Mittwoch, 23. Dezember 2009

Anneli, die Glarnerin. Eine Erinnerung an unsere Nachbarin

Jedes Jahr, wenn die Tage kürzer werden und die Festtage bevorstehen, erinnern wir uns an die einstige Nachbarin Anneli. Sie lebt schon lange nicht mehr. Sie stammte aus dem Glarnerland, war die Tochter eines Bergbauern. Eine grazile Person, liebenswürdig, aber eher distanziert. Unsere Gespräche über den Gartenzaun waren nie weltbewegend. Um Wichtiges zu besprechen, war ihr Mann zuständig. Er, ein Breitschultriger, sie, eine Feingliedrige, ein sich ergänzendes Paar. So lange er lebte, sangen die beiden in der Silvesternacht ein Jodellied. Im Garten stehend, verabschiedeten sie das alte und begrüssten das neue Jahr.
 
Anneli sprach nicht vom Silvester. Sie nannte diesen letzten Tag im Jahr „Altjahrabig“. Es tönte, wie wenn hier von etwas Arabischem die Rede sei. Dieser Ausdruck ist geblieben. Darum denken wir jetzt wieder an Anneli und sprechen von ihrem Altjahrabig-Niidle. (Niidle=Rahm).
 
So wird er hergestellt: Rahm steif schlagen. Getrocknete Weinbeeren und geraffelte Schokolade darunterziehen.
 
Wenn keine Kinder am Tisch sind, serviere ich dieses Dessert mit Weinbeeren, die ich vorher eine Stunde in Kirschwasser eingelegt habe.
 
Dieser Festschmaus war nur dem letzten Tag im Jahr vorbehalten. Dass er ersehnt wurde, kann ich mir gut vorstellen.
 
Bevor Anneli in ein Altersheim übersiedelte, erlebten wir mit ihr eine spannungsvolle Zeit. Sie war vergesslich geworden, ging aus dem Haus und fand manchmal den Heimweg nicht mehr. Ich suchte sie oft, hatte den Söhnen versprochen, auf sie aufzupassen. Sie hatte einen grossen Freiheitsdrang und verstand es, ganz leise zu entwischen.
 
Einmal sass sie an einem ruhigen Samstagnachmittag mehr als eine Stunde auf der Bank bei der Tramstation Bernoulli und hoffte, dass jemand käme, sie anspreche und heimbegleite. Sie war aus der Stadt zurückgekehrt und wusste nicht mehr, wo sie zu Hause sei. Ein Tramchauffeur bemerkte, dass sie immer noch auf der Bank sass, nachdem er seine Route bis zur Endstation Tiefenbrunnen und hieher zurück gefahren war. Er alarmierte die Zentrale der Verkehrsbetriebe. Es wurden 2 Männer aufgeboten, die sie suchen und zu uns Nachbarn heimbegleiten mussten. Das mit Namen und Adresse versehene Tram-Abonnement half ihnen, ihren Wohnort zu finden.
 
Die Söhne hätten sie schon längst gerne in der Obhut eines guten Altersheims gegeben, doch sie wehrte sich vehement. Die Schwierigkeiten aber wuchsen, und sie ahnte, dass sie letztendlich ihr Zuhause verlieren werde.
 
Eines Tages erzählte sie mir einen Traum: „S’ hät mer traumet“ (Es hat mir geträumt), ich sei in einem anderen Land. „Ich ha tänggt“ Ich habe gedacht, wo bin ich auch?
 
Ich fragte sie, ob es dort schön gewesen sei? Sie wusste es nicht. Ob es dort auch andere Leute gegeben habe? Ja, aber etwas habe gefehlt. „Es isch nüd dehai gsii“ (Es war nicht daheim).
 
So habe ich es notiert und dazu geschrieben: Wenn ich Annelis Hände reibe, um sie zu wärmen, fühle ich ihr Vertrauen in mich. Ich fühle, wie sie an meiner Hand geht, ein Reststück ihres Lebens ertastet. Wie heilsam das ist, dieses Begleiten, die Zuwendung beiderseits. Und ich weiss, dass ich doch so vieles nicht tun kann, was sie brauchte.
 
Annelis Lieblingscafé befand sich am Limmatplatz in Zürich. Wenn ich sie suchen musste, wurde ich oft dort fündig. Sie genoss ihr „Käffeli“" (eine Tasse Kaffee) und Schwarzwäldertorte. Manchmal habe ich sie auch dorthin begleitet und gesehen, wie ihr das Personal behutsam entgegenkam. Ich bemerkte auch, wie sie beinahe jauchzte, wenn sie das Lokal betrat und die wohlige Wärme fühlte. Sie zog sich vielmals zu wenig warm an. Ihr Wunsch nach Eleganz blieb bis zuletzt erhalten.
 
Zur Zeit der offenen Drogenszene im Platzspitz wurde sie oft von bettelnden Männern angesprochen. „Grosi, häsch mer en Stutz?" (Grossmutter, hast du mir einen Franken.) Und sie öffnete ihre Tasche und gab einen Batzen. Sie war auch dort beliebt und dadurch beschützt. Sie wurde nie überfallen.
 
Auf der Heimfahrt schaute sie, kaum ins Tram eingestiegen, sofort nach, ob der Hausschlüssel und das Portmonnaie noch da seien. Und das wiederholte sich in kurzen Intervallen, bis sie am Ziel war. Zu Hause dann, wenn sich die Tür problemlos öffnete, stiess sie einen tiefen und erlösenden Seufzer aus.
 
Und heute bin ich es, die schon im Tram nach dem Hausschlüssel sucht. Wenn ich dann melde, „S’ Anneli hät de Schlüssel“ (Anneli hat den Schlüssel bei sich), schmunzelt Primo vielsagend und vielwissend. Ja, Annelis Andenken ist immer noch lebendig.

Sonntag, 20. Dezember 2009

Ich suchte die Weihnacht und fand sie nicht sogleich

Am Freitag, 18.12.2009, habe ich mich spontan aufgemacht, die Weihnacht in der Vorweihnacht zu suchen. Wo ich sie finden könnte, war mir von Anfang an unklar. Meine Reiseroute: Mit dem Velo zum Bahnhof Altstetten, mit der S-Bahn nach Zürich-Hauptbahnhof, zu Fuss durch die Bahnhofstrasse, immer aufmerksam auf Ungewöhnliches oder Berührendes.
 
Nichts da. Alles wie gewohnt. Etwas hektischer vielleicht. Mehr Menschen unterwegs. Am meisten fielen mir die grossen Tragtaschen vom Spielwarengeschäft Franz Carl Weber auf, die von Müttern und Grossmüttern heimgetragen wurden.
Ich selbst schien nichts zu begehren. Nichts zog mich in einen Bann. Es fehlten mir in den Schaufenstern echte Bezüge zum Weihnachtsfest, nicht geschäftstüchtige. Wir seien eben abgeklärt, kommentierte Primo am Abend meine Erfahrung. Immerhin hatte mich in der Buchhandlung Orell Füssli Olga Kaminers Buch Weihnachten auf Russisch angesprochen. Ein guter Fund, wie es sich später herausstellte. Schon allein das Vorwort, das Weihnachten auf Russisch seit dem 10. Jahrhundert beschreibt, begeistert mich. Eine Geschichte mit mannigfaltigen Einflüssen. Mit und ohne Religion. Spannend. Als ich auf meiner Stadtwanderung weiterging, hatte ich es aber noch nicht gelesen und hoffte nur, dass es mich weihnächtlich anrühren werde.
 
Als ich die Limmat überquerte, vermisste ich die Sicht auf die Alpen. Heute keine Vorstellung, schien der Himmel zu sagen. Ich tauchte in die rechtsufrige Altstadt ein. Im Umfeld des Neumarkts halte ich mich immer gerne auf. Und hier wird die Gasse in der Weihnachtszeit besonders schön und mild beleuchtet. Ich war aber zu früh. Ich ging durch die Froschaugasse, bog in die Spitalgasse ein. Einen Augenblick später nur, kam Lisbeth R., die liebenswürdige Altstadt-Ikone, daher. Fadengerade kamen wir aufeinander zu. Ich kenne sie von der Freiwilligenarbeit. Sie ist ein liebenswürdiges Original und trägt immer sehr farbige und unkonventionelle Hüte.
 
Als sie hörte, dass ich einen Hauch Weihnacht erhaschen möchte, wollte sie mich in die Predigerkirche schicken. Dort findet noch bis zum 10. Januar 2010 die Ausstellung „Weihnachtskrippen aus aller Welt“ statt. Dieser Besuch ist aber für einen der Weihnachtstage vorgesehen. Ich wollte unser privates Programm nicht unterlaufen. Also, dann solle ich mit ihr nach Hause kommen. Da werde ich die Weihnacht finden.
 
Lisbeth wohnt in einem geschichtsträchtigen Altstadthaus mit grossen Zimmern, wertvollen Parkettböden, massiven Nussbaumtüren und einem prächtigen Erker mit Blick auf die Froschaugasse hinaus. Ich durfte alle Räume sehen, ihre Einrichtung bewundern. Sie ist genau so originell, wie die Frau selbst. Jedes Möbel mit Geschichte, alle Bilder mit Bezügen zu Menschen. Und Fotos aus jener Zeit, als sie schauspielerte.
 
Wir tranken Tee. Lisbeth holte ein wächsernes Christkind in einem mehr als hundertjährigen Kripplein hervor. Das war die Weihnacht, die sie mir versprochen hatte. Aber auch der Blick in die inzwischen festlich beleuchtete Gasse hinaus gehörte dazu. Ich stand im Erker, schaute hinaus. Sie überreichte mir ein modernes Kaleidoskop, das mir den Blick hinunter vervielfachte, die Gasse zum weiten Platz werden liess. Dann wurde ich noch angewiesen, mit den Augen zu blinzeln und sofort bewegten sich die Lichter, wie wenn es Kerzen wären.
 
Jetzt bin ich richtig beschwingt, um in meinem Umfeld auch noch für weihnächtliche Stimmung zu sorgen.

Freitag, 11. Dezember 2009

Adventszeit: Allerlei Erfahrungen mit Licht und Dunkelheit

In diesen Tagen erlebe ich Licht und Dunkel ganz bewusst. Manchmal denke ich, die beiden Gegensätze sässen auf einer Kinderschaukel. Wenn ein Element den Boden berührt, schnellt das andere in die Höhe.
 
Letzte Woche erlebte ich das Licht der tief stehenden Sonne als Blendung. Ich konnte entgegenkommende Menschen in einer weiten Gasse nur noch als dunkle Schemen wahrnehmen. Einzig ihren Haaren gelang es, das Licht aufzufangen und abzubilden.
 
In einer Feier, während einer Lesung, löschte ein Kurzschluss das Licht abrupt, das die Madonnenfigur beleuchtet hatte. Der Raum selber wurde nicht tangiert. Mir fiel auf, wie die Skulptur sofort plastischer erschien, weil sie nicht mehr total ausgeleuchtet war. Ich blieb immer wieder an ihr hängen. Nicht nur wegen ihrer jetzt gut zur Geltung gekommenen Schönheit. Der elektrische Zwischenfall erinnerte mich sofort an die damalige Ausstellung im Zürcher Landesmuseum (November 2007, „Maria Magdalena Mauritius – Umgang mit Heiligen“).
 
