutter musste ihn einmal mit einem Stock züchtigen, weil er unartig war. Das hat er ihr nicht verziehen.

Eines Tages konnte er sich von seiner Kette losreissen und die Grossmutter angreifen. Sie war allein zu Hause. Alle Tanten waren fortgegangen. Trotzdem gelang es ihr, den Affen in ein Zimmer einzusperren. Dort verwüstete er aber alles. Er tobte, schleuderte jeden Gegenstand von seinem Platz. Auch die geliebte Jesus-Figur wurde geschlagen. Und diese war doch Grossmutters Ort ihres Glaubens. Er liess auch sie zu Boden fallen. Sie verlor in diesem Vandalenakt einen Arm. Zur Freude der Grossmutter nur einen Arm. Dieser konnte problemlos wieder befestigt werden. Alle andern Gegenstände gingen kaputt.

Ramos sagte weiter, jetzt sei diese Figur berühmt, weil sie nach Europa reisen durfte. Bald werde sie aber zur Grossmutter zurückkehren.

Nach dem Konzert habe ich die Figur angeschaut. Sie war auf ein Podest gestellt und mit Christrosen geschmückt worden. Eine mit feinen Zügen bearbeitete Figur. Ramos erzählte, dass es eine besondere Figur sei, die immer stehend aufgestellt werde. Auch in der Krippe liege sie nicht.

Diese Geschichte, am Anfang des Konzertes erzählt, öffnete uns vermutlich ganz besonders für die damals noch eher unbekannten Klänge der südamerikanischen Kultur. Ramos wies denn auch daraufhin, dass wir Menschen Vorstellungen und Phantasie bräuchten. Ohne sie wäre Musik nicht denkbar. Ebenso verhalte es sich mit dem religiösen Glauben.

Und jetzt, nach 21 Jahren, wo befindet sich die Jesus-Figur? Und die Grossmutter, ist sie verstorben? Hat man ihr die Figur stehend ins Grab mitgegeben, oder verehrt ihre Familie diese mit Erinnerungen an sie?

Hinweis
* Im Blogatelier ist ein ausführlicher und eindrücklicher Bericht von Margrit Haller-Bernhard erschienen, in dem sie die Musik der Guarani als "Musik aus dem ehemaligen Paradies" beschreibt.

Dienstag, 2. Dezember 2014

November-Tagebuch. Von der Busfahrt bis zur Pilgerfahrt

Mein Anfahrtsweg in die Zürcher Innenstadt beginnt öfters mit einem Fussmarsch hinunter zum Farbhof (Busstation und Tram-Endstation.)
 
An diesem Tag, von dem ich erzählen will, war alles anders. Es stand kein wartendes Tram an der Station, das den Blick auf die Mitte der Schleife hätte abdecken können. Die Sicht auf den mächtigen Tulpenbaum war frei. Hei! dachte ich, wie schön du bist, auch mit Deinem durchlässig gewordenen Kleid. Und am Boden, dir zu Füssen, das rostrote Blättermeer. Der Anblick: bühnenreif. In Gedanken dankte ich der „Grün Stadt Zürich", dass diese Farbenpracht nicht in einem Übereifer gleich weggeblasen worden ist. 
Der Fotoapparat lag in der Tasche. Ich konnte das schöne Bild, das ich da sah, gleich einfangen. Aber erst zu Hause entdeckte ich, dass mich aus dem Stamm ein weibliches Gesicht anblickte. Aus einer quer verlaufenen Verletzung entstand in der Rinde der Mund, aus abgeschnittenen Ästen die Augen. Über ihnen, ebenfalls von überwuchernder Rinde entstanden, könnte eine Schutzbrille gesehen werden.
 
Wer je eine Ausstellung der Künstlerin Margaretha Dubach gesehen hat, wird verstehen, wer mich die Magie in den Dingen erkennen lehrte.
 
Später, als mich der Bus ins Stadtinnere und über die Bahnhofbrücke führte, wunderte ich mich, dass die Beleuchtung der Weihnachtsdekoration am Limmatquai eingeschaltet war. 2 Stunden nach Sonnenaufgang? Vielleicht zur Probe.
Mit dieser künstlichen Baumallee sind wir vertraut. Sie erfreut uns seit Jahren. Sie pflegt die Tradition. Sie kann Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste wecken und das Weihnachtsgefühl aufkommen lassen. Erst seit gestern nehme ich an, dass sie viel robuster gebaut worden ist als ihr Vorgänger.
 
Aus einem Zeitungsausschnitt vom Dezember 1977 habe ich nämlich erfahren, dass die damaligen 42 Metallchristbäume grosse finanzielle Sorgen bereiteten. Winterstürme müssen ihnen zugesetzt haben. Pro Sturm seien von den 2184 Glühbirnen jeweils 250 beschädigt worden. Weiter wurde informiert, dass zusätzlicher Schaden von offenbar akrobatisch begabten Glühbirnen- und Christbaumkugel-Dieben verursacht worden sei.
 
Am Central angekommen, verliess ich den Bus und eilte ans Limmatufer, wolle mich vergewissern, ob die Lichter an den Bäumen noch brannten. Ja! Sie standen für eine Foto bereit.
 
Danach führte mein Weg auf der rechten Limmattalseite weiter. Die Höhenmeter, die ich von zu Hause nach dem Farbhof abwärts ging, mögen jenen, die ich jetzt noch aufwärts gehen musste, ungefähr entsprechen. Ich kam aber an keinem Ort vorbei, der mir die entsprechende Übersicht hätte schenken können.
 
Ich war auf dem Weg nach Liebfrauen. Freute mich auf das letzte Referat der diesjährigen Vortragsreihe Geistesblitze „Das Ganz Andere“.
 
Diese Veranstaltungen sind Angebote der Kirchgemeinde zu Predigern, im Auftrag der reformierten Altstadtkirchen und der katholischen Kirchgemeinde Liebfrauen. Solchen Einladungen folge ich gern. Darum empfinde ich den Monat November lichterfüllt, auch wenn ihn andere oft als grau beschreiben.
 
Die unkomplizierten Kontakte zwischen Reformierten und Katholiken erweitern an solchen Veranstaltungen noch zusätzlich den Horizont. Sie haben auch schon Freundschaften geschaffen.
Als eindrücklichstes November-Erlebnis werte ich jetzt aber die Ranft-Wallfahrt zu Bruder Klaus. Unserem junger Pfarrer gelang es, eine zeitgemässe Form für sie zu finden. Eine Reise in die Nacht. Im Bus unterwegs.
 
Während der Fahrt durch den Autobahntunnel entstand für mich eine wohltuende Abgeschiedenheit. Wie in einer Kirche. Die Welt liessen wir draussen. Der Pfarrer hatte eine schlichte Andacht vorbereitet, und wir sangen das Bruder-Klaus-Lied. Ich staunte über uns alle, dass wir es noch singen können. Es hat seinen Sinn und seine Kraft immer noch in sich.
 
Während dieser Tunnelfahrt war die Sonne untergegangen. Wir fuhren in die dunkle Nacht hinein. Von meinem Sitzplatz aus zeigte sich mir der Verkehr. Seine Ordnungen, sein Lauf, die Beleuchtungen für den Strassenverkehr. Die Farben. Weiss strahlten Autos aus, die auf uns zukamen, rot jene, denen wir nachfolgten. Das ganze Bild: ein ruhig dahin fliessender Strom. Ohne Hektik. Alle, die ein Auto lenkten, kannten ihren Weg. Mit den Abzweigungen. Mit dem persönlichen Ziel und der Ordnung, es zu erreichen.
 
Ab Sachseln empfand ich die Landschaft geheimnisvoll, die Strassenbeleuchtung stark eingeschränkt. Aber wie vorher auf der Autobahn führten uns Wegweiser problemlos ans Ziel.
 
Zur unteren Ranftkapelle, wo wir gemeinsam für den Frieden beten wollten, führt ein schlangenförmiger Fussweg ungefähr 90 Meter in die Tiefe. Er ist nicht erleuchtet, doch die Augen haben sich sofort an die natürliche Dunkelheit gewöhnt. Stockdunkle Nacht empfing uns. Im oberen Drittel dieses Wegs begleiteten uns die Sterne. Im unteren Bereich hatte sich der Nebel festgesetzt. Er verzauberte das einzige Licht aus einer kugelförmigen Strassenlampe an der letzten Wegbiegung und warf seine Schatten an die Kapellenfront. Zusammen mit jenen der Eingangsüberdachung, der Kirchentüre und dem kreisrunden Oblichtfenster entstand von weitem der Eindruck, hier trete eine überirdische Person aus der Kapelle heraus und weise den Weg. Ob dieses Zusammenspiel an der Kapellenfront Komposition oder Zufall ist, erscheint mir nicht wichtig. Die Stimmung aber, die sie verbreitet, liess alles vergessen, was uns vor ein paar Stunden noch bewegt hat. Mitbeteiligt an ihr auch das Gebet um Frieden und die schlichte Eucharistiefeier.
 
Der Pilgerseelsorger im Flüeli-Ranft, übrigens früherer Pfarrer in Zürich-Altstetten, informierte noch, dass Jugendliche aus der Schweiz immer ab Mitte November und im Dezember in der Art einer Stafetten-Wallfahrt hierher kämen, um für den Weltfrieden zu beten.
 
Auf dem Rückweg zu Fuss durften wir dem goldenen Sternenhaufen am schwarzen Himmel nochmals begegnen. Es war ein aussergewöhnliches Erlebnis.
 

Sonntag, 26. Oktober 2014

Von reifen Samenständen und flugunfähigen Seevögeln

Es stürmte. Herbstwinde schüttelten Laub von den Bäumen. Ganz besonders hatten sie es auf das Hagebuchen-Wäldchen in meiner Umgebung abgesehen. Zeitweise sah es aus, als ob es schneie. Aber die Sonne schien und der Himmel sorgte für ein heiteres Blau. Mit im Spiel auch weisse Wolkenfrachten. Im Mittelpunkt die Früchte der Hagebuchen.


Als Letizia anrief, hatte ich schon eine Weile zugeschaut, wie auseinander gefallene Samenstände zur Erde fielen. Ich erzählte, was ich sah. Wie diese blattartigen Flügel zwirbelnd herunterfielen. Wie leicht sie seien und wie behutsam sie auf der Wiese landeten.
 
Etwas später rief Letizia erneut an. Offenbar hatte ich so begeistert rapportiert, dass sie in ihrem Umfeld ebenfalls nach fliegenden Samen ausschaute und mir darüber berichten wollte.
 
Inzwischen war es mir gelungen, Hagebuchen-Flügel als fliegende Objekte zu fotografieren. Dank der Windböen wurde es möglich, sie sogar am Himmel abzubilden.
 
Ich dachte an Helikopter, als ich sie fliegen sah. Auch an Segelflugzeuge, als sie der Wind süd- und nordwärts zwang. Dieser Sturm, der an verschieden Orten Bäume umfallen liess und grosser Schaden anrichtete, zeigte sich in meinem Umfeld gnädig. Ich sah keine Schäden. Und ich lernte viel von ihm.

Eine kleine Zahl solcher Fruchtstände landeten auf meinem Fenstersims und mehrere auch auf dem Balkon. Für sie war die Reise dort zu Ende. Ich holte eine Hand voll von ihnen zu mir ins Büro. Hier konnte ich sie ruhig anschauen. Alle trugen noch den Samen auf sich. Keiner ist verloren gegangen. Ihre Formen sind klar als dreilappige Flügel von den Hagebuchen-Samenständen erkennbar. Und doch ist jedes Blatt ein Original. Keines ist mit einem anderen deckungsgleich. Auf den ersten Blick könnte man ihre Form mit einem Kleid vergleichen. Oder als Symbol für Geborgenheit erklären, denn der Same, auch Nüsschen genannt, ist in einer kleinen Mulde festgewachsen. Diese Blätter sind nicht flach. Sie sind Gebilde. Wenn ich sie wende, erscheinen sie mir als Teil einer Glocke.
 
An jenem Nachmittag vollzogen sich Samenflüge etappenweise. Je nach Wind wurden sie nord- oder südwärts und auch im Kreis herum getrieben. Es müssen Millionen abgefallen sein. Die grüne Wiese ist nun braun gesprenkelt. Welcher Same wird keimen, wo darf ein neuer Baum wachsen? Interessant auch, dass die Samen am Flügelblatt haften und sich erst am Boden, vielleicht erst nach Regen oder Schnee, vom Blatt lösen. Sie brauchen das Blatt als Flugobjekt, damit die Samen in ein weites Umfeld verfrachtet werden können.
Die Blätter, die auf dem Fenstersims landeten, habe ich fotografiert und später auf meinen Schreibtisch gelegt. Da konnte ich sie in aller Ruhe betrachten. Sie waren von einem Geheimnis umgeben. An wen erinnerten sie mich? Plötzlich wusste ich es: An Pinguine, schwimmende Pinguine, wenn sich diese ins Wasser werfen und dort übermütig tauchen. Um schnell zu sein, strecken sie ihre Körper und die Form entspricht, wenn auch vielfach vergrössert, den Formen eines Blattes aus dem Hagebuch-Samenstand.
 
Ich sandte Letizia eine entsprechende Foto. Sie schrieb zurück
 
Ja Wahnsinn !
Ich seh die Pinguine schwimmen !!!
Sensationell.
 
Sie war dabei, als wir vor wenigen Tagen den Zürcher Zoo besuchten und auch bei den Pinguinen landeten. Wir beobachteten diese beim Anmarsch ins überdeckte, durchsichtige Bassin aus Glas. Ihr wackelnder Gang, ihr ganz eigener Charme, veränderten sich blitzschnell, als sie ins Wasser sprangen. Wie Kinder, die zu allerlei Lumpereien aufgelegt sind. Die Vitalität, die sie tauchend vorführten, verblüffte uns. Das war Energie pur. Und wir konnten zuschauen, wie sie ihre Körper vollständig veränderten. Die ausgezogene, neue Form, die fand ich dann ein paar Tage später, vielfach verkleinert, in den abgefallenen Hagebuchen-Flügeln
                                                                                              *
Pinguine werden übrigens als flugunfähige Seevögel bezeichnet.
 
Und die Samenstände reihe ich bei fliegenden Wesen ein, auch wenn sie vom Wind abhängig sind und sich nicht selber steuern können.

Montag, 13. Oktober 2014

Ausflug ohne zu fliegen. Reise mit Bahn und Postauto

Wir befanden uns im Zug Richtung Chur. Ein junges Paar hatte sich neben uns gesetzt. Die Frau wollte sofort wissen, ob sich der Platz auf der Seeseite befinde. Sie kenne den Zürichsee noch nicht, freue sich, ihn heute zu sehen. Einen Augenblick lang dachte ich, ihr meinen Fensterplatz anzubieten. Ich bemerkte aber schnell, dass ihr Freund keine Freude gehabt hätte. Ihre Frage beantwortete er mit einer bejahenden Geste, knapp und unmissverständlich uninteressiert. Er wollte nicht gestört werden, war mit dem iPhone im Gespräch. Er beschäftigte sich mit Zahlen, Bahnstrecken und Kilometern, die er der Frau von Zeit zu Zeit erläuterte. Es tönte dann, wie wenn er Reiseangebote testen wollte. Vielleicht machten die beiden an diesem Tag „Blauen“, fuhren los und entschieden unterwegs, wie die Reise weiterführen soll. Aber Reisefreude strahlte dieser Mann nicht aus.
Das Regenwetter und der graue Himmel verwehrten der jungen Frau den Kontakt mit dem See. Im Bereich zwischen Wädenswil und Horgen ZH wies ich darauf hin, dass wir hier dem Wasser nahe seien. Es sind Lieblingsorte, in die ich selber immer wieder gerne hineinschaue. Bei heiterem Wetter zeigen sich hier prächtige Bilder, sowohl Richtung Zürich als auch gegen den Obersee hin. Die junge Frau freute sie an diesem kurzen Einblick. Das war's dann.
Ab Ziegelbrücke erschien die Sonne. Wie wenn ein Lichtschalter bedient worden wäre. Einige Sekunden lang schauten auch unsere Mitreisenden auf und hinaus. Das Licht des Südens strahlte durch das Glarnerland. Ab da schien die Sonne auch auf unsere Schienen. In Chur erwartete uns ein blauer Himmel. Und weisse, flockige Wolken, die sich ständig in lustige Fratzen verwandelten. Grosser Andrang dann vor dem Postauto. Auch wir konnten noch zusteigen und letzte Plätze besetzen.
Der ¾ Stunden dauernden Fahrt mit Höhendifferenz von ungefähr 480 Metern verdankten wir eine beeindruckende Sicht in die Berglandschaft. Auf der Hinfahrt bediente der Postautokurs auch den Ort Trin GR und führte uns eine kleine Weile durch den Ortskern, entlang historischen Häusern. Eine Augenweide. Und vor der Ankunft in Flims-Dorf GR bemerkte ich kurz aber eindeutig im Flimser Wald den Caumasee.

Nach der Ankunft meldete sich ein Problem. Meine Uhr konnte die exakte Zeit nicht mehr angeben. Sie ging hintennach. Die Batterie war erschöpft. Auskunft, wo wir einen Uhrmacher finden könnten, erhielten wir dann vom Kellner im Hotel-Restaurant Bellevue. Hier wurde uns ein feines Mittagessen serviert. Mit uns in der schönen Täferstube tafelten auch andere Gäste. Alle zusammen befanden wir uns in Gesellschaft mit Tieren. Genau gesagt mit Tierpräparaten (Kopf und Geweih) von Steinbock, Gemse, Hirsch, Reh mit Kitz und einem Jungfuchs. Sie beobachteten uns von den Wänden herab. Eine illustre Versammlung. Verstanden habe ich sie als Anlehnung an das Steinbock-Wappentier des Kantons Graubünden.
Der Besuch beim Uhrmacher in Flims-Waldhaus empfanden wir schlussendlich als Zugabe an Übersicht. Auf dem Rückweg fühlten wir uns auf einem Balkon, schauten von Flims-Waldhaus nach Flims-Dorf hinüber und auch an die Felswand des Flimsersteins. In einem gigantischen, unvorstellbaren Bergsturz verlor er vor ungefähr 9500 Jahren einen wuchtigen Teil seiner Gestalt. Dieser Stein zerbrach, kollerte hinunter in den Rhein und gestaltete mit ihm in unzählbaren Jahren schliesslich die Ruinaultaschlucht.
 
Es war der grösste alpine Bergsturz, der in der Schweiz stattfand. Für alle Lebewesen in seinem weiteren Umfeld muss es der Weltuntergang gewesen sein.
 
Jetzt steht der Flimserstein ruhig und auch majestätisch da. Alle Abbruchstellen und Schrunden zeigten an diesem heiteren Tag ihre von Wind und Wetter geschliffenen Oberflächen. Erstaunlich die Partien, auf denen Tannen wachsen können. Woher ernähren sich diese aufrechten, gesunden Bäume? Wie schafften sie es, sich in diesem Gestein zu verwurzeln? Dieses Geheimnis gaben sie uns nicht preis. Primo konnte sich kaum von ihnen trennen.
Auf dem Rückweg nach Flims-Dorf kam eine gebeugt gehende Frau auf uns zu und fragte, ob wir bereit wären, ihr zu helfen. Ich dachte zuerst, dass sie um Geld bitten wolle. Nein, so war es nicht. Sie fragte nur, ob wir den für sie zu schwer beladenen Abfallsack zur öffentlichen Abfalltonne tragen könnten. Es fehle ihr die Kraft dazu. Primo übernahm diese Aufgabe sofort. Und ich erkundigte mich, was ihr fehle. Sie war von einem rasenden Automobilisten angefahren und unverschuldet schwer verletzt worden. Sie kann kaum mehr aufrecht gehen und das Gleichgewicht halten. Sachte fragte ich nach, ob sie noch hoffen und glauben könne, dass sich etwas zum Guten ändere. Eigentlich nicht, antwortete sie traurig. Aber solche Hilfe, wie sie jetzt gerade von uns erfahren habe, die gebe ihr Kraft.
 
Nach Flims gekommen waren wir wegen der gegenwärtigen Plakatausstellung. Dass diese im viel besprochenen Gelben Haus gezeigt wird, freute uns sehr. Ein ursprünglich altes Haus (Gelbes Haus genannt) wurde vor Jahren schon vom Bündner Architekten Valerio Olgiati ausgekernt und zum Museum gestaltet. Immer, wenn ich eine Abbildung von ihm sah, wünschte ich mir, es einmal zu sehen, vielleicht sogar zu betreten. Das Haus, wie es dasteht: Eine Wucht. Da bin ICH. Schaut nur hin. Lasst euch von meinen Proportionen einnehmen. Schaut auf meine Fenster, auf ihre Zahl und Anordnung. Beachtet den weissen, rauen Verputz. Schaut auf das Ganze.
 