Es war eine eindrückliche Schau, die schon in den ersten 6 Wochen 10 000 Besucher zu sich lockte. In abgedunkelten Räumen, nur punktuell angestrahlt, empfingen uns die Heiligenfiguren unserer Vorfahren mehrheitlich auf schwarzem Samt. Viele von ihnen trugen Gold. Die darunter liegenden Holzarbeiten wirkten auf mich als Schreinersfrau wie wundervolle Stoffe. Die faltenreichen Kleider schienen zu rauschen. Die diskrete und pietätvolle Beleuchtung belebte sie. Die Ausstelldung führte durch einen gewundenen Gang, und irgendwann war sie scheinbar beendet. Man trat in einen quadratischen, hell erleuchteten, leeren Saal. Dieser war mit „Reformation“ überschrieben. An den Wänden war je eine markante Aussage eines Reformators angebracht. Hier wurden keine Figuren mehr geduldet. Hier, wo alles ausgeleuchtet war, war ausser den Worten nichts zu sehen, was hätte anrühren und in Erinnerung bleiben können. Mir war es eindeutig zu hell, exakt so, wie wenn mir das Föhnlicht eine Migräne beschert.
 
Dieser Ort war aber nicht das Ende des Rundgangs. Es folgte noch das ausgestellte Lager der nicht verwendeten Figuren. Von oben herab sahen wir die in vielen Kisten deponierten Heiligen.
 
Später habe ich verschiedene Bekannte auf diesen scheinbar leeren (geistigen?) Reformationsraum angesprochen. Und bin auf Unverständnis gestossen. Man wusste gar nicht, wovon ich sprach.
 
Die Bahnhofstrasse von Zürich ist für mich persönlich auch zu grell geworden. Die einzelnen Lichtdekorationen für die Vorweihnachtszeit konkurrenzieren sich und zur grossen Lichtband-Installation, die heuer zum letzten Mal eingerichtet worden ist, haben sie ebenfalls keinen Bezug. Immer mehr Beleuchtung, scheint die Devise zu sein, obwohl wir Strom sparen sollten.
 
Letztes Jahr besuchte ich um diese Zeit die Ausstellung über die polnische Weihnacht im Kindermuseum in Baden. Ich habe darüber berichtet. Diesmal war ich hieher gekommen, um mich auf das Brauchtum der dänischen Weihnacht einzulassen. Letztes Jahr war ich bei unwirtlichem Wetter unterwegs. Am Himmel hingen dunkle Wolken. Zudem war es nicht einfach, das Museum zu finden. Als ich dort endlich angekommen war, begann es zu schneien. Die Schneeflocken tanzten vor den Fenstern der installierten Weihnachtsstube. Es war warm. Leise Weihnachtsmusik sorgte für festliche Stimmung. Ich fühlte mich zum Fest geladen. Diesmal war es ein heller Tag und wie oben berichtet, blendete mich das Licht. In der Ausstellung war auch alles gut ausgeleuchtet. Kinder sprangen herum und suchten nach Abbildungen, weil sie an einem Wettbewerb teilnahmen. Musik wurde verdrängt. Obwohl mich das Brauchtum Dänemarks begeistert hat, fühlte ich mich nicht als Gast in einer Weihnachtsstube. Diesmal war ich eine aussen stehende Person, die sich am Ausstellungsgut informierte.
 
Wenn Licht und Dunkelheit miteinander agieren, lösen sie oft einen Zauber aus. Ihr Zusammenspiel macht uns Freude. Helle allein oder Dunkel allein zu ertragen, das ist schwer. Aber schon das kleinste Licht auf dunklem Hintergrund bewegt uns, kann Freude oder auch Hoffnung hervorbringen.
 
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, flackerte auf dem obersten Treppenabsatz ein Teelicht in einem facettierten Glas und warf seinen strahlenförmigen Schatten an die Wand. Der Windstoss, den ich beim Eintreten mitbrachte, bewegte das schöne Bild.
 
Das machen wir im Dezember immer so: Wer zuerst heimkommt, zündet ein Teelicht an. Und immer ist es eine Überraschung, die uns heiter stimmt. Da sind wir zu Hause.

Samstag, 5. Dezember 2009

In vielen Belangen waren mir meine Töchter Lehrerinnen

Ich hatte in den Jahren 1975‒1980 am „Kreis 5 Anzeiger“ (Alternatives Quartierblatt für Zürich 5) mitgearbeitet und für jede Nummer ein Rezept mit der dazugehörigen Geschichte geschrieben. Daraus wurde später ein Kochbuch. Unsere jüngere Tochter Letizia sähe es gern, wenn ich dieses neu auflegen würde. Die Rezepte sind für sie sowohl Familiengeschichte wie auch Bestandteil ihrer eigenen Küche, mit der sie immer wieder Erfolg hat.
 
Sie ist aber eine viel anspruchsvollere und kreativere Köchin und Gastgeberin als ich es je war. Es erstaunt mich, dass etwas von früher immer noch Bestand hat. Beliebt ist unser Hackbraten auch in ihrem Freundeskreis. Sie erzählte kürzlich, wie sich ehemalige Arbeitskollegen bei ihr trafen und schon im Voraus wünschten, dass sie ihnen Hackbraten und Kartoffelstock auftische.
 
Hungrig schauten sie auf den Service und verglichen die einzelnen Tranchen auf den Tellern, und manch einer befürchtete, er käme zu kurz. So wurde es mir erzählt. Sie hätten sich lachend beschwert, des Nachbars Portion sei dicker. Aber es gab für alle genug. Letizia kochte 2 kg Hackbraten und 3 kg Kartoffelstock für 6 Personen.
 
Einer der Männer habe gesagt, hier sei es wie daheim. „Man kommt an, und das Essen ist bereit.“ Das sind wohl Sehnsüchte vieler alleinstehender Menschen, eben auch junger. Und der Hackbraten, der früher in vielen Familien nach eigenem Rezept gekocht wurde, verstärkte wohl auch noch das Heimatgefühl.
 
Letizia kocht jede Woche einmal für uns Eltern, und das sind immer Festessen. Die Rollen sind schon längst vertauscht. Wohl werde ich manchmal noch nach meinen Erfahrungen gefragt, aber grundsätzlich ist sie jetzt die Person mit breiter Erfahrung und überrascht uns immer wieder mit phantasievollen Experimenten.
 
Und ich bin zur Schülerin geworden, wünschte mir letzthin, dass ich endlich einmal Zöpfe backen lerne. Dass sie mir zeige, worauf es beim Teig ankomme, wie ich die Hefe richtig behandle und welcher Trick sie anwende, dass ihr die Teigmasse so prächtig aufgehe. Diesen darf ich freimütig verraten. Sie legt den fertig gekneteten Teig in eine weite Schale, deckt diesen mit einer Frischhaltefolie zu (Folie nur locker hinlegen, nicht spannen, damit sie die Teigbewegungen nicht behindert) und schiebt das Gefäss unter das Kopfkissen oder die Bettdecke. 1 ½ Stunden bleibt er dort, frei von Durchzug und entwickelt sich prächtig. Aus meiner Sicht ist dieser Trick ausschlaggebend fürs Gelingen.
 
Rückblickend erkenne ich, dass die Ernährung schon immer ihr Thema war. Dass sie schon als Sekundarschülerin instinktsicher anregte, dieses oder jenes Gewürz noch beizufügen. Da stand sie dann neben mir am Herd, sog Düfte ein und gab ihre Kommentare dazu. Heute sagt sie, das seien prägende Momente gewesen, vor allem weil ich bereit gewesen sei, auf ihre Anregungen einzugehen. Ich erkannte eben rasch, dass es sich lohnte.

Freitag, 27. November 2009

Heute gab mir der Herbst 2009 seine Abschiedsvorstellung

Carpe diem. Diese lateinische Redewendung, deutsch: „Nütze den Tag“, bewegte sich am Morgen des 23.11.2009 auf meinem Bildschirmschoner, als der Computer eine Weile ruhte. Die Botschaft kam an, bewegte mich. Ich war angesprochen und überlegte mir, wie ich sie an jenem Tag umsetzen könnte.
 
Wie nütze ich diesen neuen Tag? Bis anhin verstand ich diesen Rat immer dahingehend, dass die anstehende Aufgabe ohne Trödeln angegangen werden soll. Gründlich, zuverlässig. Die Lebenszeit nicht verschwenden. Zum ersten Mal kam ich vor einigen Jahrzehnten im Tessin mit diesem Text in Berührung. Ein befreundeter Architekt hatte uns zu sich eingeladen. Er baute ein Rustico zu einem behaglichen Wohnhaus um und wollte seine Freude an diesem Ort und seiner Arbeit mit uns teilen. Er holte uns an der Postautostation ab und führte uns zu seinem Haus. Bevor wir eintreten durften, blieb er stehen und machte auf die Tafel neben der Haustür aufmerksam. „Carpe diem“ lasen wir. Das war sein Programm zur Auferstehung dieses alten Steinhauses, einer Art Ruine. Und er folgte ihm und hatte auch Erfolg. Ich sah, wie fleissig und gründlich er arbeitete. Jede Woche vertauschte er die Schreibtisch- mit der körperlichen Arbeit. Er bestätigte damals, dass ich das Wort recht erfasst hatte.
 
Aber heute Morgen war es anders. Beim Frühstück war es noch Nacht. Während wir die Zeitung lasen, wich das Dunkel langsam. Ich öffnete das Fenster, schnupperte die Luft und sah einen freundlichen Himmel, hellblau, aber mit weichen Wolkenfetzen überzogen. Von den Bäumen strahlten mich noch bräunliche Blätter an. Viele waren schon abgefallen. Ein kühler Wind rüttelte an den Ästen und schüttelte verbliebene Blätter und noch viele Samenflügel ab. Diesen natürlichen Propellern zuzuschauen, macht mir immer wieder Spass. Noch ist es mir aber nicht gelungen, sie zu fotografieren. Sie sind schneller als ich und mein Apparat.
 
Plötzlich wusste ich, wie ich die nächste Stunde dieses Tages sinnvoll nützen könnte: Nochmals nach dem Herbst ausschauen, bevor er sich endgültig verabschiedet. Also: Windjacke anziehen und auslaufen. Meine Zellen mit Licht füllen. Den Herbst nochmals einfangen und die Bilder als einen immateriellen Wert als Winterproviant in mir einlagern.
 
Im Schulhaus Loogarten war gerade Pause. Die Kinder tummelten sich draussen. Sie lachten und schrien. Sie verströmten Energie. So auch der Wind, der nebenan die Hängebirke mit ihren langen Haaren übermütig schüttelte. Es beflügelten mich beide. Kinder und Wind erfassten mich mit ihrem Temperament.
 
Auf dem Römerhügel hatte der Wind sein Werk schon getan. Die beiden Linden sind jetzt entlaubt, zeigen ihre wohlgeformte Statur. Jetzt ist gut auszumachen, dass sie nicht derselben Familie angehören. Ein schönes Paar. Vielleicht Mann und Frau.
 

Auf dem weiteren Weg knipste ich Bilder von der Berberitze. Hier dominierte Rot und Grün auf himmelblauem Hintergrund. Farben sprühten auch die japanischen Zierkirschenbäumchen vor der blauen Schulhauswand.
 
Auf Schlierenberg war der Wind so stark, dass er mich hindern wollte, voranzukommen. Es gefällt mir, wenn ich mich gegen ihn stemmen muss. Vielleicht gefällt es ihm auch, uns anzufahren und Staub aufzuwirbeln. Hier scheuchte er die Blätter auf. Einige schwebten eine Weile und fielen dann hin. Andere wurden zu Rädern, obwohl sie nicht rund gewachsen sind. Sie folgen den ihnen innewohnenden Gesetzen, und diese haben mit mir persönlich nichts zu tun. Und doch lasse ich mich ganz gerne auf ihre scheinbaren Spiele ein.
 
Hier oben schien die Sonne und warf ihr Licht auf ein grünes Feld, auf eine Wintersaat. Obwohl diese weder verregnet war, noch Tau trug, fingen die Sprösslinge das Licht als goldene Flecken auf. Am Waldrand grüssten die Lärchen mit fahlem Gelb, sehr geheimnisvoll.
 