Dieses Haus verkörpert das Wesentliche.

Die Ausstellung war denn auch ergreifend. Weil es sich grösstenteils um ein Wiedersehen handelte. Noch immer betrachten wir die Plakatgrafik von einst als Kunst, zu der alle Menschen Zugang hatten. Grösstenteils unter dem Einfluss der Hochkonjunktur entstanden, strahlen diese eine Stilsicherheit aus, die seinesgleichen sucht. Sie strahlen auch Lebensfreude aus. Das ist unsere persönliche Sicht. Wir sind mit solchen Bildern erwachsen geworden. Auch andere Museumsbesucher reagierten ähnlich, empfanden die Bilder wie gute, alte Freunde. Lange verweilten wir in diesem Haus in Gesellschaft mit 140 sorgsam gehüteten Plakaten. Ganz besonders erinnerten wir uns an jenes, das für Flims gestaltet worden war. Der Titel: Die Springerin über dem Flimser Caumasee. Das Bild einer schönen Frau, die in den Bergsee springt. Vielleicht ist es das berühmteste Plakat der gesamten Ausstellung. Ich kannte es schon, als ich noch lange nichts von Flims oder vom Caumasee gehört hatte.
 
Die Rückreise nach Chur dann im Eiltempo, ohne Fahrt durch Trin. In der Postautohalle erwarteten uns 2 meiner Nichten. Mit ihnen und den Eltern durften wir noch den Abend verbringen. Die Mädchen servierten uns ein feines Nachtessen wie im Grand Hotel.
 
Und auf meine Uhr kann ich mich wieder verlassen. Ich nenne ihre Zeit jetzt Flimserzeit. Im besten Fall solange, bis die erwähnte neue Batterie auch wieder den Geist aufgibt. Möglich ist auch, dass sich noch vorher eine andere, neue Geschichte obenauf schwingt, die ich nicht rasch vergessen möchte.

Dienstag, 30. September 2014

Am Obertorturm in Aarau wartete der Zufall auf uns

Der Rundgang im Kunstmuseum Aarau beflügelte uns. Wir folgten der Ausstellung HEUTE IST MORGEN mit Werken von Sophie Taeuber-Arp. Ihre Talente sind in mehr als 300 Exponaten zu bewundern. Die Arbeiten der 1889 geborenen Künstlerin strahlen als Offenbarungen ganz besonders in unsere Gegenwart aus.
 
Auf dem Rundgang dieser Ausstellung ist mir wieder einmal aufgegangen, wie lange ein Werk reifen muss, bis es verstanden wird und wegweisend sein darf. Vergleichbar mit dem Wachstum von Pflanzen und Bäumen.
 
1989, im Zusammenhang mit einer Ausstellung in Bern, schrieb Alice Baumann noch in der Annabelle zum Schaffen von Sophie Taeuber-Arp: Trotz ihrer grossen Kreativität wird sie zu Lebzeiten nie richtig bekannt.
 
Ihr Unfalltod von 1943 verhinderte es.
 
Zu ihren Werken wurde aber Sorge getragen. Nur darum ist es möglich, dass sie jetzt ausstrahlen und uns begeistern können. Es scheint, dass sich kein Objekt über den zugewiesenen Ausstellungsort beklagt. Das Kunsthaus hat ihnen grosszügig Plätze zugewiesen. Und der Künstlerin erweist es Bewunderung und Respekt.
 
Die umfassende Ausstellung zeigt die Vielfalt ihres künstlerischen Schaffens. In ihren Werken geht es um Form, Farbe, Material, Design, Malerei, Zeichnung, Plastik, auch Architektur und ganz besonders um textile Kreationen. Gewobenes, Gesticktes und Perlenkrallen-Arbeiten. Ihre Werke sind subtil, dem kleinsten Detail liebevoll verpflichtet. Ich fühlte in allem etwas Lebendiges, wie es nur das Handwerkliche in sich tragen kann.
 
Sophie Taeuber-Arp war anfänglich Lehrerin an der Zürcher Kunstgewerbeschule und hat im Geheimen als Tänzerin und Gestalterin an der Da-Da-Bewegung teilgenommen. Ihre Arbeiten sind deshalb in erster Linie didaktische Lehrgänge, die bis heute prägend wirken, aber erst jetzt als Kunst verstanden werden.
 
Als wir uns aus dem Kunsthaus verabschiedeten – wir hatten uns noch im Museumscafé gestärkt und uns dort mit Gästen aus Basel unterhalten –, dachten wir ans Heimfahren.
 
Draussen empfing uns ungemütliches Wetter. Der Kontrast zur Ausstellung hätte nicht grösser sein können. Der Himmel schwarz. Regen. Doch plötzlich hatte sich die Sonne auch noch ins Bild gesetzt und in mir den Wunsch geweckt, den dazugehörigen Regenbogen zu suchen. Er zeigte sich aber nicht. Dort, wo er hätte auftreten müssen, regnete es vielleicht nicht mehr. Oder er versteckte sich hinter den Häusern, vor denen wir ausschauten und warteten. Wir gingen weiter Richtung Obertor. Und schon regnete es wieder in Strömen. Unter dem Vordach eines Geschäftshauses blieben wir stehen. Und warteten. Und hörten auf einmal Carillonklänge. Das Glockenspiel ertönte aus dem Turm, dem wir gegenüberstanden. Dem Obertorturm. Eine Überraschung. Es erreichten uns bezaubernde Melodien, passend zu all den Werken, die wir vorher bewundert hatten.
 
Als das Spiel verstummte und wir noch eine Weile auf eine Fortsetzung gewartet hatten, gingen wir weg. Und kamen gleich wieder zurück. Wir hörten, dass erneut gespielt wurde. Und nach einer weiteren Pause verhielten wir uns nochmals unwissend, gingen weg und kamen wieder. Es waren wenig Leute unterwegs, und wir meinten, wir seien überhaupt die einzigen, die diese feinen Klänge auffingen.
 
Primo hatte in der Zwischenzeit entdeckt, dass im Turm eine Lampe brannte. Er folgerte, dass uns diese dann ankündige, wenn das Konzert zu Ende sei. Noch bevor es im Turm dunkel geworden war, kamen zwei Frauen an uns vorbei. Sie sassen schon länger mit aufgespannten Schirmen auf der Bank an der Bushaltestelle. Wir hatten sie nicht weiter beachtetet. Jetzt aber sprach uns eine der beiden an und informierte, das Konzert sei beendet. Sofort hörte ich aus ihrem Sprachklang heraus, dass wir uns kennen müssen. Wir nannten unsere Namen. Grosses Erstaunen und Freude. Die damalige Begegnung in unserer Schreinerei-Werkstatt liegt mindestens 20 Jahre zurück.
 
In der Zwischenzeit hatte der Glöckner vom Obertorturm die Lampe gelöscht, ohne dass wir Zeit gehabt hätten, darauf zu achten. Er kam unerwartet auf uns zu. Und es stellte sich heraus, dass er der Partner jener Frau geworden ist, die uns angesprochen hatte. Sie war ebenfalls für das Konzert hierher gekommen. An ihrer Seite eine Frau, die vor kurzem im Spitalbett auf das Carillonspiel aufmerksam wurde. Und mehr darüber wissen wollte. Der Wunsch wurde ihr erfüllt. Darum sassen die Frauen auf der Bank nebenan.
 
Auch mein Wunsch wurde postwendend erfüllt. Hubert Schäpper, Glöckner von Aarau, sandte mir einen Beitrag aus der Zeitschrift 1A!Aargau, der sein Amt als städtischer Glockenspieler beschreibt.
 
Ihm kann ich Wissenswertes entnehmen und mitteilen: Hubert Schäpper, Lehrer und Musiker, übt das Amt des städtischen Carilloneurs seit 40 Jahren aus, sei wahrscheinlich der dienstälteste Glockenspieler der Schweiz. Offensichtlich mit Leib und Seele mit dieser Aufgabe verbunden. Die Melodien spiele er auswendig, und die 187 Treppenstufen sei er schon über tausendmal hochgestiegen.
 
Dass wir ihn spielen hörten, verdanken wir dem Eidgenössischen Bettag, der an jenem Sonntag gefeiert wurde. Sein Spiel erklingt immer dann, wenn Aarau besonders festlich oder besinnlich ausstrahlen soll. An städtischen und kirchlichen Feiertagen.
 
Über den Oberturm lese ich, dass dieser bis ins 19. Jahrhundert als Wach- und Verliessturm benützt worden sei. Viele Verbrecher wurden hier eingesperrt. Zuständig für das Wohl der Gefangenen war der Turmwärter, der mit seiner Familie oben im Turm in einer kleinen Wohnung gelebt habe.
 
Während wir den Carillonklängen lauschten, entdeckte ich an der Südfront des Turms die Darstellung des Totentanzes. Eine markante Arbeit des Künstlers Felix Hoffmann. Gut erhalten, gut verständlich. Uns mahnend, dass Leben und Tod nicht voneinander zu trennen sind.
 
Abschliessend danke ich Freund Zufall wieder einmal öffentlich für ein Geschenk. Für seine Zugabe. Je länger je mehr begreife ich, dass er uns nur erreichen kann, wenn wir nicht ständig von fixen Programmen und Terminen bestimmt sind.

Montag, 18. August 2014

«anno 1914»: Nostalgie am Drehort der Fernseh-Serie

Als geborene Zürcher Oberländerin hat mich das Fernseh-Projekt SRF 1 anno 1914 von Anfang an interessiert.
 
Meine Eltern und beide Grossmütter arbeiteten in Webereien in Wald ZH. Von Kindsbeinen an kenne ich die Wörter Zettel, Schiffli, Fabrik, Weberei, die Herren und dazugehörige Geschichten.
 
Also machte ich mich auf den Weg zum Drehort Juckeren, im Umfeld von Bauma im Kanton Zürich. Fahrzeit nur eine Stunde mit S-Bahn und Bus ab Zürich-Altstetten. Nach der letzten Strassenbiegung, bevor wir am Drehort der Fernsehserie eintrafen, wurde die Fabrik sichtbar. Auf ihrem Turm wehte die Schweizer Fahne. So wurde der Anblick auch im Fernsehen gezeigt. Also am rechten Ort angekommen.
 