Auf dem Heimweg schien mir die Sonne ins Gesicht. Es war schwierig, die Alpen zu fotografieren. Weisse Wolken deckten Teile des Alpenkranzes ab. Dieses Gegenlicht verzauberte noch einige Büsche und Bäume, an denen nur noch wenige Blätter hingen.
 
Mit jedem Jahr betrachte ich die Farben der Natur mit offeneren Augen. Jede Blume ist noch schöner als ich sie schon gekannt habe. Das muss eine Alterserscheinung sein. Und mit denselben Augen will ich auch durch den Winter gehen.

Mittwoch, 11. November 2009

Nochmals Glück gefunden, auch wenn es Lebensherbst ist

Die Geschichte ist wahr. Namen und Orte sind aber verändert.
 
Es fiel mir schon auf dem Friedhof auf, dass Gregory religiös-philosophische Gedanken äusserte, als wir vor dem Grab seiner geliebten Henriette standen. Ungewohnt für mich. In meiner Erinnerung war er der nüchterne und kritische Mann, der immer darauf achtete, dass Gedanken realitätsbezogen blieben und die Wortwahl präzise war. Nur keine Höhenflüge, nur keine Phantasien. Und religiöse Themen wies er stets von sich. Hatte ihm der frühe Tod seiner Frau nun neue Gedankenräume erschlossen?
 
5 Jahre war er nun Witwer, bereiste in dieser Zeit viele Länder, forschte an einem Thema, schrieb ein Buch. Briefe von ihm berichteten von seinen Reisen. Die Trauer wurde nie erwähnt. Eines Tages wurde vereinbart, sich wieder einmal zu treffen. Und wie früher führte uns er uns auch diesmal an einen Ort, den wir alleine kaum gefunden hätten. Auch als Henriette noch lebte, festigten unsere Zusammenkünfte nicht nur unsere Freundschaft. Wir zeigten einander immer auch Orte mit besonderem Charakter aus dem eigenen Lebensumfeld. So vermittelten wir einander Geographie und die Mentalität des jeweils anderen Kantons.
 
Diesmal führte der Weg zu einem beliebten Gasthaus über eine Lichtung und einem Waldrand entlang. Von weither leuchtete ein Kirschbaum in rotem Herbstlaub. Da sprach ich aus, was ich in jenem Augenblick gerade dachte: Hoffentlich sind auch wir erst in jener Herbstphase unseres Lebens, in der unsere Farben noch leuchten. Gregory war augenblicklich elektrisiert. Er fühle sich sogar 30 Jahre jünger. Über die Gründe würde er uns gerne erzählen. – Wenn er uns damit nicht langweile, fügte er dann noch hinzu.
 
Während des Essens erfuhren wir seine spannende Geschichte: Wie er eines Tages alle seine Bedenken wegschob und sich plötzlich getraute, sich im Internet auszustellen und nach einer Partnerin zu suchen. Und wie er sofort Antwort bekam. In einem anderen Land ertrugen nämlich die erwachsenen Söhne und Töchter die Tränen ihrer Mutter nicht mehr. 2 Jahre täglich um den verstorbenen Mann zu weinen, seien genug. Sie meldeten die Mutter auf derselben Partnerschafts-Plattform an, wie Gregory es auch getan hatte.
 
Die Profile der beiden Persönlichkeiten zogen sich an. Der Computer erfasste und verband sie. Es machte klick. Grosse Überraschung, als er mitteilte, dass das Glücksspiel nun ernst geworden sei.
 
Gregory verhehlte nicht, dass er anfänglich skeptisch war. Die Berufsbezeichnung der ermittelten Frau irritierte ihn. Das lasse sich leicht schreiben, sinnierte er. Ob es aber wahr sei? Das Internet gab ihm Antwort. Ja. Mehr noch als da geschrieben stand. Die Frau entpuppte sich als eine bekannte schreibende und malende Künstlerin.
 
Nun ist Gregory ein Vielflieger geworden, reist oft zu ihr in die südliche Stadt, wo sie arbeitet und lehrt. Und sie kommt, so oft es möglich ist, zu ihm in sein grosses Haus in die Schweiz. Abschied und Wiedersehen gehören nun zum neuen Leben und beflügeln beide. Gregory schätzt das kulturelle Umfeld dieser Frau, den Kontakt zu Kunstschaffenden. Sie öffnen ihm neue Sichtweisen. Das Leben hat jetzt mehr Fülle, mehr spielerischer Raum. Die vordem zu ihm gehörende Strenge ist aufgebrochen. Und an diesem Sonntag sah ich um diesen Mann ein mildes Licht. Sein Glück.
 
Dann trat der Kellner an unseren Tisch und fragte nach den Wünschen für den Nachtisch. Es war schwierig für uns, aus den vielen Angeboten spontan zu wählen. Gregory, der für die Hauptspeise noch darauf geachtet hatte, dass wir uns für ein gemeinsames Menu entschieden, schlug jetzt vor, 3 verschiedene Desserts zu wählen. Nach jedem Bissen könnten wir den Teller im Uhrzeigersinn weiterreichen, wir befänden uns schliesslich im Uhrmacherkanton. Ob das hier üblich sei? Nein. Diese Idee sei ihm jetzt gerade zugefallen.
 
Die Teller rotierten. Niemand musste befürchten, eine falsche Wahl getroffen zu haben. Die Köstlichkeiten standen allen zur Verfügung. Es war ein beinahe kindliches Spiel, das uns fröhlich stimmte und unsere Freundschaft erneut festigte.
 
Und was mich am meisten freute: Gregory ist glücklich und selbst ein Kreativer geworden.

Sonntag, 25. Oktober 2009

Plötzlich ist das Interesse an der Hagebuche erwacht

Kreissägen quitschten, als ich zum Lebensmittelgeschäft am Suteracher unterwegs war. Holzfäller waren im oberen Bereich der Eugen-Huber-Strasse an der Arbeit, stutzten Bäume, die sich an guten Plätzen übermütig ausgedehnt hatten. Nachher, auf dem Heimweg, waren die Arbeiter schon vis-à-vis der kleinen Kirche am Werk. Ich konnte mitverfolgen, wie ein riesiges Astgebilde einer Hagebuche in den mächtigen Sammelwagen gehievt wurde. Ich blieb stehen, dachte: Da ereignet sich etwas, was meinen bereits begonnenen und ins Stocken geratenen Beitrag fürs Blogatelier beleben kann. Das Thema der Hagebuche, angesprochen durch eine Leserin, Monja Freiesleben in CH-9607 Mosnang, machte mir bewusst, wie wenig ich von diesem Baum wusste. Sie stellte die Frage, ob sich Hagebuche für die Herstellung eines Bettes eigne.
 
Obwohl in unserer Schreinerei noch nie Hagebuche verarbeitet worden ist, wusste Primo über sie Bescheid. Aber mir fehlte der echte Kontakt zu diesem Holz. Wenn ich etwas mit den Händen angefasst habe, kann ich dazugehöriges Wissen leichter aufnehmen. Das sitzt dann.
 
Primo hatte schon im Frühjahr am Waldrand oben bemerkt, dass eine kranke Hagebuche gefällt worden war. Der Schnitt im Baumstrunk war noch frisch, und es lagen ein paar wackere Aststücke, von den Fällern zum Verfall preisgegeben, als Zeugen herum. Primo erkannte den Pilz, der auf abgestorbene Äste hinweist: Xylaria. Er nahm eines der Stücke auf die Schulter. Für eine normale Schreinerarbeit war es ganz klar nicht zu gebrauchen. Zerschunden, zerrissen zeigte es uns aber das Innenleben. Solches fasziniert uns immer.
 
Das Holzstück lag nun ein paar Monate ohne besondere Beachtung in der Werkstatt. Und wurde dann hervorgeholt, als ich meinen Wissens- und Erfahrungsdurst anmeldete. Primo schnitt den Hagebuchenklotz auf und verschiedene Rohlinge für Küchengeräte zu. Formen für Löffel und solche für Kellen. Er brachte auch einen Holzreif mit. Diesen hatte er aus dem Astquerschnitt zugeschnitten. Wegen des Xylariabefalls hatte das Holz dort sein schlichtes Weiss verloren und zeigt nun eine dem Marmor vergleichbare Farbe und Struktur. Alle diese Teile könne ich schleifen und so dem Wesen des Hagebuchenholzes nahe kommen. Verblüfft hat mich ganz speziell die Form des Reifs. Er passte exakt an meinen Arm, ohne dass vorher Mass genommen worden wäre. Auch diesen könne ich schleifen und ihm die ganz persönliche Form noch selber geben.
 
Etwas viel verlangt! Primo arbeitet seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Holz. In seinen Händen haben sich unzählige Experimente und Erfahrungen eingenistet, die immer noch sofort abrufbar und wegweisend sind. Eine solche Hilfe habe ich nicht. Aber immer noch Begeisterung genug, Erfahrungen zu machen.
 
Eine einigermassen seidene Oberfläche brachte ich an einem Löffel zustande. Auch am Reif mühte ich mich ab. Wegen seiner Xylariaerkrankung und Windrissen brach er mir an 2 Stellen auseinander. Primo leimte ihn sorgfältig zusammen. Da die Teile gespannt werden mussten, verkleinerte sich der Umfang. Ich konnte ihn nicht mehr übers Handgelenk streifen. Wieder war ich auf Hilfe angewiesen, konnte dem Innenradius schleifend nicht so viel Holz wegnehmen, dass er zum ursprünglichen Mass zurückfand. Wir fragten uns, ob das Holz vielleicht wegen des wärmeren Wohnungsklimas geschwunden sei. Jetzt hat er eine passende Form, hauptsächlich aber von Primo geschliffen. Die Oberfläche ist fein. Ich berühre sie gern. Ich könne sie ölen oder lackieren. Nein. Ich möchte den Reif so natürlich behalten und benützen. So kann er atmen, wachsen und schwinden, wie es seiner Art entspricht.
 
Es sind noch längst nicht alle Rohlinge geschliffen. Sie liegen gut sichtbar in meinem Arbeitszimmer. Ich beobachte, wie sich dünne Teile verziehen, mir ihre Individualität zeigen. Eine Schaufel ist besonders interessant. Vorderseite fein geschliffen. Die Form linksseitig ausgerissen, naturbelassen. Die Rückseite zeigt die Spaltoberfläche. Ungehobelt. Archaisch. Solche Exemplare setze ich im Haushalt nicht ein. Sie dürfen Ausstellungsobejekte sein und bleiben.
 
Die Hagebuche hat mir kein persönliches Parfum offenbart. Beim Schleifen machte sich aber ein leicht säuerlicher Geschmack bemerkbar. Das Holz ist in seiner ganzen Art schlicht, hart, schwer und doch konnte Primo aus diesem Material leichte, beinahe luftige Löffel und Kellen herstellen.
 
Dem Charakter dieses Holzes begegnen wir im Volkslied „Wänn eine tannige Hose hät und hagebuechig Strümpf ...“ Da wird von einem gesungen, der in Hosen aus Tanne und Strümpfen aus Hagebuche tanze, ohne dass seine Kleider zerknitterten. Ein solcher Bursche muss selbst ein unverwüstlicher Kerl sein.
 
Der Baum im Mittelpunkt dieses Blogs gehört zur Familie der Birkengewächse (Betulaceae). Er hat verschiedene Namen und ist doch immer derselbe: Hagebuche, Hainbuche, Weissbuche, Hornbuche. Jeder Name drückt eine besondere Eigenschaft aus: Hagebuche, weil er geeignet ist, einen Hag, also eine Abschrankung zu markieren. Hainbuche auf den Verbund einiger Bäume zu einem Wäldchen hinweisend, Weissbuche wegen seinem weissen Holz. Und Hornbuche spricht das weisse und hornartige Holz an.
 