16 Uhr. Die Türen wurden gerade geöffnet. Es regnete, es goss vom Himmel auf die vielen Regenschirme hinunter. Dicht gedrängt warteten Besucherinnen und Besucher auf Eintrittskarten für Führungen. Mehr oder weniger geduldig. Es wurden Karten für Führungen zu unterschiedlichen Zeiten verteilt. Gratis. Meine galt für 17.30 Uhr. Ich war alleine hierher gereist, schätzte es, ohne Rücksicht oder Rückfragen auf andere meinen Gwunder (Neugier) zu stillen.
 
Die Eingangstür zur Fabrik stand offen. Ich konnte eintreten. Seltsam und nicht sofort erklärbar, fühlte ich mich hier daheim. Warum das? Erst als Frauen, die vor mir hergingen und die abgewetzten Treppenstufen bemängelten, wusste ich, woran mich meine Gefühle erinnerten: An unsere eigene Schreinerei-Werkstatt in einer ehemaligen Spinnerei, die wir 36 Jahre lang mieten konnten. Dort gab es auch ausgetretene Treppenstufen und federnde Holzböden. Und das Gebäude selbst atmete auf ähnliche Weise. Erinnerungen, die ich gerne zuliess.
 
Auch andere Besucher fühlten sich in die Vergangenheit versetzt. Ich sprach mit Männern und Frauen und hörte von ihren Beziehungen zu solchen Fabriken. Altersmässig waren wir unter uns. Einige junge Frauen beobachtete ich dort, wo man Kleider aus der Belle Époque anprobieren durfte. Da huschten die Verkleideten dann in bodenlangen Röcken umher. In der Ecke, wo Rasuren und Frisuren wie vor 100 Jahren angeboten wurden, sah ich zu, wie der Bart eines jungen Mannes nach alter Manier eingeseift wurde.
 
Auf der Theke stand eine Wasserschüssel und der dazugehörige Wasserkrug aus Steingut. Ein Mann neben mir erkannte dieses Gespann und sagte zur Frau: „Ou ja! Das isch öis doch emal abegheit.“ Er erinnerte sich also an dieses Ensemble und dass es eines Tages heruntergefallen und zerbrochen sei. Diese Gefässe benützten wir, als in den Wohnungen fliessendes Wasser nur für die Küche und für den Abort eingerichtet war. Mit dem Wasser von der Kommode konnte man am Morgen Gesicht und Nacken waschen, um richtig zu erwachen.
 
In einer Vitrine entdeckte ich den steifen Hemdkragen, der „Vatermörder“ genannt wird. Daneben das Korsett für Frauen. Als ich zu einem neben mir stehenden Besucher sagte, der Vatermörder trage einen passenden Namen, wusste er nicht, wovon ich sprach. Noch nie gehört, dass ein steifer Kragen diesen mörderischen Namen trug. Er überlegte eine Weile und folgerte, da hätte eine Frau keine Chance gehabt, den Mann an der Gurgel zu packen.
 
Weitere Entdeckung: Stoffrollen von damals. Da schaute ich genau hin, wollte Antworten heimbringen. Die Frage nach Kleiderfarben von einst hatte mir meine Tochter Letizia schon vor langer Zeit gestellt. Fotos im Familienalbum der Grosseltern erzählten nur schwarz-weisse Geschichten. Die hier präsentierten Farben entsprachen meinen Erinnerungen. Sie traten dezent auf: Altrosa, türkis, hellbraun, beige. Im Gegensatz zu den kontrastreichen und schreierischen Farben von heute wirken sie immer noch vornehm und in meinen Augen natürlich. Ein paar Schritte weiter traf ich auf einen Tisch, auf dem fertig gestellte Küchentücher präsentiert wurden. Dahinter ein älterer, ruhiger Mann. Er wies daraufhin, dass diese Tücher auf den beiden Webmaschinen nebenan entstanden seien. Eine besondere Webetikette zeichnete sie aus. Ja! Ein solches Tuch möchte ich kaufen. Seine Antwort: „Ich darf es Ihnen schenken.“ Zusammen mit einer Postkarte überreichte er es mir. Diese Geste freute mich enorm, auch jetzt noch. Ein wertvolles Geschenk, das mich indirekt mit meinen Vorfahren und vor allem mit meiner Mutter verbindet.
Nebenan dann die beiden Webstühle in Betrieb. Beide Modelle haben wir bereits auf dem Bildschirm kennen gelernt. Hier schauten alle interessiert zu, nahmen den Takt angebenden Lärm in sich auf, beobachteten die Durchschüsse. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis sich die Augen auf das Schiffli, in dem der Faden spediert wird, konzentrieren konnten. Sie kamen kaum nach, es zu begleiten. Ich musste mich auch sonst gedulden. Wer einen guten Platz mit Sicht auf die Durchschüsse ergattern konnte, blieb lange stehen. Auf der andern Seite des Webstuhls konnten wir beobachten, wie der Stoff wuchs.
 
An beiden Webstühlen hing je ein Büschel Baumwollfäden, am einen Ort weisse, am andern farbige. Die weissen liessen mich an Haare einer Fee denken. Dünn und fein. Am Webstuhlgestell und am Boden häuften sich Flausen, die sich aus der verarbeiteten Baumwolle gelöst hatten. Ich bewunderte die Feinheit des Baumwollfadens.
 
Wie gerne hätte ich in diesem Augenblick meine Mutter neben mir gehabt! Ich kenne ihre Arbeit nur vom Hörensagen. Nie konnte ich zuschauen, welche Aufgaben sie erfüllt hatte. Und wenn sie über ihre Arbeit in der Fabrik sprach, beklagte sie sich nicht. Sie erzählte nur, dass die Schichtarbeit einer Lotterie gleichkam. Wenn ihr eine ebenbürtig tüchtige Schichtablöserin zugeteilt wurde, verdiente sie gut. Entstanden Fehler, waren beide Frauen von Lohnabzügen betroffen, unabhängig davon, wer sie verursacht hatte.
 
Bevor ich die Fabrik auf dem Rückweg verliess, schaute ich nochmals in jenen Raum, in denen einzelne Szenen der Fernsehserie aufgenommen wurden. Ich wunderte mich über seine Grösse, die ich hier vorfand. Das Büro des Juniorchefs und seinen Gehilfen empfinde ich im Film als sehr eng. In Wahrheit ist es geräumig.
 
Dann besuchte ich das Festzelt. Es war kaum besetzt. Das langgezogene Buffet mit Getränken, Gebäcken und regionalen Spezialitäten wurde von verschiedenen Personen betreut. Ich gönnte mir einen Tee, ass eine Schnitte Zwetschgenkuchen, kaufte die prämierte Sonnentorte aus der Bäckerei Schiess, ebenso Baumerfladen aus der Konditorei Voland, beide in Bauma hergestellt. Diverse Käse und Würste gehörten ebenfalls zum Angebot. Und für Unterhaltung sorgte eine Filmsequenz.
 
Diese ruhige Atmosphäre entsprach mir sehr. Anschliessend konnte ich an der offerierten Führung teilnehmen. Eva Zangger, Kunsthistorikerin von der Kulturdetektive GmbH aus Wetzikon führte uns durch die Villa, das Waschhaus und das dazugehörige Gelände, auch zum Wasserschloss und den Kosthäusern. Sie bot uns viel Wissenswertes und betonte, dass es ungewöhnlich grosszügig sei, dass die Besitzerfamilie Jucker den Villenbesuch gestatte. Sie verstand es, dafür zu sorgen, dass wir uns in ihren Räumen respektvoll verhielten.
 
Als ich aus dem Haus trat, sah ich den Patron aus dem Film. Er stand vor der Villa, in lockerem Gespräch mit Gästen. Ich ging auf ihn zu, grüsste und fragte etwas aufmüpfig: Ja, sind Sie denn nicht mehr in Kandersteg? Am Tag zuvor sah ich ihn (im Film) mit seiner Frau ins Berner Oberland reisen. Das letzte Bild zeigte ihn, wie er sich bei der Ankunft im Hotel Victoria in den Korbsessel fallen liess. Angekommen. Ferien!
 
Er hatte den kleinen Spass verstanden, spielte die Rolle des Patrons einen Augenblick mit.
 
Die Heimreise hatte ich mit der Bahn via Fischenthal – Wald ZH – Rüti vorgesehen. Ich wäre gern wieder einmal an jenem Moor vorbeigekommen, das in meinen Vorstellungen den ungefähren Ort markiert, wo die Flüsse Töss und Jona ihren entgegengesetzten Lauf antreten.
 
Dieser Zug war bereits abgefahren. Der Bus, der uns zum Bahnhof Bauma führte, fuhr 6 Minuten zu spät vor. Ich konnte die Reise nicht wie vorgesehen fortsetzen. Es erstaunte, wie die vielen Busreisenden sofort verschwanden. Offensichtlich zu Hause angekommen. Nur zu zweit standen wir noch bei den Geleisen.
 
Die Kioskfrau verriegelte gerade ihren Laden und verschwand lautlos. Wie vom Boden verschluckt. Da standen wir zwei: Der Mann, der ebenfalls die Weberei besuchte, und ich, die gerne mit dem bereits abgefahrenen Zug nach Rüti gefahren wäre.
 
Mit dem Mann hatte ich schon im Bus gesprochen und erfahren, was ihn an der Weberei interessierte. Technische Belange. Alles andere schien ihm nicht bedeutsam. Um nicht eine Stunde hier allein herumzustehen, entschloss ich mich, ebenfalls über Winterthur zu reisen. Still standen wir da.
 
In dieser Zeit unterhielten uns stürmische Winde, führten ihre Kraft vor. Sie schüttelten den Wald, fuhren in die Bäume hinein, liessen die Blätter knistern.
 
Die Wartezeit wurde zur wertvollen Viertelstunde, die mir wieder einmal vorführte, was Stille bewirkt. Was wir wahrnehmen, wenn der Verkehrslärm ausgeschaltet ist.
 
Auf der Rückreise dann, folgte mein Blick der urtümlich wilden Hügellandschaft, die sich nach und nach veränderte. Sie wurde ebener, der Talboden langsam breiter, die Besiedlung stärker. Der mitreisende Mann aus dem Kanton Aargau war mit seinem Natel im Gespräch, schaute aber kurz auf, als ich auf die Dorfkirche von Zell hinwies, wo das berühmte Weihnachtsspiel Zeller Weihnacht erstmals aufgeführt wurde. Und etwas später liess er sich nochmals ablenken, als ich auf das Tibetische Kloster in Rikon hinwies.
 
Ungefähr 100 Höhenmeter nitzi (abwärts) trafen wir dann in Winterthur ein. Vorher aber bescherte uns der aufgelockerte, blaue Himmel noch ein Schauspiel. Auf seinem Hintergrund tummelten sich unzählig viele weisse Haie. Wolkengebilde besonderer Art.
 
Dieses Bild zeigte sich einige Minuten lang nur darum, weil in Winterthur Seen keine dominanten Hochhäuser in den Himmel ragen. Die Bauvorschriften werden hier offensichtlich verständnisvoll respektiert. Aus solchen Gründen resultierte die grandiose Aussicht.
 
Winterthur. Umsteigen. Wir wünschten uns einen guten Heimweg!
 
Die Hektik hatte mich wieder. Trotzdem fuhr ich sinnierend nach Zürich-Altstetten zurück und überdachte meinen Besuch, freute mich an der Rückführung in längst vergangene Zeiten, freute mich auch über die verschiedenen Gespräche und dass Arbeiter und Angestellte heute zu anständigeren Löhnen arbeiten und sich Ferien leisten können. Auch in Kandersteg.

Sonntag, 27. Juli 2014

Tagebücher sind Schatullen für das vergangene Leben

Aus ihnen ziehe ich immer wieder einmal eine spezielle Geschichte hervor. Und diesmal ist es sogar eine hölzerne Schatulle, die im Mittelpunkt steht.
Primo schenkte sie mir vor 3 Jahrzehnten. Als Kubus hergestellt, war sie für eine vorhandene Glaskugel bestimmt. Mit Messingscharnieren auseinanderziehbar. Ein Verleimer. So nennt er seine Objekte, die er aus verschiedensten Hölzern gestaltet. Ein Werk aus seinen Händen, geprägt von seinem Schönheitssinn und mit Materialien erschaffen, die vermutlich andernorts als Abfall weggeworfen worden wären. Stücke auch mit ausgebrochenen Ästen, verwurmt, zerrissen.
 
Ich notierte damals ins Tagebuch: Bevor ich wusste, dass dieses Gefäss unsere wertvolle Glaskugel, die wir Wahrsagerkugel nennen, beherbergen soll, betrachtete ich dieses Werk als ein Stück Lebensgeschichte von uns beiden. Geschaffen mit markanten Hölzern, hell und dunkel, unauffällig und ebenso auch ausgefallen. Mit bekannten Hölzern aus unseren Breitengraden. Und mit dem Exoten Rio-Palisander ergänzt.
 
Als ich davon sprach, lachte er und sagte: Und dä Wurm isch au dinä. (Und der Holzwurm sei auch dabei.)
 
Er verunsicherte mich aber nicht. Ich sah in dieser Gestaltung ein getreues Abbild vom Leben. Von Ordnungen, Zusammenspiel und Darstellung dessen, was uns mit andern verbindet oder trennt. Auch von Wachstum, Stärke, Schönheit und ebenso von Zerfall.
 
Da Primo keine Scheu hatte, verwurmtes Holz zu verwenden, hatte ich in jenem Augenblick auch keine Scheu, dazu zu stehen, dass in unserem Leben auch verwurmte oder angefressene Elemente auszumachen seien. Zusammenfassend schrieb ich, alles zusammen sei schön. Und heute denke ich dazu, besonders die angefressenen Teile würden das Objekt interessant machen.
 
Jetzt, nach 31 Jahren, als ich diese kostbare Arbeit wieder einmal bewusst in die Hände nahm, staunten wir, wie gut erhalten sie ist. Die Löcher gehörten schon damals dazu. Primo hatte sie im Deckel und auf Seitenteilen so eingesetzt, dass sie als Augen oder Fenster wahrgenommen werden können.
 
Fingerdicke Holzwürmer hatten in einer Art Tunnelbau einen Kanal geschaffen, der sie schlussendlich ins Licht führte. Sie frassen solange vom Holz, bis sie aus ihm herausfanden. Zurückgekommen sind sie nicht mehr. Ihre Behausung ist leer. Seit Jahrzehnten schon. Sie kamen auch nicht auf die Reise in die Schweiz mit.
 
Die Löcher in diesem kleinen Stück Riopalisander sollten zeigen, wie dick die südamerikanischen Holzwürmer sind. Eine Kundin brachte das Holz aus Brasilien in unsere Werkstatt. Selber als Künstlerin tätig, sah sie sofort die aussergewöhnlich schönen Formen der Löcher. Wie vorausgesehen, inspirierten diese dann den Schreiner, und das erwähnte Objekt entstand. Das beinahe schwarze, harte Holz hat sich bis heute nicht verändert. Und wie schon gesagt, die Holzwürmer sind ihm nicht in die Schweiz gefolgt.
 
Was auch auffällt: Die verschiedenen Holzarten, an verschiedenen Orten und unter verschiedensten Einflüssen aufgewachsen, fühlen sich mehrheitlich wohl in diesem Werk. Es sind nur wenige Haarrisse auszumachen, die auf erlebte Spannungen hinweisen.

Freitag, 11. Juli 2014

Jeder Spaziergang beschenkt uns auf irgendeine Weise

Primo und ich erlebten die Kindheit im Industriequartier in Zürich 5, heute unter dem Namen Zürich-West bekannt. Viele Bezüge zur Natur konnte uns dieser Stadtteil nicht vermitteln. Darum schätzen wir heute unser Zuhause in Zürich-Altstetten auch darum, weil es am Stadtrand liegt und wir Schlierenberg und seinen Wald innert einer halben Stunde erreichen.
 
Ich habe schon manches Erlebnis aus diesem Gebiet beschrieben, und immer wieder gibt es neue und einmalige.
 
An einem der bisher sonnigsten Tage spazierten wir nach dem Nachtessen noch nach Schlierenberg. Dorthin, wo der Himmel offen und die weite Sicht ins Limmattal garantiert sind.
Es war die letzte Stunde vor dem Sonnenuntergang und wir hofften, von seinem Abschiedslicht noch etwas zu erhaschen. Als wir auf dem grossen Rastplatz eintrafen, sahen wir vor allem Wolken. Einem Gebirgszug ähnlich. Wie eine echte Felswand stand dieser vor der Sonne. Die dicken Wolken liessen kein Licht durch. Und vor allem bewegten sie sich nicht. Das Licht aber fand seinen Weg den rückseitigen Wänden hoch und strahlte deren Silhouetten an. Ihrer Kontur nach entstanden Lichterketten, wie wir sie von Festzelten kennen. Aber tausendmal schöner, eindrücklicher und berührender. Mit einem Zauber, den nur das natürliche Licht spenden kann.
 
Nach und nach färbte sich der Himmel tief rot. Immer stärker. Wir wunderten uns, dass es am Fuss des Wolkengebirgszugs ein Seitental simulierte, und wir scherzten, dass die untergehende Sonne bald am Fuss dieser Wolkenwand hervortreten werde. Und dann staunten wir, dass dies geschah.
 
Glutrot und von einem goldenen Schein umgeben, kam sie für den Abschied hervor und versank in wenigen Minuten hinter der Erde. Ihre Strahlkraft war enorm, beinahe beängstigend. Die Augen meldeten jedenfalls, wir sollten sie schonen.
 
Dann war das Schauspiel zu Ende, und wir waren uns einig, ein solches noch nie erlebt zu haben.
 
Und jetzt, beim Schreiben, erinnerte ich mich plötzlich an einen Text von Johannes Itten (18881967), den Schweizer Maler, Kunsttheoretiker und Kunstpädagogen. Seine Aussage vom uranfänglichen Licht begleitet mich bis heute:
 
Farben sind Ur-Ideen, Kinder des uranfänglichen farblosen Lichtes und seines Gegenpartes, der farblosen Dunkelheit.
 
Das Licht, dieses Ur-Phänomen der Welt, offenbart uns in den Farben den Geist und die lebendige Seele dieser Welt.

Dienstag, 17. Juni 2014

Kleine Sommergeschichten mit verschiedenen Akteuren

Im Bus
Jetzt gerade erinnere ich mich an eine Busfahrt vom Sommer 2013. Da sass eine junge Frau, vielleicht aus Skandinavien, schräg vor mir. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Leinenkleid. Ich bemerkte, dass ihre Armkugeln tätowiert waren. Um ihr Kind kümmerte sie sich keinen Augenblick. Sie arbeitete während der langen Fahrt konzentriert auf dem E-Book, derweil die Kleine sich für alles interessierte, was es zu sehen oder zu hören gab. Es war ein ausserordentlich zufriedenes Kind. Es blickte aus dem Kinderwagen Richtung Tür und konnte über die vielen Stationen Kinder und Erwachsene beobachten, wie sie aus- oder einstiegen. Noch bevor ich am Ziel war, schob die Frau ihr Arbeitsgerät plötzlich ins Etui, löste die Bremse am Kinderwagen, machte einige Schritte Richtung Tür und stand noch einen Augenblick still, bis der Bus anhielt. Da sah ich auf dem entblössten Rücken tätowierte Engelsflügel.

Zu Fuss im Park
Am Pfingstmontag fuhren Primo und ich erstmals nach Schönenwerd SO, um den Bally-Park endlich kennenzulernen. Auf Bahnreisen ab Aarau wurden wir schon öfters auf ihn aufmerksam. Zudem hatte Walter Hess schon am 25.8.2006 in einem Blog ausführlich über diesen Ort berichtet. Wir wussten also, dass wir eine Schönheit vorfinden werden. Und waren dann von ihr sofort eingenommen. Dieser Ort darf Oase sein. Bäume, Teiche, Wege sind zu einem Gesamtkunstwerk im englischen Stil gestaltet, ansprechend auch die miniaturisierten Pfahlbauten. Ihnen gegenüber verweilten wir lange, schauten, wie das dümpelnde Wasser Moosfetzen langsam, sehr langsam, mit sich zog. Eine Stimmung, wie sie von Europäern vielleicht in einem buddhistischen Kloster erlebt wird. Wahrscheinlich befanden wir uns ebenfalls auf Alphawellen.
 