Das Hagebuchwäldchen vor meinem Bürofenster ist ein hoher Lebhag und grenzt das Schulhaus Loogarten von unserem Wohnhaus ab. In wohltuender Distanz und gleichzeitig doch sehr nahe, ist es für mich der persönliche heilige Hain. Ich nannte ihn schon so, als ich noch gar nicht begriffen hatte, dass hier Hainbuchen stehen. Inzwischen sind wir dicke Freunde geworden. Sie lassen mich die Jahreszeiten mit all ihren subtilen Prozessen miterleben, und ich schenke ihnen viel Interesse und Freude.
 
Jetzt gerade zeigen sie mir verschwenderische Fülle. Ihre so genannten Flügel sind gut sichtbar, weil sie sich bereits verfärbt haben und sich von den übrigen grünen Blätter abheben. Diese Flügel, ein Blattwerk, sind 3-lappig und beherbergen das Samen-Nüsschen am Stilansatz. 6‒8 solcher Flügel sind übereinander aufgehängt. Wie ein beweglicher, länglicher Schmuck. Er erinnert mich an eine orientalische Frau, die ich vor Jahren tanzen sah. Sie hatte ihr Kleid vorne auf der Brust und hinten am Rücken mit ähnlich beweglichem Schmuck behängt. Und dieser betonte beim Tanzen ihre füllige, weibliche Figur. So sehe ich die Hagebuchen im Herbst. Sie sind meine orientalischen Frauen.
 
Sympathisch ist mir auch, dass in diesem Baum Männliches und Weibliches vereinigt ist. Man nennt das „einhäusig“. Die männlichen Kätzchen und die weiblichen Blütenstände wachsen auf im selben Haus. Um die Befruchtung kümmert sich der Wind.
 
Und der Wind ist es auch, der die Flügelfrüchte mit den Samen fortträgt. Schon bei leichten Winden habe ich bereits beobachten können, wie ganze Gruppen solcher Flügel vor meinen Fenstern niedergingen. Mit sanfter Landung, auch wenn beim Anblick Vergleiche zu Helikoptern aufgestiegen sind. Diese Samen können kilometerweit fliegen und den Weiterbestand der Hagebuche sichern. Darum muss ich um den heute Morgen gefällten Baum nicht trauern. Überdies freuen sich die Bewohner jenes Hauses, dass der grosse Baum vor ihren Fenstern und dem Balkon verschwunden ist. Ich konnte beobachten, wie sie hinaustraten und überrascht ausschauten. Die Frau muss dem Mann gezeigt haben, dass er jetzt nach Höngg hinüber sehe. Beide strahlten. Soeben wurde ihnen Weitsicht geschenkt.

Samstag, 17. Oktober 2009

Die Post und ihre Kunden: Ganz persönliche Geschichten

Erst als ein Betrag von über 700 Franken genannt wurde, hörte ich hin. Ich wusste nicht, ob der Pöstler einen Scherz machte oder ob das Paket, das er überreichen wollte, so viel Wert war. Der Coiffeur stutzte. Er fühlte sich offensichtlich überrumpelt. Woher das Paket stamme? Der Bote nannte den Ort. Wo das sei? Auch diese Frage wurde korrekt beantwortet. Die Anschrift wurde überprüft. Sie stimmte. Der Absender entpuppte sich dann als der bekannte Lieferant, jedoch mit der Adresse einer neuen Auslieferungsstelle. Der Coiffeur war immer noch unsicher. Man müsse vorsichtig sein, sagte er wie zu sich selbst. Gerne hätte er das Paket geöffnet und den Inhalt überprüft und erst dann bezahlt. Aber das ist bei einer Sendung „gegen Nachnahme“ nicht zulässig.
 
Der freundliche Paketzusteller hatte Geduld, liess dem Kunden anständig viel Zeit zum Überlegen. Ich hörte, dass er die Sendung schon am Morgen habe bringen wollen. Das Geschäft war noch geschlossen. Inzwischen war der Kunde bereit, die „Nachnahme“ zu akzeptieren. Es wurde bezahlt und unterschrieben. Nachdem der Coffeur seine Neugierde gestillt, das Paket geöffnet und sich vergewissert hatte, dass die Lieferung seiner Bestellung entsprach, entschuldigte er sich bei mir, dass der Haarschnitt unterbrochen worden sei. Dafür hatte ich Verständnis. Für mich kein Problem. Geschichten rund um die Post sind immer willkommen, verweisen sie doch auf eigene Erfahrungen und auf meine Beheimatung in dieser Institution. Und zudem habe sich dieser Pöstler mustergültig verhalten, fand ich.
 
Ich erinnerte mich augenblicklich an Episoden meiner Mitarbeit als Aushilfspöstlerin. Obenauf schwang die folgende: In Zürich-Wipkingen trug ich die Samstagspost aus. Da kam aus einer Seitenstrasse im Umfeld der Nordstrasse ein Mann auf mich zu und fragte, ob ich informiert sei, dass Familie Sch. keine Post mehr annehmen könne. Er sprach aufgeregt und wiederholte es mehrmals, dass alle Post zurückgewiesen werde. Ich wusste nicht, wovon er sprach, dachte, vielleicht habe diese Familie einen Todesfall gehabt und werde möglicherweise von allerlei Schulden überrascht. Der Mann doppelte nach und sagte, lauter als vorher: „Mached sie mit öisere Poscht, was sie wänd. Rüered si diä doch eifach i Dolen abe!“ (Machen sie mit unserer Post, was sie wollen. Werfen sie diese doch einfach in den Ablauf der Strassenkanalisation!)
 
Unmöglich. So etwas komme nicht in Frage. Er liess nicht locker, und ich wiederholte den Widerstand. Aber auf einmal lachte er liebenswürdig und gestand: „Alles erstunken und erlogen. Ha-ha!“ Ich lachte mit. Später, wenn wir einander wieder begegneten, winkte er schon von weitem und schmunzelte. Manchmal blieben wir einen Augenblick stehen, und er erzählte irgend etwas. Er war alleinstehend, pensioniert. Das Leben war viel zu ruhig geworden. Darum hatte er das beschriebene kleine Spiel inszeniert.
 
Am Samstag vor Weihnachten dann stand er an derselben Stelle und hielt mir ein Geschenk hin: Ein paar Weihnachtsguetzli, ein kleiner Tannenzweig und eine sehr schöne, von ihm selbst gestaltete Glückwunschkarte.

Sonntag, 11. Oktober 2009

Die Reise zu 3-Frauen-Kultorten auf Hügeln rund um Basel

Freunde aus anderen Landesteilen haben mir und meiner Familie schon oft unbekannte Orte erschlossen. Und so halten wir es auch. Auch wir bringen die Region, in der wir leben und von der wir beeinflusst sind, unseren Freunden näher.
 
Ich wünschte mir schon lange, die heilige Ottilie kennen zu lernen. Im Kanton Zürich hören wir diesen Namen selten. Auch die ihm zugrunde liegende Legenden waren uns unbekannt.
 
Alex und Marianne, echte Basler, wussten Bescheid. Ottilie sei eine von 3 Schwestern, die als Klausnerinnen auf verschiedenen Hügeln lebten und sich untereinander mit Zeichen verständigt hätten. Morgens mit Glocken, abends mit Öllichtern. Sie luden uns auf eine Fahrt auf die 3 Hügel ein.
 
Seitdem ich das Buch „wild und weise“ (Weibsbilder aus dem Land der Berge) kenne, bin ich hellhörig auf mythische oder heilige Frauengestalten, die zu dritt auftreten. Ursula Walser-Biffiger hat mich in ihrem Buch mit dieser Dreiheit bekannt gemacht. Es seien die 3 Aspekte der grossen Göttin: Die frühlingshafte Jungfrau, die reife Frau in ihrer Vollkraft und die weise, sehende Greisin.
 
Später bin ich in Köln in der Basilika St. Aposteln den heiligen Frauen Barbara, Margareta und Katharina begegnet. Hier handelte es sich um die 3 Nothelferinnen, die ebenfalls zusammengehören. Andernorts spricht man von heiligen Frauen, die zu dritt auftreten, von den „drei Bethen“. Walser-Biffiger schreibt dazu: „Die Drei Bethen verkörpern das immerwährende, ewig sich erneuernde Leben.“ Sie anzurufen, nannte man „bethen“, beten.
 
In Zürich wurde ich in der Weihnachtszeit in einem Geschäft mit italienischen Süssigkeiten auf den Panettone „Tre Marie“ aufmerksam. Der Verpackungskarton zeigte 3 Frauen, 3 Marien. Ihre Attribute: Das Mass, das Ei, der Kuchen.
 
Zu einem Artikel über „Frauen, die das Schicksal bestimmen“ erschien in der katholischen Zeitschrift „Forum“ 7/2003 ebenfalls eine Darstellung dieser Dreiheit. Hier wurde aber auf die nordische Mythologie verwiesen und die Edda zitiert. 3 Frauen sitzen hier am Lebensbaum an 3 Wurzeln mit der dreifachen Quelle und spinnen die Schicksalsfäden. Abgeschlossen wurde dieser Beitrag mit dem schweizerdeutschen Kindervers „Rite, rite Rössli“ (Reite, reite, Rösslein!), in dem ebenfalls auf 3 Mareien oder Marien verwiesen wird. Die Schicksalsgöttinnen – es sind wieder 3 – spinnen in diesem Kinderreim Seide, schnetzeln Kreide und spinnen Haferstroh.
Und neu habe ich dieser Tage auf der erwähnten Fahrt in Basel und Umgebung 3 weitere solcher Frauen kennen gelernt. 3 Schwestern, die sich auf verschiedenen Hügeln als Klausnerinnen angesiedelt hatten. Ihre Legende stammt aus frühchristlicher Zeit. Margaretha in Binningen am Stadtrand von Basel, Ottilia oberhalb von Lörrach auf dem Tüllinger Berg, also jenseits der Landesgrenze in Deutschland und Chrischona am westlichen Dinkelberg oberhalb von Bettingen BS.
 
Alle 3 Plätze sind alte, sakrale Orte. Solche Drei-Frauen-Legenden knüpfen vielfach an Glaubensvorstellungen aus vorchristlicher Zeit an, zum Beispiel an Gestalten wie die keltisch-römischen Matronae, die germanischen Nornen oder an die Dreifaltigkeit der Mond-, Erd- und Sonnenmutter, heisst es in einer Information zu den Kirchen auf den drei Hügeln.
Interessant fand ich, dass in der Kirche St. Ottilien, die selber Teil eines alten Drei-Frauen-Kultortes ist, ein Fresko erhalten ist, das auf andere 3 Frauen hinweist: Maria Magdalena, Maria Salome und Maria Kleopas am Grab Christi.
 
Mich faszinierten auf dieser Reise immer auch die Ausblicke über Stadt und Landschaft. Auch nach Frankreich und Deutschland hin. Und am Ausgangsort St. Margarethen, wo wir die Kirche nicht betreten konnten, weil sie sich in Renovation befindet, wurde der Blick über die Stadt Basel zur Hauptattraktion. Ich freute mich, die Distanzen zu sehen, die wir zurücklegen werden und die wir ohne Auto nicht in einem Tag so gemütlich bewältigt hätten.
2 der Kirchen gehören zur Evangelischen Kirche. St. Chrischona am westlichen Dinkelberg oberhalb Bettingen wurde 1966 der Evangelischen Pilgermission überlassen. Auf dieser traumhaften Anhöhe mit Blick auf Basel und die Alpen befindet sich auch der Hauptsitz der Pilgermission mit Theologischem Seminar.
 
Ein altes Gebäude aus Holz, genannt Eben Ezer, sprach mich besonders an. Ich wähnte mich bei den Amischen. Diese auf das alte Testament bezogene Bezeichnung übersetzt Wikipedia mit „Stein der Hilfe“. Ein Ort, der Gottes Präsenz markiert?
 