Der sehr heisse Tag oder vielleicht das verlängerte Pfingstwochenende mögen weitere Besucher ferngehalten haben. Wir fühlten uns alleine, auch wenn hie und da andere vorüber gingen.
 
Und dann entdeckten wir plötzlich einen Hinweis auf eine besondere Geschichte. Auf einer der Informationstafeln im Park lasen wir von einer Marienstatue, die zur Zeit der Reformation 1512, nach dem Bildersturm in Bern, in die Aare geworfen worden sei. In Schönenwerd dann ans Land gezogen. Und von den Anwohnern willkommen geheissen. Dieses Ereignis soll die Marienwallfahrt nach Schönenwerd begründet haben.

Auch in Zürich wurden zur selben Zeit religiöse Bilder ins Wasser (in die Limmat) geworfen. Auch aus Wut der Religion gegenüber. Und nach dem heute nicht mehr gültigen Sprichwort: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Wir fanden anschliessend den Weg zur Christkatholischen Kirche, in der die Marienstatue immer noch beheimatet sei. Sie war aber geschlossen. Immerhin durften der Kreuzgang besucht und die Rosenpracht bewundert werden.

Auf einer Bank im aargauischen Bahnhof Baden
Wir sassen auf einer Bank im Bereich Gleis 1. Mit dem Rücken zum alten, immer noch gepflegten und gehegten Bahnhofgebäude, das Vergangenheit und Gegenwart respektvoll verbindet. Wir warteten auf die S-Bahn nach Zürich-Altstetten. An einem solchen Ort zu sitzen und die Reisenden zu beobachten, das ist in Zürich nicht mehr möglich. Vergleichbare Sitzgelegenheiten sind verschwunden. Hier schauten wir zu, wie Reisende ankamen oder wegfuhren. Wir beobachteten Kinder, die aus dem Pfingstlager heimkehrten. Müde und offensichtlich erfüllt von allerlei Abenteuern.
 
Dann, noch bevor der Schnellzug nach Zürich eintraf, bemerkte ich einen Mann, den ich kennen musste. ???... Ah ja, Hermann Hesse... ein Doppelgänger. Erstaunlich die Übereinstimmung mit Fotos aus meinem inneren Archiv. Der breitrandige Hut, die lockere Baumwollhose, die Brille, der Blick, die Haltung, die hohe Sensibilität ausdrückte... unglaublich nahe dem Original. Sein Begleiter, vermutlich sein Enkel. Ein Bursche im Sekundarschulalter. Er war noch mit seinem Rollbrett beschäftigt. Verpackte es, während sein „Grossvater“ seine Sporttasche hütete. Dann war alles getan und gesagt. Die beiden warteten. Stillschweigend. So war es doch früher, als man nicht schon vor dem Bahnhof im Auto verabschiedet worden war.
 
Dann traf der Zug ein. Der Bursche nahm sein Gepäck, schritt, ohne speziell adiö zu sagen, nahe an den Perronrand. Der Grossvater folgte ihm. Erstaunlich: Dieselbe Haltung der beiden. Nicht streng aufrecht, den Kopf voran. Der junge Mann stieg ein, fand sofort einen Fensterplatz. Da erhob er kurz seine Hand. Ebenso tat es der Grossvater. Als der Zug dann losfuhr, winkten sie einander, solange sie sich sehen konnten. Ein Männerabschied, dachte ich dazu.

Freitag, 23. Mai 2014

Freundschaftsbuch: Die aktuelle Form der Poesiealben

Die Poesiealben sind abgelöst worden. Kinder von heute besitzen ein Freundschaftsbuch, in das sich eintragen darf, wer zu den Freunden gehört. Es verlangt keine Kreativität. Es sind nur Fragen zu beantworten.
 
Die Kinder beschreiben sich selber, geben Auskunft über Name, Geburtstag, Telefon-Nummer, E-Mail-Adresse und das Sternzeichen. Und sie kleben eine Foto von sich ins entsprechende Feld. Es wird auch nach den Lieblingen gefragt: Lieblings-Farbe, -Tiere, -Beruf, -Buch, -Film, -Essen und -Musik.
 
Ganz anders zu meiner Schulzeit. Das Poesiealbum besass nur leere Seiten. Den Inhalt dieses Buches gestalteten jene Auserwählten, die um einen Eintrag gebeten worden waren.
 
Solche Bücher waren kostbar, meist wertvoll gebunden. Eltern, Geschwister, Mitschüler und enge Freundinnen verewigten sich darin. Oft baten wir auch Lehrer oder Lehrerinnen um ein persönliches Wort und Bild.
 
Zu Weihnachten 1948 schenkten mir meine Eltern ein solches Poesiealbum. Es ist gut erhalten. Alle, die es benützten, nahmen meinen Wunsch ernst:
 
Liebe Kinder gross und klein, haltet mir das Album rein; denn es ist mir nicht gelegen, wenn ich muss das Album fegen.
 
Was mich heute freut: Dass sich die Handschrift meines Vaters in diesem Buch erhalten hat. Mir gefällt sein Text gut, weil er seine Einstellung dem Leben gegenüber ausspricht. Solche Albumtexte, wie auch viele Sprichwörter, waren allgemein bekannt. Sie unterstrichen manchen Rat, manche Einsicht.
 
Vater schrieb für mich: 
Zur Erinnerung
Nütze die Tage, sie fliehen so schnell.
Liebe die Jugend, sie glänzet so hell.
Ehre die Eltern, befolg ihren Rat.
Und tue Gutes durch Wort und durch Tat.
Dann hast Du Frieden und fröhlichen Sinn.
Und wandelst glücklich durch's Erdental hin. 
Das dazu gehörige Bild ist ein schwarzer Scherenschnitt. Ein Hund springt 2 Kindern entgegen. Aus allen Gesten lese ich Freude. Und ich wundere mich, dass ich den Hund nicht bellen höre. Die Kinder besänftigen ihn mit liebevollen Gesten.
Auch der Scherenschnitt zum Text von meiner Mutter gefällt mir. Da schreitet ein Mädchen, in Gedanken versunken, durchs Gras. Vögel beobachten es. Auch auf diesem Bild ist der Gesichtsausdruck vom Profil bestimmt. Das sind Kunstwerke. Ich habe sie wahrscheinlich noch nie so ansprechend empfunden. Und heute sehe ich mich in diesem Bild.
Was mir in meinem Album auf Schritt und Tritt begegnet, sind Texte, die ein Kind gar nicht verstehen konnte. Von Lebensfreude sprach eigentlich nur mein Vater, als er von der glänzenden Jugendzeit schrieb.
 
Mein Götti (Pate) wählte einen Text, dem die positive Kraft, die in Kindern steckt, nicht angesprochen wird. Das Gedicht enthält 4 dunkle Strophen. Die erste lautet

Mache Dich auf viele Leiden,
Wenig Freuden Dich gefasst;
Du erträgst kein Kleid von Seiden,
Bis du Zwilch getragen hast.
 
Ganz anders schrieb seine Frau:
 
Sieh fröhlich in die Welt hinein,
ist's Dir auch manchmal trüb zu Mut,
ein bisschen Herzenssonnenschein
tut so viel Menschenblumen gut.
 
Einträge wie die nachfolgenden konnten wir herunter leiern. In jedem Album begegneten wir ihnen. Z. B.:
 
So schön wie eine Blume blüht. So blühe auch Dein Glück. Und wenn Du eine Blume siehst, so denk an mich zurück.
 
Oder:
 
Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab. Und weiche keinen Finger breit von Gotteswegen ab.
 
Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu anderer Glück, denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück.
 
Sprichworte und Sprüche sollten uns Einsichten schenken. Es waren spielerische Erläuterungen, eine Art Geländer auf dem Lebensweg. In kurzer Form verfasst, damit sie im Gedächtnis haften blieben.
 
Einmalig aber der Eintrag von Grosstante Bertha. Herausragend die Illustration eines Grafikers, der für ihren Sohn arbeitete. Sie bat ihn, die Bildseite ihres Eintrags auszuschmücken. Im Text wird von Rosen gesprochen. Darum umkränzte er ein kleines Mutter-Kind-Bild, das Mittelpunkt sein musste, mit Rosen. Eine Tuschzeichnung auf farbigem Aquarell-Hintergrund. – Mein Stolz!
 
Aussergewöhnlich auch der Eintrag meiner Mitschülerin Monique Schiele. Wir sassen in der Sekundarschule ein Jahr lang in der gleichen Klasse. In vielen Belangen war sie der Zeit und auch uns Mitschülerinnen voraus. Sie verliess schon damals die Normen, schrieb ganz locker in mein Album „Der lieben Häse zur Erinnerung an Deine Mitschülerin M. Sch." Häse nennen mich meine Mitschülerinnen immer noch. Häse = milder Klang meines Familiennamens Hess. Ungewöhnlich auch ihre virtuose Zeichnung von Walt Disneys Dagobert Duck. Sie hätte ebenso gut den schweizerischen Globi in mein Album zeichnen können, denn ihr Vater, damals Werbechef im Warenhaus Globus, inszenierte 1932 diese bis heute beliebte Kinderbuchfigur.
 
Und hier kann ich wieder zu meiner Enkelin Nora zurückkehren. Ins Freundschaftsbuch der Freundin schrieb sie in die Rubrik „Lieblingsbuch" Globi. Kommen die Enkelinnen zu uns zu Besuch, grüssen sie, ziehen die Schuhe aus und marschieren ohne Umwege zum Schrank, wo alle Globi-Bücher versorgt sind. Globi beflügelt immer noch beide Enkelinnen und auch den Grossvater.
 
An Irmas Sprichwort, das ihr bis heute wichtig ist, erinnere ich mich manchmal, wenn ich die Kopfkissen schüttle:
 
Kein besseres Kissen in Freude und Schmerz als gutes Gewissen und ehrliches Herz.
 
Primo erinnert sich an die Lehrerin in der 4. Primarklasse, als diese dazu aufrief, Kalendersprüche in die Schule zu bringen. Die meisten Eltern waren ratlos. Es waren harte Jahre, gleich nach dem 2. Weltkrieg und die Bedürfnisse eher nur materieller Art. Die meisten Familien aus dem Arbeiterquartier in Zürich, im Kreis 5, besassen weder Bücher noch gedruckte Kalendersprüche.
 