Am Abend gab Marianne unserem Ausflug den Namen „Drei Hoger-Tag“. (Hoger = Hügel). Und Alex nannte bereits neue Ziele für weitere Ausflüge zu mythischen Orten im Dreiländereck.

Sonntag, 27. September 2009

Die Suche nach dem Schlüsselbund lehrte mich etwas

Als ich am späten Abend die Wohnungstür abschliessen wollte, fehlten die Schlüssel. Wo und wann hatte ich sie das letzte Mal gebraucht? Vor ungefähr 3 Stunden, als ich mein Velo aus dem Rechen beim Bahnhof Altstetten auslöste.
 
Sicherheitshalber durchforstete ich meine Umhängetasche mit ihren diversen Fächern. Kontrolle in den Jeans, Kontrolle in der Jacke. Der Schlüsselbund war unauffindbar. Ich schaute zurück. Wie bin ich ohne Schlüssel ins Haus gekommen, wie in die Wohnung? Die Haustür stand offen. Im Veloraum traf ich auf Primos Rad. Er war zuerst heimgekommen. Ich konnte nur eintreten.
 
Schlussfolgerung: Ich muss zum Bahnhof hinunter pedalen und dort suchen.
 
Ich nahm eine Taschenlampe mit. Es war schon dunkel geworden, eigentlich Zeit zum Schlafengehen. Ich meinte, ich hätte schon viel wertvolle Zeit verloren. Wenn mir der Schlüsselbund entglitten sei, hätte ihn in der Zwischenzeit wohl jemand aufgelesen.
 
Ich wusste, dass ich mein Rad ungefähr in der Mitte der Anlage festgezurrt hatte. In der Zwischenzeit hatte sich die Reihe aber gelichtet. Ich konnte meinen Platz nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Also starrte ich auf den Boden, beleuchtete ihn, schritt den ganzen Veloparkplatz ab. Ich wollte mich durch nichts ablenken lassen, wollte keinen Menschen sehen, obwohl ich Stimmen vernahm. Es unterhielten sich Männer, vielleicht wartende Taxi-Chauffeure. Sonst war es ruhig. Etwas diffus, wie in einem Traum.
 
Erfolglos meine Suche. Ich kehrte um und fuhr nach Hause. Und dort lagen dann die Schlüssel, zusammen mit der Briefpost von heute, auf meinem Arbeitstisch.
 
Bis dahin wäre meine Geschichte nicht besonders erwähnenswert. Solche Erlebnisse sind allgegenwärtig. Ich berichte aber weiter, weil mir plötzlich aufgegangen ist, wie ich des Rätsels Lösung fand.
 
Auf der Heimfahrt gab ich mich geschlagen, liess alle Gedanken los, nahm mir nur vor, morgen mit dem Hausvermieter zu sprechen. Und wie ich da so gleichmässig in die Pedalen trat, die Steigung locker meisterte, fühlte ich mich beruhigt. Die Suche war abgeschlossen. Erfolglos aus meiner Sicht, nicht aber für mein Gedächtnis. Endlich gelang es ihm, meine nervösen Gedankenstränge abzustreifen und mir zu melden, ich sei von falscher Annahme ausgegangen. Um ins Haus und in die Wohnung zu gelangen, hätte ich heute keine Schlüssel gebraucht, das sei richtig. Aber ich hätte doch den Briefkasten noch geöffnet und dafür den Schlüsselbund ausgepackt. Hier müsse ich ansetzen und weitersuchen. Und so wurde ich dann auch fündig, wie oben beschrieben.
 
Diesen erleuchteten Augenblick möchte ich als etwas Kostbares behalten. Also in ähnlichen Situationen Ruhe bewahren. Erlebtes soll sich setzen können. Erst danach kann es wieder abgerufen werden. Sich von fixen Ideen lösen und warten, was aus dem Gedächtnis auftaucht. Gedanken kommen und ziehen lassen. Nicht daran haften bleiben.
 
„Nur die Ruhe kann es bringen“, sagt ein schweizerisches Sprichwort. Dieses ist mir gerade jetzt eingefallen, nachdem ich noch auf ein gutes Schlusswort wartete.

Freitag, 4. September 2009

Das Reka-Freibad Albanago: Ideal für alle Generationen

Nach der Heimkehr, wieder in Paris, haben Mutter und Töchter über die Ferien nachgedacht. „Was war das Schönste?" wollte die Mutter wissen. Mena habe viele glückliche Momente aufgezählt. Das „absolut top super liebste Erlebnis“ sei aber das gemeinsame Schwimmen im Freibad gewesen, als sich die ganze Familie, also 3 Generationen, im Wasser tummelte und vor allem auch, weil ihre geliebte Khale (Tante) auch dabei war.
 
Nachdem meine persönliche Schwimmunterricht-Geschichte im zweiten Albonago-Blog bereits erzählt worden ist, knüpfe ich nun dort an, wo ich mich beklagte, man hätte früher nichts getan, um den Schülern das Vertrauen ins Wasser zu vermitteln.
In Albonago (Tessin) organisierte der Schwiegersohn für seine 7-jährige Mena Taucherbrille und Schnorchel und zeigte ihr, wie sie unter Wasser vorwärts kommen kann. Selber ein lustvoller Schwimmer, gelang ihm auf Anhieb, die Angst vor dem Absinken zu vertreiben und das Wasser als Spielplatz erfahrbar zu machen. Ein Glücksfall. Sie begriff sofort, schwamm nun unermüdlich Längen um Längen. Eins mit sich selber und eins mit dem Wasser. Wir applaudierten. Sie hörte kaum hin, wusste nun selber, was sie vollbracht hatte. Ich freute mich für sie. Solche Momente stärken das Selbstbewusstsein. Schön, dass die Familie den Rahmen bilden durfte, in dem sie aufgehoben war.
 
Noras Lieblingsplatz war anfänglich das Bassin für die Kleinkinder. Da sprang sie hinein, als ob das ein Trampolin sei. Ebenfalls unersättlich. Voller Lebensfreude. Später nahm ich sie auf die Treppenstufen ins grosse Bassin mit, die nach und nach ins tiefe Wasser führen. Langsam stieg sie an meiner Hand von Absatz zu Absatz, bis ihr das Wasser am Hals stand. „Tüüf, tüüf!“ (tief, tief!) rief sie glückselig, während Mena und Bappa um die Wette schwammen. Bappa spielte Krokodil, tauchte unter, schwamm vor oder hinter der Tochter her, zielte zu Nora, rief, das Krokodil komme und löste erschrocken-belustigte Schreie aus.
 
Später wurde Nora von Mama im grossen Bassin spazieren geführt. Sie hing im aufgeblasenen Schwimmring und schaute, wie Mena und Bappa unter Wasser verschwanden und wieder auftauchten. Zur gleichen Zeit begann jemand von der Familie, den Wasserball ins Spiel zu bringen. Das elektrisierte sie. Sie wollte ihn fangen, ihm nachspringen und war doch im Wasser. Intuitiv begannen ihre Füsse zu paddeln. Mama spürte, was da vorging und liess die Kleine, die jetzt komfortabel in der aufgeblasenen Schwimmhilfe lag, sachte los, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Und plötzlich merkten wir, dass sie „erlickt“ (entdeckt, erfasst) hatte, wie man schwimmt.
 
Als wir Ende Juli Noras Geburtstag feierten, gab es unter den Geschenken einen ungewöhnlichen Spielball mit einem Gruseleffekt, der vom schlabbernden Material (eine Art Slime, vermutlich ein Silikonprodukt) ausging. Der rosafarbene Ball war ein Kopf, Haare flatterten, wenn man ihn bewegte, und ein freundliches Gesicht machte ihn sympathisch. Nora war zuerst erschrocken. So etwas hatte sie noch nie gesehen, erkannte aber sofort, dass hier etwas Lustiges aufgetaucht war. Sie sagte mehrmals hintereinander vor sich her: „Pas peur! pas peur!“ (Keine Angst, keine Angst!).
 
Faszinierend zu erleben, wie sie die Angst erkannte und ihr Paroli bot. Dieser Schlabberball war für die 3-Jährige hochinteressant. Sie wollte ihn haben, darum wies sie die Angst zurück.
 
Ähnlich geschah es im Wasser. Sie vergass ihre Unsicherheit, als sich das Interesse am grossen Wasserball meldete. Auch ihn wollte sie haben, berühren, fortwerfen, wie sie es gesehen hatte. Und vergass dabei die vorherige Unsicherheit.
 
Diese Beobachtung freute vielleicht mich am meisten. Es war ein Entwicklungsschritt, den ich in Zeitlupe verfolgen durfte. Sich vergessen und vorher noch Angst zurückweisen, scheint ein Erfolgsrezept zu sein. Hätte ich diese Einsicht schon vor rund 60 Jahren gehabt, wäre ich vielleicht eine gute Schwimmerin geworden.
 
Angaben zum Schwimmbad in Albanago: Es ist 9 x 22 m gross und steht für alle Reka-Gäste von Mai bis Oktober täglich von 8 Uhr bis 22 offen.
 
Erwachsene können an der tiefsten Stelle – das Wasser am Hals – noch stehen. Ideal für Jung und Alt. Wir waren nicht die einzigen Grosseltern.
 
Wir schätzten dieses Bad auch, weil es sich innerhalb des Reka-Dorfs befindet, also keinen weiten Anmarschweg verlangt. Viele Familien erfrischten sich nach Ausflügen am Abend noch mit einem wohltemperierten Bad. Auch wir.
 
In diesem Reka-Dorf stehen auch Minigolf/Tischtennis/Streetball/Tischfussball und eine Bocciabahn zur Verfügung.

Und es ist ein Ort mit südlichem Lebensgefühl. In vielen Farben blühte gerade der Oleander. Zur Silhouette dieses Feriendorfes gehören Palmen, Zypressen, Pinien und Feigenbäume. Hier ist der Himmel offen und weit zu erfahren. Der Blick über Lugano. Abgehoben waren wir, wie das zu Ferien gehört.
Reka Albonago ist übrigens vom Schweizer Tourismusverband mit dem Gütesiegel ausgezeichnet worden. Dieses wird ausschliesslich an Betriebe vergeben, die besonders hohe Qualitätsanforderungen erfüllen.



Und zum Schluss verrate ich noch, was Nora antwortete, als auch sie nach dem schönsten Ferienerlebnis gefragt wurde. Sie habe keinen Moment gezögert und sofort gerufen: „Spaghetti!“
 
Ja, im Gasthaus „Miralago“ in Gandria fütterte sie der Grossvater mit Spaghetti con vongole.
 
Nora ist eine Geniesserin. Ihr Denken kreist in erster Linie ums Essen. Es gibt immer wieder lustige Episoden zu diesem Thema mit ihr.

Reka-Ferien Albonago: Freibad weckt alte Erinnerungen

Mena, die siebenjährige Enkelin vertraute mir schon am ersten Ferientag an, dass sie immer noch nicht schwimmen könne. Sie sagte es mit einem gewissen Bedauern und doch bewunderte ich sie. Es war eine Tatsache und sie verschleierte sie nicht. In Paris wird Schwimmen auch unterrichtet, jedoch nur im Hallenbad und so hofften wir zusammen, dass ihr hier in Albonago spielerische Fortschritte gelingen werden. Das grosse Freibad lud geradezu dazu ein.
 
Sagte nicht Mao Tse-tung, jeder Mensch müsse schwimmen können? Ich fühlte mich immer persönlich angesprochen, wenn ich diese Forderung las. Meine Schwimmkünste waren von jeher mager und haben sich bis heute nicht wesentlich entwickelt.
 
Dazu gibt es eine alte Geschichte, die ich Mena erzählen musste. 1950–1951 bekam ich als Primarschülerin in Zürich auch Schwimmunterricht. Dieser fand für die Knaben im See und für die Mädchen in der Limmat statt. Schwimmunterricht im Hallenbad kannten wir noch nicht. Wenn ich mich recht erinnere, war dieser Unterricht bei Temperaturen ab etwa 18 Grad abzuhalten. Die Buben unserer Klasse wurden in die hölzerne Badeanstalt am Bürkliplatz geführt, wir Mädchen ins nahe gelegene Frauenbad am Stadthausquai.
 
Zuerst gab es für uns nur Trockenübungen. Wir mussten auf einen Faltschemel liegen und die Schwimmbewegungen einüben. Später wurden Aluminiumteller mit Löchern auf den Boden des Bades geworfen. Diese mussten wir heraufholen. Unmöglich für mich und meine Augen. Ich kann mich nicht erinnern, dass von unserer strengen Schwimmlehrerin etwas getan wurde, was das Vertrauen zum Wasser hätte fördern können. Vieles wurde beinahe militärisch vermittelt - zack-zack. Ja, es gab Kinder, die mit den Eltern öfters baden gingen und denen hier alles gelang, was vorgeschrieben wurde. Das war bei mir nicht der Fall. Nach und nach gelang es aber auch mir, die Länge des Bades zu schwimmen. Diese auch heute noch schöne Badeanstalt aus Holz gab mir eine gewisse Sicherheit. Ich konnte im Notfall an den Rand steuern und mich dort festhalten. Im Sommer musste dann eine Prüfung abgelegt werden. War sie erfolgreich, bekamen wir das "S", ein Stoffabzeichen, das an die Badehose genäht wurde.
 
Vor dieser Prüfung graute mir. Wir wussten es nicht im Voraus, wann sie stattfinden würde. Das hing vom Wetter und den Temperaturen ab. Eines Tages war es soweit. Wir wurden zur Bubenbadeanstalt am Bürkliplatz beordert. Ich kann mich gut erinnern, wie wir Mädchen dorthin liefen oder trotteten und dort zum niederen Sprungbrett geführt wurden. In Einerreihe traten wir an und nach kurzem Zögern sprang auch ich ins Wasser. Ich kann das Gefühl, das mich damals begleitete, gut hervorholen. Es war keine Angst dabei und das Auftauchen dann ganz angenehm, eine positive Überraschung.
 
Ich schwamm, wie alle anderen, eine leichte Schleife Richtung Quaibrücke, dorthin wo das Seewasser zur Limmat wird. Aber genau unter dieser Brücke verliess mich das Vertrauen, die Frauenbadeanstalt je zu erreichen. Ich schwamm zum Brückenkopf, klammerte mich an ihn und holte tief Atem. Wenn ich heute mit dem Limmatschiff hier durchfahre, frage ich mich jedes Mal, wo um Himmels Willen ich mich festkrallen konnte. Weit draussen im See sah ich einen Fischer in seinem kleinen Boot. Auf ihn vertraute ich. Er wird mich sehen und retten, das war meine Zuversicht.
 
Inzwischen waren die Mädchen meiner Klasse zum Frauenbad zurückgekommen. Die Schwimmlehrerin begleitete die ganze Schar in einem Weidling, hatte aber nicht bemerkt, dass ich zurückblieb. Es dauerte eine für mich lange Weile, bis sie atemlos angerudert kam, mich fand, mich ins Boot zog und zurückbrachte. Es ging nicht ohne wettern und schimpfen. Das war mir egal. Ich konnte es sogar verstehen. Sie hatte sicher Angst, ich sei ertrunken.
 
Die Mitschülerinnen wurden von unserem Lehrer abgeholt. Man fuhr gemeinsam zum Limmatplatz und kehrte ins Kornhaus-Schulhaus zurück. Ich musste zur Strafe in der Badi bleiben, einfach solange, bis es mir gelang, die vorgeschriebene Strecke dieses Bades in einem Zug zu schwimmen. Es gelang mir bald, denn hier war ich heimisch. Dann durfte ich ebenfalls in Schulhaus zurückfahren. Hat mir da jemand ein Tramabonnement gegeben? Ich weiss es nicht mehr. Oder hat mich jemand begleitet? Wenn ich zurückschaue, bin ich ganz allein. Als ich dann ins Schulzimmer trat, waren alle an der Arbeit. Es gab kein Aufsehen. Ich wurde weder ausgelacht, noch beschimpft, nur ruhig angewiesen, meinen Platz wieder einzunehmen.
 
Zu Hause getraute ich mich nicht, von diesem einschneidenden Erlebnis zu berichten. Wer scheitert  schon gern? Wir mussten immer alles rasch begreifen und anwenden können, waren oft überfordert, im Stress, auch wenn wir dieses Wort noch gar nicht kannten. Anfänglich plagten mich Bauchschmerzen. Ich konnte den Darm ein paar Tage nicht mehr entleeren. Aber irgendwann renkte sich alles wieder ein. Ich schwieg darüber, schloss das Erlebte als Geheimnis in mich ein.
 
Das ist meine Geschichte. Die hölzerne Männer- und Knabenbadeanstalt am Bürkliplatz gibt es schon lange nicht mehr. Eines Tages sackte sie ab. Die metallenen Schwimmtanks waren durchgerostet und trugen das Gebäude nicht mehr. Der ganze Komplex wurde entsorgt. Und ganz allgemein freute man sich dann an der freien Sicht auf den See.
 
Es war ganz still, als ich dieses Erlebnis zu Ende geschildert hatte. Das Mitgefühl von Mena, aber auch von unseren Töchtern Felicitas und Letizia war spürbar und wohltuend.
 
Wie sich Mena und Nora im Freibad entfalteten, erzähle ich in einem nachfolgenden Blog.

Donnerstag, 3. September 2009

Tonen: Unverhofft zeigte sich der Geist von Albonago TI

Er zeigte sich mir in einer Figur aus Lehm, die ich spielerisch geschaffen hatte. Im Reka-Dorf Albonago im Tessin, wo wir unsere diesjährigen Familienferien verbrachten, wurde nebst den Rekalino-Programmen für Kinder auch eines für Erwachsene angeboten. „Tonen im Freien“. Tonen heisst mit Ton (Lehm) arbeiten.
 
Die Sozialpädagogin und Maltherapeutin Jasmine Them Schmid leitete unsere Gruppe (10 Personen) an, eine Kugel zu formen. Sie zeigte den handwerklich richtigen Weg. Aufbauend, wie sich alles in der Natur entwickle. Schichten um Schichten wurden so zusammengefügt und zusammengeknetet, dass nach und nach die Kugelform entstehen konnte. Wichtig sei diese Bearbeitung, damit die Luft aus dem Material verdrängt werde. So wird Brüchigkeit verhindert. Auf keinen Fall soll ein Stück Lehm nur vom grossen Klumpen abgetrennt und sofort zu einer Kugel gerollt werden. Zu einfach. Der Lehm brauche unsere Hände, unsere Berührung, das Kneten, Formen, Spielen.
 
Auf halbem Weg zur Kugel hatten wir unser Werkstück in die rechte Hand und eine zweite von der Nachbarperson in die andere entgegenzunehmen, um sie zu fühlen und zu vergleichen. Gewicht und Form in der Hand zu erspüren, zu vergleichen. Erstaunlich. Wir begannen alle mit einem ungefähr gleich grossen Stück Ton. Die Gewichte fühlten sich dann aber ganz verschieden an. Es gab Kugeln, die leicht geworden waren, andere empfand ich schwer und dumpf.
 
Ich selbst war da erst auf dem Weg zur Kugelform, liess meine Hände ohne Befehle aus dem Kopf etwas machen. Es entstand ein Vielflächner, weil ich die Tonmasse gerne auf den Tisch klatschte. Die Kursleiterin bemerkte diese Abart und sie gefiel ihr. So blieb ich ihr einigermassen treu und wollte die Kugelform gar nicht mehr erreichen.
 
Neben mir werkte Nora in Zusammenarbeit mit dem Grossvater. Das 3-jährige Kind liebt Knetmassen über alles, kann sich damit verweilen, weil sie wandelbar sind und der Fantasie folgen können. Was da entstand, war einzig das Produkt der sinnlichen Erfahrung, der spielerischen Sprache von Händen und Fingern.
 
Trotzdem wunderte ich mich, wie Nora mitmachte und zu Beginn sogar sehr aufmerksam auf ihrem Stuhl sass und zuhörte. Für sie wurden 3 Plastikstühle übereinander geschoben. So sass sie mit den Erwachsenen auf gleicher Höhe. Nora erschien mir an diesem Abend älter, erwachsener und zu allen Spielereien, die Grossvater für sie einbaute, bereit. Sie störte niemanden. Tagsüber erlebten wir sie als Wiesel, umtriebig und gerne als Anführerin.
 
Nächster Schritt für uns alle, nachdem die Kugelform erreicht war: Spuren anbringen, Spuren zulassen. Nora und Grossvater rollten ihre Kugeln auf dem Kiesweg vor sich her. Einerseits setzten sich Kiesel fest, andererseits verpassten die Steine Grübchen, Löchlein, Striche usw. Ich drückte meine Masse an die grobe Hauswand mit ihren Steinquadern und rollte sie später einen Abhang hinunter. Und dann zeigte sich der Geist. Es hatten sich 2 markante Augen eingegraben, die Stirne trat hervor, eine Nase war eingezeichnet, nur der Mund fehlte. Den ritzte ich ein. Die Form eines Kopfes war ohne mein Zutun entstanden. Sie gefiel mir. Sofort erkannte ich eine alte, wissende Persönlichkeit. Ihre Gesichtshaut voller Runzeln. Alt und doch auf eine eigene Art lebendig. Der Ausdruck freundlich. So habe ich mein Werk belassen.
 
Es wurde ruhig gearbeitet. Obwohl wir kaum miteinander sprachen, fühlten wir uns verbunden und tags darauf, als wir uns im Reka-Dorf wieder begegneten, waren wir Bekannte.
 
Dieses Reka-Gelände ist ansehnlich. Auf einer Fläche von 33 000 m2 stehen 43 Ferienhäuschen und Ferienhäuser. Es befindet sich am Hang des Monte Brè, ungefähr auf halber Höhe.
 
Später konnte ich Frau Schmid nochmals treffen. Sie erzählte mir von ihren Motiven und Erfahrungen als Sozialpädagogin. In diesem Feriendorf ermöglicht sie den Kindern spielerische Konzentration, spielerisches Zusammenfinden, schöpferisch tätig zu sein. Hier gibt es keine Wertungen wie in der Schule. Alle Werke sind Originale, gehören zur Person, die sie geschaffen hat. Sie sind Ausdruck unserer Verschiedenheit.
 
Das gerade aktuelle Rekalino-Programm für die Kinder war mit dem Thema „Spuren“ überschrieben. Kinder in der Gruppe ab 6 Jahren haben sich darüber Gedanken gemacht. Welche Spuren hinterlassen Menschen, welche Tiere?
 
Abfall auf Strassen, Streifen am Himmel, Schmutz in der Luft, der Kuhfladen auf der Wiese und überall, wo wir nicht aufräumen, nicht sauber sind. Andererseits sind die kleinen Kunstwerke, die Kinder manchmal herstellen, Spuren ihrer Entwicklung, die wir erst später deuten können.
 
Wie ich verstand, wurden auch Steine spielerisch ausgelegt, um den Weg, der gegangen worden ist, später wieder zu finden. Dafür sind Ferien auch da, dass wir Zeit haben, solche Erfahrungen zu machen. Die Hast ablegen und in scheinbar unwichtigem Tun den Sinn zu finden oder sogar dem Geist von Albonago zu begegnen.
 