Und jetzt verrate ich noch, was Nora in die Rubrik „Lieblingsberuf" schrieb:
Ich wünsche mir, mich zu sein.
 
Ihre Antwort zur Frage „Was ich mag"
Lachen, Frieden, Spielen.
 
"Was ich nicht so mag"
Krank sein, streiten
 
"Was ich mir von der Zukunft wünsche":
Liebsein mit andern.

Zum Erstaunen, auch ihrer Mama, hat sich herausgestellt, dass die Antworten der bald 8-Jährigen nicht nachgeahmt sind. Kinder von heute dürfen sagen, was sie wissen und denken. Ich bin immer wieder begeistert von ihren Antworten, auch wenn sie nicht von meinen Enkelinnen stammen.

Sonntag, 27. April 2014

Desenzano bis Bergamo und die Motive unserer Reise

Über die Grösse des Wochenmarktes in Desenzano (Italien, am Gardasee) staunten wir. Wir schlenderten 1 ½ Stunden den Auslagen entlang, ohne das Ende des Markts zu erreichen. 2 Arten von Souvenirs habe ich mitgenommen. Ab einem Wühltisch eine Strickjacke und eine Bluse. Gesamtpreis: 5 Euro. Da war mehr Spass dabei als vernünftiger Einkauf. Und doch sind es Stücke, die ich tragen werde.
 
Das andere, mich weit mehr beeindruckende Souvenir ist eine Foto von einem Denkmal, das an den Krieg erinnert. An der Seepromenade, auf der Achse der Kirche platziert. 2 Frauen umarmen sich. Mitfühlend sind ihre Gebärden. Ihnen gegenüber 2 Männer mit einem starren Gürtel aneinander gekettet, unfrei, den militärischen Befehlen ausgeliefert und darin gefangen. Beide Paare stehen auf einer Art Schaukel, die im Kunstwerk aber fix dasteht. Als ich es sah, dachte ich: Wie Frauen auf den Krieg reagieren und wie Männer reagieren müssen.

Ich suchte nach weiteren Angaben zu diesem Denkmal, konnte sie nicht finden. Ich stiess aber im Internet auf den Ort Solferino, wo vor 155 Jahren jene erbitterte Schlacht stattfand, die den Schweizer Henri Dunant bewegte, das Rote Kreuz (heute zum Internationalen Rot-Kreuz-Hilfswerk geworden) zu erschaffen. Ohne es zu wissen, waren wir diesem geschichtsträchtigen Ort im Umfeld von Peschiera sehr nahe gekommen. Solche nicht gesuchte Informationen zu finden, das sind Geschenke.
 
Nach dem Marktbesuch wurden wir nach Bergamo geführt. Ein Freund hatte uns schon in Zürich einen dicken Reiseführer ausgeliehen, damit wir uns auf die darin aufgelistete Geschichte dieses Orts vorbereiten konnten. Ganz speziell wies er auf das in der Basilika Santa Maria Maggiore anzutreffende Intarsienwerk von Lorenzo Lotto hin.
 
Bergamo steht erhöht über dem Tal. Die Altstadt wird mit der Drahtseilbahn erreicht. Als wir dort ankamen und durch die engen Gassen schlenderten, sagte Primo plötzlich: Fühlst du dich hier auch sehr klein? Ja, bei so hohen Gebäudemauern. Da gingen wir gerade am Musikinstitut und dem Donizetti-Museum vorbei. Der Komponist Gaetano Donizetti wurde 1797 hier geboren.
 
Auch in dieser Stadt stoppte uns wieder die Mittagssiesta. Museen und Kirchen waren bereits geschlossen. Sofortigen Zugang fanden wir aber in der Curia. Und dort überraschte uns der Versammlungsraum, die Aula Picta. Ihre Schönheit verdankt sie der schwungvollen Bogenstütze, die das hölzerne Dach trägt. Und die Fresken aus dem 13. Jahrhundert füllen den Ort mit Geschichten. Mich hat ein Seelen wägender Engel besonders angesprochen.
 
Dieser Raum muss vor nicht langer Zeit achtsam renoviert worden sein. Es ist eine Frische zu verspüren, wie man sie selten findet.
 
Bis die Pforte der Basilika Santa Maria Maggiore wieder geöffnet wurde, schlenderten wir durch die Gassen, ohne wie andere Mitreisende auf der Piazza Kaffee zu trinken. Wir wollten auch die Aussicht aus Bergamo in die weite Landschaft erleben. Obwohl dieser Ort für uns den Eindruck erweckte, er sei eine einzige, nicht verletzbare Festung, zeigt ihre Geschichte auch schicksalshafte Züge. Bei unserem Besuch aber fühlten wir uns an einem sicheren Ort. In einer Welt zu Besuch, die ihre Kultur, ihre Schätze und Traditionen mit berechtigtem Stolz hütet. Das architektonische Zusammenspiel von Baudenkmälern, die Plätze schafften, überraschte uns.
 
14 Uhr. Wir durften in die Basilika eintreten und Lorenzo Lottos Intarsien finden. Sie zieren das Chorgestühl. Zu diesem ist der Zutritt aber verboten. Für Kunstinteressierte werden einige plakatgrosse fotografische Reproduktionen gezeigt.
 
Diese handwerklichen Arbeiten sind so vollendet geschaffen, dass sie Jahrhunderte überdauerten. Sie müssen auch entsprechend gepflegt worden sein, so dass sie heute noch intakt sind.
 
Lorenzo Lotto malte die Entwürfe. Ein genialer Möbelschreiner setzte sie in Bilder aus Holz um. Aussergewöhnlich ist, dass sie nicht nur eine Szene darstellen. Lotto versammelte verschiedene Kapitel einer Geschichte in einem einzigen Bild.
 
Dieser Bilderzyklus entstand 1471‒1500 in der Zeit, als die Reformation auch Venedig erfasste und sich dort Menschen aller sozialen Schichten darum bemühten, den direkten Zugang zur Bibel zu finden. Zur selben Zeit, als in Zürich religiöse Bilder vernichtet wurden, wurde Lotto beauftragt, Bildvorlagen für die biblische Geschichte im neuen Verständnis der Reformation darzustellen, weil die breite Bevölkerung Analphabeten waren.
 
Verschiedenfarbige Hölzer lieferten das Material für die Bildgestaltung. Der ausführende Möbelschreiner muss aber auch Chemikalien benützt haben, um sie um Nuancen zu verändern. Er wird mit Salzsäure, Kupfervitriol, Arsen experimentiert haben. Er musste auch Leime herstellen. Die sich entwickelnden giftigen Dämpfe griffen seine Gesundheit an. Er sei kurze Zeit nach Vollendung seines Werkes an einer Vergiftung gestorben.
 
Nach diesem Besuch schlenderten wir nochmals durch die Gassen und entdeckten eine alte, vornehme Bäckerei-Konditorei. Wir konnten nicht widerstehen, kauften Gebäcke, damit wir den Laden von innen sehen konnten. Sehr gepflegt. Und die Frau an der Kasse, vielleicht die Ladenbesitzerin, lobte mich, dass ich den Preis in Münzen richtig gezählt hatte. Bene! rief sie freundlich, molto bene! (Gut, sehr gut.)
 
Im Rucksack lagen bereits ein paar Schätze. Eine Colomba artiginale für unser Osterfest in Zürich, ebenso die Schrift Bilder der Bibel von Lorenzo Lotto aus dem Verlag Ferrri Editrice und auch ein beachtlicher Stadtführer zur Geschichte und Kunst in Bergamo. Die Aula Picta ist darin abgebildet. Ihretwegen haben wir das Buch gekauft.
 
Die Heimreise nach Zürich verlief zügig. Mit vorgeschriebenen Zwischenhalten und Stärkung. Bessere Bedingungen konnten wir uns nicht vorstellen. Frühlingshaftes Wetter, wenig Strassenverkehr, zufriedene Stimmung unter den Reisenden. Und eine beeindruckende Fahrt über den San-Bernardino-Pass.
 
Beim Abschied in St. Gallen dankte ich dem Chauffeur für seine einmalig sichere Fahrweise. Er verwies auf 2 Jahre Postautodienst im alpinen Bereich. Da lerne man subtil chauffieren.
 
Ich komme nochmals auf das Motiv unserer Reise zurück, habe es im Blog mit dem Thema Reisefüdli erwähnt. Ich wollte nach Peschiera kommen, möglichst nahe an diesen Ort, wo Rico, die Hauptperson aus der Geschichte Heimatlos, seinen Geburtsort wiederfand. An jenem Reisetag, als wir den Gardasee umrundeten, kamen wir auf der Heimfahrt – für mich – unerwartet durch Peschiera. Der Bus überquerte gerade den Fluss Minico, als uns der Chauffeur über den Ort informierte. Grosse Überraschung! Für einen Augenblick schien die Sonne strahlender. Ich war in Johanna Spyris Geschichte angekommen, sah den Hafen, den Ausfluss und dahinter den See.
 
Das 2. Thema unserer Reise: Den Lebensraum von Primos Urgrosseltern kennen lernen. Sie stammen aus der Provinz Trentino. Sie haben eine besondere Geschichte, die dokumentiert ist.
 
Der Urgrossvater sei schon als Bub mehrmals in der Schweiz gewesen. Er habe seinen Vater, einen Holzfäller, begleitet. Später sei der Jüngling in die Schweiz gekommen, um beim Bau des Gotthardtunnels mitzuarbeiten. Baubeginn 1872.
 
Wieder später, so die Legende, die mir eine seiner Enkelinnen erzählte, habe dieser Junge mit seinem Vater einen Bilderhandel aufgezogen. Die beiden wanderten als Hausierer Richtung Schweiz und boten überall Kunstdrucke an. Ihr Ziel war, später dorthin auszuwandern, wo sie die Bilder am teuersten verkaufen konnten. Diesen Ort fanden sie in Landquart (Kanton Graubünden, Schweiz). Da bauten sie ihr Geschäft auf. Eine Art Warenhaus. Bei ihm deckten sich die Hausierer mit geeigneten Waren ein. Landquart war ein guter Ausgangsort für sie. Der Ort gilt als Tor zu 150 Alpentälern.


Seine Frau suchte er noch im Südtirol, ebenso heuerte er später Mitarbeitende für seinen Betrieb aus dem Trentino an. Im Buch Streifzug in Wort und Bild durch die Geschichte von Igis-Landquart, herausgegeben 1996 von Reto Hartmann, CH-7206 Igis, ist er abgebildet. Es wird von ihm berichtet: Michaele Manega (1853-1929) kam im Schulbubenalter als Hausierer nach Landquart; er baute als erster Kaufmann am Ort seine Geschäftshäuser am Marktplatz. Seine Gattin gebar ihm 16 Kinder.
 
Unsere Reise hat uns über die immensen Strecken, die von den Vorfahren begangen worden sind, aufgeklärt. Ob sie immer nur zu Fuss, mit einem Pferd und Wagen oder ein Stück weit in der Postkutsche reisten? Wir wissen es nicht. Es müssen mühsame Wege gewesen sein, vielfach über die Berge. In Johanna Spyris Geschichte ist eine solche Reise mitzuerleben.

Montag, 21. April 2014

Rundfahrt um den Gardasee. Wanderung nach Salò (I)


Die Fahrt auf der in Fels gehauenen Gardesana Occidentale, der legendären Uferstrasse am Gardasee, ist ein besonderes Ereignis. Sie trägt ehrenvolle Titel. Man spricht von Ingenieurkunst, von einem Meisterwerk der Strassenkunst und bezeichnet sie als eine der Traumstrassen Europas. Sie führt am Westufer des Gardasees von Salò nach Riva.
 
Bauzeit: 1927 bis 1932. Auf dieser in Felsen gehauenen Uferstrasse mit angeblich 74 Tunnels begann unsere Rundreise um den Gardasee. Die Tunnels habe ich nicht gezählt, aber bewundert. Es war eine Balkonfahrt. Eindrücklich und anspruchsvoll für den Car-Chauffeur. Erstaunlich, dass Busse auf dieser schmalen Strasse zugelassen werden. Traum auch für Motorradfahrer und Radrennfahrer. Man spricht von romantischer Ursprünglichkeit.
 
Mich begeisterten auch überraschende Ausblicke aus den Tunnelfenstern. Nur kurze Sicht auf den See. Immer wieder aus anderem Blickwinkel heraus. Manchmal etwas länger. Rechtzeitig vom Fahrer informiert, konnten wir den Ort sehen, wo sich Surfer und Segler tummeln. Es gebe bestimmte Orte und Winde, die für sie ideal seien. Das aufblitzende Bild zeigte dann, wie sich die Sportler dem Wind und Wasser hingeben. Ekstatisch ihr Spiel. Von oben herab nahm ich diese Menschen wie kleine, silberne Delphine wahr.
 
Bergseitig schenkten wir vornehmen Villen und prachtvollen Gärten bewundernde Blicke. Hier glänzten Büsche und Bäume, wie wenn ihre Blätter lackiert worden wären. Jeden Tag bezauberte uns das Licht dieser Region, die allem ihren Glanz aufträgt.
 
Kaffeehalt in Riva, am Ende der urtümlichen Strasse. Ohne Kaffee. Der Ort schlief noch, als wir am Sonntagmorgen vor 10 Uhr hier eintrafen. Gasthäuser waren noch geschlossen. Wenige Menschen unterwegs. Spaziergang am See, im Park. Das Geländer, das den See hier abgrenzt, kam mir seltsam bekannt vor. Sein Bild weckte in mir Hinweise auf den Gardasee, als Reisen erst möglich wurde. Es ist lange her. Sehr lange. Und doch wusste ich sofort, dass ich dieses Bild kenne. Es waren die steinernen Balustraden, an die ich mich erinnerte.


Dann Weiterreise dem Ostufer entlang. Hier begrenzen keine Felsen den Blick auf den See. Manche Partie verglich ich mit dem Zugersee in der Schweiz. Längerer Halt dann in Lazise. Gastfreundlich empfingen uns Stadttor, Marktplatz, Gasthäuser und Kirchen. Hier gingen alle Reisenden ihre eigenen Wege. Primo entdeckte eine Bäckerei, hätte dort gerne eingekauft. Geschlossen. Leider schon Siestazeit. Diese überrascht Touristen in Italien immer wieder. Läden, Museen, Kirchen sind mindestens von 12 bis 14 Uhr geschlossen. Auch im Sommer? Ich weiss es nicht. Primo entdeckte in der gleichen Gasse eine imposante, detailreiche Seekarte. So gross wie ein halbes Leintuch. Auf ihr fanden wir später alle Informationen, die wir uns wünschten. Der Ladenbesitzer bediente uns noch, dann schloss auch er subito sein Geschäft.
Auf dem Marktplatz zeigte ein Künstler seine moderne Ikonenmalerei. Ein Buchhändler präsentierte edle Bücher aus seinem Antiquariat. Ein Kleidergeschäft bot Strickwaren an. Mich zog es zur baufälligen Kirche Sankt Nikolaus. Ich las ihre Geschichte. Sie wurde im Jahr 1100 direkt am Hafen von der Genossenschaft der ursprünglichen Einwohner errichtet. (Corporazione degli Originari). Was für eine schöne, eben originale Bezeichnung. Von Menschen, die mit dem Fischfang, dem Seehandel und der Seefahrt beschäftigt waren. Trotz Altersbeschwerden, an denen dieses Bauwerk leidet, strahlen im Innern die liebevoll gereinigten Fresken immer noch aus.
 
Die renovierte Zollstation direkt am Hafen, Dogana Venata di Lazise, ist heute ein vornehmes Haus für Kongresse, verschiedene Anlässe und Feste. Die Türen standen offen. Wir hörten Gesänge. Es wurde eine Feier eröffnet. Eine Weile waren wir dabei.
 
Mittagessen in einer Trattoria, neben einer italienischen Grossfamilie. Bestimmende Autorität war der Grossvater. Der Enkel, vielleicht 6-jährig, sass nahe bei ihm, schaute zu ihm auf, eiferte ihm nach. Das muss klassische italienische Erziehung sein.
 
Auf dem Rückweg wurden wir am grössten italienischen Vergnügungspark Gardaland entlang geführt. Er war noch nicht aus dem Winterschlaf erwacht. Kein Problem für uns. Nicht unsere Wellenlänge.
 
Am frühen Abend ins Hotel zurückgekehrt, schwärmte ich mit Primo nochmals aus. Wir stiegen den Hügel empor, landeten in einem gepflegten, traditionellen Dorf. Wir fühlten uns ins schweizerische Tessin versetzt. Die Häuser allerdings grosszügiger proportioniert. In Italien ist eigentlich immer alles grösser. Vor einer Scheune standen 2 ältere Frauen miteinander im Gespräch. Als sie uns entdeckten, winkten sie uns herbei. Wir folgten der Einladung. Mit wenigen italienischen Worten vertraut, ergab sich ein herzliches Gespräch. Wir erfuhren, dass sie hier im Altersheim leben. Wir erzählten, woher wir kamen. Es war eine Begegnung, wie wenn wir Verwandte besucht hätten. Die Frauen bedauerten, dass sie uns ihre Kirche nicht zeigen konnten. Auch hier werden Kirchen geplündert, müssen darum geschlossen bleiben. Sie werden nur noch für Gottesdienste geöffnet.
 
Am freien Tag, der dann folgte, wanderten Primo und ich von Porto Portese nach Salò, besuchten die sympathische Stadt am schräg gegenüberliegenden Ufer. Das Wetter freundlich, der See leicht träumerisch. Die Luft mit Nebel getränkt. Die Sicht unklar. Sofern wir im richtigen Winkel daher kamen, sahen wir den Monte Baldo (höchster Punkt: 2218 Meter über Meer) wie eine Himmelserscheinung. Er trug noch Schnee wie der japanische Fujiyama. Der Reiseführer wies immer auf ihn hin, wenn er sichtbar wurde. Wie ein Geheimnis. Ein überirdischer Berg, der scheinbar ohne Bodenhaftung am Himmel hing.
 
Auf dieser Wanderung kamen wir am Friedhof unseres Ferienortes vorbei. Ein monumentales Gelände. Aus weissem Marmor an den Hügel gebaut. Mit hunderten oder vielleicht tausend Gräbern. Alle Verstorbenen werden hier mit einer Foto verewigt. Zypressen stehen am Ufer Spalier. Einen halben Kilometer lang. Sie markieren den Ort der Toten. Sind von weit her sichtbar und auf ihre Art auch Wegweiser.
 
In Salò entdeckten wir als erstes eine reife Frucht an einem Orangenbaum. In einer eher dunklen Gasse fanden wir blühende Kamelien. In vielen Töpfen standen auch sie Spalier. 2 abgefallene Blüten nahm ich mit nach Hause.
 
Als wir ins Schaufenster schauten, wurde unser Interesse an echten Lederartikeln bemerkt. Die Geschäftsführerin sprach uns an, freute sich mit mir deutsch zu sprechen und verstanden zu werden. Sie habe sich diese Sprache selber beigebracht. Zur selben Zeit ersetzte Primo im Laden sein lädiertes Portemonnaie. Zu einem passenden Zeitpunkt. Am Tag danach begann für ihn ein neues Lebensjahr.
 
Zur Mittagszeit betraten wir ein kleines Restaurant. Aus der Küche rief der Chef: Wollt ihr nicht im Freien essen? Wir hatten die Tische auf der andern Strassenseite noch nicht gesehen. Es war ein gutes Angebot, im Freien zu speisen und sich vom Leben um uns unterhalten zu lassen.

Später ergänzte noch ein Spaziergang an der Seepromenade das Feriengefühl. Vor dem heutigen Rathaus, dem Palazzo della Podestà blieb ich lange stehen. Dieser Palast aus dem 14. Jahrhundert wurde nach meinem Empfinden nicht mit schnurgerader Front gebaut, sondern dem Seeufer leicht nach innen gebogen angepasst. Sie wirkte lieblich. Die hohen Palmen vor den Arkaden mögen die Hauptdarsteller ihres Charmes sein. Es verwundert mich, dass dieses Gebäude in Reiseführern keine herausragende Rolle spielt.
 
Wir rechneten für die Rückkehr auch wieder mit einer langen Wanderung. Da kamen 2 Personen auf uns zu, die zur Reisegruppe gehörten. Sie waren ebenfalls hierher marschiert. Sie wussten bereits, dass demnächst ein Schiff eintreffe, das den See überquere und in Porto Portese anlege. Wir fuhren mit. Glück gehabt!