Frau Schmid sagte mir, sie habe 2 Wege vor sich gesehen, ihren Beruf als Sozialpädagogin auszuüben: In einem Heim, als „Feuerwehrfrau“ oder als Therapeutin, die Erfahrungen und Werte vermitteln und vorbeugen will, dass die „Feuerwehr“ gar nicht gerufen werden muss. Diesen hat sie gewählt.
 
Hinweise

Samstag, 22. August 2009

Die Anrufe aus den Call-Zentren nenne ich „Telefon-Terror“

Ich bin vorbelastet, habe kein Vertrauen in Angebote an der Haustür oder am Telefon. In meiner Jugend sah ich zu viele unseriöse Hausierer, die Frauen und Männern unnötige Dinge aufgeschwatzt haben.
 
Heute sind Haustürvertreter seltener anzutreffen, aber die Telefonanrufe aus den Call-Zentren nehmen zu. Und sie stören. Sie unterbrechen oftmals knifflige Arbeitsprozesse im ungünstigsten Augenblick. Und sie sind lästig, weil sie Angebote machen, ohne dass diese erwünscht sind. Ich kaufe nichts, das mir am Telefon von unbekannten Menschen angeboten wird. Es muss mir auch niemand ein Bedürfnis weismachen. Wenn ich etwas brauche, suche ich danach und zwar unabhängig und selbstständig.
 
Im vergangenen Juli 2009, als wir die an die Werkstatt gerichteten Telefonanrufe mit Service 21 nach Hause umleiteten, gab es keinen Tag ohne diese unerwünschten Angebote.
 
Wegen meinem italienischen Familien-Namen wurde ich mehrmals in der Du-Form begrüsst: „Tu sei Rita?" (Du bist Rita?), offenbar um sofort ein kollegiales Klima zu schaffen und Bekanntschaft vorzutäuschen. In diesem Fall erreichte die Anrufende das Gegenteil. „Ich cha nüd Italienisch!“ (Ich spreche nicht Italienisch), so meine etwas barsche Reaktion. Sofort wurde das Telefon beendet.
 
Ein andermal rief ein Mann mit demselben italienischen Gruss an und schaltete sofort auf Hochdeutsch um, als ich im Dialekt antwortete. Aussergewöhnlich höflich, ohne dass es aufgesetzt wirkte.
 
Er wolle Herrn Lorenzetti sprechen. Der sei im Ausland. Um was es gehe? Ich sei die Ehefrau. Er könne ihm attraktive Krankenkassenprämien vermitteln und möchte deshalb einen Berater zu ihm schicken. Er nannte einen bekannten Namen. Aber wir seien doch schon jahrelang Mitglied exakt bei dieser Krankenkasse. Das sehe er eben nicht (auf seinem Bildschirm).
 
Und zudem sei ich für diese Sparte zuständig. „Ah, Sie sind der Finanzminister!“ wollte er auch noch wissen. So sei es. Ob wir denn mit den Versicherungsleistungen zufrieden seien. Das könne ich nicht beantworten, denn wir hätten noch keine grossen Leistungen gebraucht, keine Operationskosten, keinen Spitalaufenthalt. Zudem seien wir 70- und 71-jährig. Da lasse man sich nicht mehr auf Experimente ein. Klipp und klar sagte ich abschliessend: „Es gibt hier nichts zu ändern.“
 
Nachdem er uns zu unserer Gesundheit noch gratuliert hatte, wollte er wissen, wann denn mein Mann wieder in der Werkstatt anzutreffen sei. In ungefähr 2 Wochen. „Gut! Ich werde danach bei ihm anrufen und mit ihm sprechen.“
 
„Und dann" fuhr ich weiter, „wird er zu Ihnen sagen: Fragen sie meine Frau! Dafür ist sie zuständig.“
 
Er hat nicht mehr angerufen.
 
Obwohl das Gespräch sehr freundlich verlief, störte es mich doch extrem, dass nur der Familienvater für die Versicherungen zuständig sein soll.
 
Ich nahm mir vor, kein Gespräch mehr ausufern zu lassen und gleich zu Beginn klipp und klar zu sagen: „Ich gehe auf keine Telefon-Angebote ein. Wir müssen das Gespräch beenden. Adiö!“

Donnerstag, 6. August 2009

Französischkurs: Mit den Enkelkindern Zeit verbringen

Nora ist die zweitgeborene Enkelin. Eine vife Person, mit der ich mich gut verstehe. Aber manchmal mache ich einen Fehler. Ich nenne sie "Mena". Mena ist aber ihre 4 Jahre ältere Schwester. Auch ihrer Mutter passiere das manchmal, dass sie den falschen Namen ausspreche. Dann antwortet Nora souverän. Sie korrigiert wie eine gute Lehrerin. Sachlich weist sie auf den Irrtum hin und arbeitet jeweils weiter an der Sache, mit der sie sich gerade beschäftigt. Ohne aufzuschauen und uns anzuschauen, ohne zu reklamieren. Nora ist 3-jährig.
 
Sie spricht französisch, ohne jedoch schon Sätze perfekt formulieren zu können. Die Korrektur tönt dann so: „Mena: Anna Sophia, c'est Nora, c'est moi.“
 
Sie will sagen: Mena sei bei Anna und Sophia in den Ferien und die da spreche, sei Nora, c'est moi. (Das bin ich.)
 
Als wir das erstmals hörten, waren wir verblüfft und begeistert zugleich. Wiederholungen hat es gegeben. Sie verliefen jedesmal in gleich ruhiger Art. Und jedesmal freute ich mich, wie sich das Kind den eigenen Platz sichert.
 
Für mich ist es spannend zu erleben, wie sich die Sprache entwickelt, wie sich kleine Kinder ausdrücken und wie wir einander verstehen. Nora spricht grundsätzlich auf französischer Basis. Das ist die Umgangssprache in ihrem „Atelier“, einer betreuten Spielgruppe in Paris. Schweizerdeutsch hört sie von ihrer Mama. Während dem Aufenthalt bei uns Grosseltern fing sie zusätzliche schweizerdeutsche Begriffe auf und benützte sie an passender Stelle.
 
Einmal gingen wir miteinander einkaufen. Auf dem Weg schauten wir Bauarbeitern zu, wie sie Erde umgruben und im Bagger wegführten Ich erklärte dem Kind, hier werde eine Schule gebaut. Sie konnte das verstehen. Ich redete Schweizerdeutsch, und sie antwortete auf Französisch.
 
Das Wort Erde faszinierte sie. Sie nahm es in den Wortschatz auf. „Ärchde“, tönte es aus ihrer Kehle. Sie genoss den Klang dieses Worts, sprach es mehrmals aus und formatierte wohl damit ihren Hals für die schweizerdeutsche Sprache. Zu Hause dann berichtete sie der Mama von dieser Ärchde und vom Bagger, dem sie den Namen „camion-pelle“ gab. „pelle“ ist ihre kleine Schaufel, mit der sie im Sand spielen kann. Die Kombination der Schaufel mit dem Camion ist eine echte Wortschöpfung. Ich kann nur staunen.
 
Lachen kann ich über ihre Antwort, wenn sie ein Angebot ausschlägt: „Pas d'envie!“ (Keine Lust!), ebenso, wenn sie etwas holen muss und verhindern will, dass ich mich vom eingenommenen Platz entferne. Da heisst es dann in ganz ungelenkem Französisch: „Grosy attend 5 minutes, moi." Ich (Grosy = Grossmutter) solle 5 Minuten auf sie warten.
 
Weniger salonfähig ist der Ausdruck „pousse-toi!“ (hau ab!), wenn sie sich wehren muss. Der Existenzkampf beginnt schon früh.
 
An einem weiteren Tag sass ich mit Nora auf einer Steinbank vor dem Lebensmittelladen. Wir assen ein kleines Gebäck und beobachteten einen Hund, der angebunden auf seine Meisterin wartete. Er winselte, jammerte, war ungeduldig. Lange schauten wir ihm zu, wie er Angst hatte, total allein gelassen zu werden. Nora nahm Anteil an diesem Wesen, fühlte mit ihm.
 
Da unterbrach eine alte Frau, vermutlich aus Ex-Jugoslawien, unsere Beobachtung und sprach mich an. Auch sie habe sich um Enkel gekümmert, viel Zeit aufgewendet, mit ihnen alles geteilt, sie manches gelehrt, wie ich das eben auch mache und heute ....? ... sei sie nur noch die dumme Grossmutter. Dann ging sie weiter, schaute nicht mehr zurück. Wie traurig für sie.
 
Wenn ihre Enkel gerade in der Pubertät sind, sei ihnen verziehen. Wenn sie aber alles Gute verkennen, das ihnen diese mütterliche Frau geschenkt hat, dann sind sie zu bedauern.
 
Am besten, wir erwarten keinen Dank. Dann können wir nicht enttäuscht werden. Und wenn wir's genau überlegen, ist der Dank doch inbegriffen, wenn wir miterleben dürfen, wie Entfaltung geschieht. Manchmal leise, beinahe unbemerkt und doch stetig und plötzlich Überraschung auslösen kann.

Mittwoch, 29. Juli 2009

Manchmal werden Altstadt-Spaziergänge zu Begegnungen

Vergangene Woche holte ich am Empfang einer grossen Unternehmung eine Arbeit für unsere Werkstatt ab. Während ich wartete, bis sie mir ausgehändigt wurde, schaute ich mich im gepflegten Eingangsbereich etwas um. Es war halb 9 Uhr am Morgen. Noch bevor die Angestellten nach und nach eintrafen, erschien ein Chef, den ich vage kannte. Er kontrollierte diesen Ort. Ein Paket, an die Seitenwand der Theke angelehnt, störte ihn. „Was steht hier herum?" fragte er ungeduldig. Es werde in einer Stunde abgeholt, informierte die Telefonistin.
 
Nur wegen der gereizten Stimme schaute ich diesen offensichtlich pedantischen Mann näher an. Er war fein und gleichzeitig originell gekleidet. Und doch störte etwas an ihm. Er trug ungeschnürte, hellgelbe Turnschuhe.
 
Gerne hätte ich zu ihm gesagt, bevor er eine freundliche Angestellte barsch anfahre, sollte er doch zuerst seine Schuhe binden. Wer Perfektion fordere, sollte sie auch vorleben. Da wäre ich aber schön in eine Falle getappt.
 
Tags darauf bin ich in einem Modemagazin auf einen ähnlichen Turnschuh gestossen. Wieder ohne Schuhbändel. Die Zunge vermutlich fest verleimt. Später klärte mich unsere Tochter Letizia darüber auf, es handle sich um den beliebten Turnschuh aus den 1980er-Jahren, der nur leicht verändert ein Revival erfahren habe. Und jetzt ein „Must-have“ geworden sei.
 
Eine Woche später schlendere ich mit Primo durch die Altstadt. Im Oberdorf ziehen mich wieder Turnschuhe in ihren Bann. In einem Schuhgeschäft sind sie so variantenreich und in vielen Farben vorhanden, dass sie 2 grosse Schaufenster füllen. Später wundere ich mich selbst, dass ich mit diesem „absoluten Schuhtrend“ in Berührung gekommen bin. So erzähle ich meinem Ehemann, vor den Auslagen stehend, die oben beschriebene Geschichte. Hier konnte ich ihm drei Modelle zeigen, die ohne Schnürsenkel auskommen.
 
In dieser Zeit beobachteten uns 2 Männer, die vom Alter her unsere Söhne sein könnten. Plötzlich standen sie neben uns und erkundigten sich, was der Grund unseres Interesses sei? Der zum Schlupfschuh gewordene Turnschuh. Keine Ahnung. Sie kannten die Neuauflage des beliebten Turnschuhs aus den 80er-Jahren nicht. Obwohl jetzt absoluter Schuhtrend. Als ich davon redete, war ich von dieser Mutation schon so begeistert, dass mein Hinweis wie Reklame wirkte. Meiner Natur entspricht eben ein Schuh, der keine besondere Zuwendung verlangt, also schnell angezogen ist. Damit erkläre ich den Männern mein Interesse.
 
Sie lachten verschmitzt über sich, weil sie uns falsch eingeschätzt hatten und nicht glauben konnten, dass Männer oder Frauen aus ihrer Elterngeneration auch noch Interesse an Mode, Veränderungen und Neuerungen hätten. Sie waren verblüfft, dass wir auf einen Modetrend hinweisen konnten. (Letizia sei Dank.) Sie erwarteten, dass wir Turnschuhe ablehnten, allem Neuen gegenüber skeptisch seien und wollten uns belehren. Unsere Antworten machten sie eine Weile sprachlos.
 
Einer der Männer hat in einem Call-Center gearbeitet und stellt offensichtlich immer noch gerne Fragen. Er wollte unser Alter wissen, ob wir ein Paar seien und wie lange wir schon zusammen lebten. 47 Jahre. Oh! ... Nach dieser Antwort wollte er auch noch wissen, wie man eine gute Partnerschaft gestalte. Ihm sei es noch nicht gelungen. Dann wurde auch noch gefragt, ob wir einen Computer hätten, und als ich auf unsere Homepage www.lorenzetti.ch hinwies, war die Verblüffung komplett.
 
Vermutlich standen wir mit diesen Männern eine halbe Stunde zusammen und fühlten uns danach fröhlicher als vordem, auf eine Art erfrischt. Ihnen mag es ähnlich ergangen sein. Wir gaben einander unsere www-Adressen und werden vielleicht wieder einmal voneinander hören.
 
Uns beiden ist gemeinsam, dass wir eine Situation zuerst komplett falsch einschätzten und die Korrektur lachend annehmen konnten.

Freitag, 17. Juli 2009

Ferienzeit: Die Kinder können nun ihre Träume ausleben

Schulferienzeit. Es ist still geworden in meiner Umgebung. Das Kinderlachen verstummt. Die Schaukel im Umfeld des Nachbarhauses verwaist. Die Schulhäuser geschlossen. Aus unserem Quartier mit seinem hohen Ausländeranteil werden viele Familien in ihre Heimatländer gereist sein. Hier fühlt es sich momentan wie in einem Bergdorf an.
 
Und es regnet. Die Temperaturen sind zurückgegangen. Mit dem Gedanken an die Bergdörfer frage ich mich, wie es sich jetzt für Pfadfinder in Zeltlagern anfühle und wie die Schlechtwetter-Programme aussehen.
 
Solche Gedanken führen mich in jene Zeiten zurück, als die Töchter noch zur Primarschule gingen und wir Eltern für sinnvolle Ferien verantwortlich waren. Und ihre eigenen Initiativen unterstützten.
 
In einem trockenen Sommer, als die Limmat wenig Wasser führte, bauten sie, zusammen mit befreundeten Kindern, eine Ruinenstadt. Sie schichteten am ausgetrockneten Flussrand Grundrisse von Häusern auf. Jedes Kind nahm sich seinen Bereich und grenzte ihn mit Steinen aus dem Flussbett ab. Darin wurde gewohnt, gespielt, gegessen und einander besucht. Und draussen dienten Rindenstücke, Teile von Ästen und Blättern als Schiffe, die die Limmat mit auf ihre Reise nahm. Es war ungefährlich. Die Kinder vergnügten sich tagelang. Viele Jahre, auch nachdem der Fluss zeitweise zu einem reissenden Strom geworden war, suchten wir nach Zeugen jener Zeit. Erstaunlich lange konnten wir sie noch finden. Das war auch ein Ziel. Die Kinder hofften, dass Archäologen diesen Ort einmal fänden und ihn als Römersiedlung interpretierten.
 
Erstaunlich auch, dass unser zukünftiger Schwiegersohn dieses Thema schon beim ersten Besuch bei uns im Bernoulli ansprach und sich wünschte, den Ort (am Fischerweg in Zürich) zu sehen.
 
Die Schulkameradin Jasmin und ihr kleiner Bruder kamen auch einmal zu Besuch in diese Ruinenstadt. Dem Kleinen gefiel es nicht. Es störte ihn vermutlich, dass sich seine Schwester nicht mehr nur ihm widmete. So deutete ich seine Reaktion. Unmutig riss er in Felicitas Wohnung einen „Zoccolo" (Holzschuh aus der Südschweiz) an sich und warf ihn ins Wasser. Dort schwamm das Raubstück wie ein kleinens Dampfschiff davon. Als Jasmins Mutter davon erfuhr, meldete sie sich und bot Ersatz an. Felicitas durfte mit ihr in die Stadt fahren und bekam dort das neueste Holzschuhmodell aus Schweden. Wunderschön, grün, noch nie gesehen. Die 6 Jahre jüngere Letizia staunte und sagte freimütig: „Hoffentlich wirft mir Robert meine Zoccoli auch noch ins Wasser."
 
Ein andermal wurde in unserem Garten ein Zirkuszelt eingerichtet. Leintücher wurden aufgespannt. Es wurde ein Programm ausgedacht, ein Programmheft gestaltet und Kunst- und Zauberstücke trainiert. Unglaublich, wie Kinder sich vielen Details widmen, wenn sie sich selbst ein Ziel gesetzt haben. Das Programmheft gibt es heute noch. Ich hatte es aufbewahrt und konnte es nun zurückgeben. All die Vorarbeiten waren vermutlich viel intensiver als die Aufführung selbst.
 
Einmal, zu Beginn der Ferienzeit, schlug ich vor, dass wir in unserem Garten ein kleines Restaurant führen könnten. Sofort waren die Mädchen begeistert. Wir brauchten ein Restaurant-Schild mit der Aufschrift „Gasthaus zur Sonne" und eine vornehme Speisekarte mit dem Tagesmenu. Es gab viel zu schreiben, zu malen und zu dekorieren. Und ein schönes Tischtuch war auch gefragt. Der Erfolg war viel grösser als erwartet. Ausgelöst auch durch das italienisch temperierte Hallo von Primo, als er zum Essen nach Hause kam. Sofort liess er die Rolle als Familienvater fallen und liess sich als Gast in einem guten Haus beraten und bedienen. Nachbarn hatten uns schon lange beobachtet und klopften nach dem Mittagessen an unser Gartentor. Das markierte Gasthaus wirkte einladend. Sie kamen, wünschten Kaffee, plauderten, hatten Zeit und genossen diese Abwechslung. Das Servierpersonal aber war müde. Als dann alle Gäste weggegangen waren, atmeten die Mädchen auf. Aber gerade als sie die Wirtshaustafel abhängen wollten, kam noch Johann Buob daher. Der letzte Bauer vom Förrlibuck. Auch er ein willkommener Gast, vor allen für mich. Noch heute freue ich mich, dass er uns besucht hat. Bedächtig gehend, kam er an unseren Tisch und bestellte, augenzwinkernd, ein geistiges Wasser. Den Kirsch füllte ich für ihn in das kleine chinesische Trinkgefäss, das zu trillern anfängt, sobald getrunken wird. Das kannte er noch nicht. Es gefiel ihm, uns mit diesem Vogelgesang zu unterhalten und liess sich gerne mehrmals einschenken.
 
Die Kinder waren in der Zwischenzeit verschwunden, überliessen mir das Geschäft. Es sei sehr anstrengend gewesen.
 
In der Erinnerung sehe ich Herrn Buob auf seinen Stock gestützt, langsam heimwärts gehen und dann entschwinden. Gerade so, wie es meine Geschichten jetzt auch tun. Sie gehen dorthin zurück, wo sie gut aufgehoben sind.

Dienstag, 7. Juli 2009

Ausflug mit Frauen: Die Wallfahrt zu Orten am Jakobsweg

Die Jakobsmuschel ist überall gut bekannt. Feinschmecker lieben diese Meeresfrucht, und Wallfahrer schätzen ihr Symbol als Wegweiser auf dem Weg nach Santiago de Compostela (wikipedia.org/wiki/Jakobus_der_Ältere).
 
Ich freue mich immer, wenn ich dieses Zeichen an Wegkreuzungen erblicke. Dieser Pilgerweg, der vielen Menschen hilft, zu sich selbst zu finden, ist mir sympathisch. Einzelne Wegstücke innerhalb der Schweiz habe ich selber auch begangen, nach Santiago de Compostela bin ich allerdings noch nicht gekommen.
 
Auch unsere rutschfeste Plastikmatte im Badezimmer trägt die Jakobsmuschel. Wenn ich auf dieses plastische Symbol stehe, drücke ich es auf den Boden und verhindere, dass ich ausrutsche. Warum diese Matte mit der Jakobsmuschel geschmückt ist, weiss ich nicht. Vielleicht wegen des Bezugs zum Wasser, in dem sich die Muschel entwickelt. Vielleicht war sie als Mitbringsel von Santiago geschaffen. Gekauft habe ich sie in einem Ramschwarengeschäft. Sie hat mir gefallen, weil sie farblich keine dominante Rolle spielen will und mir dienen kann. Seit letztem Donnerstag spricht sie mich jetzt anders an. Sie erinnert mich an eine schöne Ausfahrt nach Beuron und Bärenthal-Gnadenweiler. Auch Orte am Jakobsweg.
 
Eingeladen von meiner Freundin und im Gefolge einer Frauengruppe führte die Reise ins deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Mütter und vermutlich auch Grossmütter schenkten sich einen freien Tag. Auch ich schob für diesen alle Aufgaben und Arbeiten zur Seite und genoss es, dass andere Weg und Ziel schon definiert hatten. Auf mir lastete diesmal keine Verantwortung. Tapetenwechsel. So nannten wir früher einen Ausflug. Das eigene Umfeld wurde zugunsten von unbekannten Orten, Räumen und fremder Architektur einfach für eine Weile ausgeklinkt.
 
Die Fahrt im Bus wurde am Rheinfall in Neuhausen (Kanton Schaffhausen) unterbrochen. Wir trafen am frühen Morgen ein. Es war noch ruhig. Touristenströme kamen später an. Die Morgensonne leuchtete gerade in die schäumenden und tosenden Wasser hinein und verpassten dem grössten Wasserfall von Europa eine glitzernde Aura. Von meinem Sitzplatz auf der Terrasse konnte ich beobachten, wie der breite Strom aus seinem Bett heraus- und herunterstürzte. Von einem Menschen würde ich sagen, dass er ahnungslos dahergekommen sei. Die Wassermassen schienen ihren Spass zu haben. Das träge Dahinfliessen wurde, einem Spektakel gleich, für eine Weile unterbrochen.
 
Beuron D fuhren wir über die Schwäbische Alb an. Eine der Organisatorinnen ist mit diesem reizvollen und unverdorbenen Landstrich familiär verbunden; darum konnte sie den Chauffeur unseres Autocars dazu bewegen, die Route über diese Alb zu benützen. Die Fahrt hinab ins Tal beeindruckte ebenso. Am meisten, als wir der jungen und lieblichen Donau begegneten und mit Abstand die Wucht des Felsgesteins, aus dem wir eben herunter- und herausgekommen waren, sahen. Für mich hat dieser Ort Ähnlichkeit mit der Doubs-Landschaft in der Schweiz, angrenzend an Frankreich. An beiden Orten markieren Juragesteinswände mit bizzaren Formen ein Tal. Und hier stehen auf besonders markanten Felsen wuchtige Burgen und Schlösser.
 
Zur Mittagszeit trafen wir in Beuron ein. Ein geschichtsträchtiger Ort mit imposanter Klosteranlage. Mir war bis anhin nur der Beuroner Kunstverlag, vor allem wegen seiner Kunstkarten und Kunstbücher, bekannt. 
 
Besuch der Wallfahrtskirche. Für uns gab es keine Führung und auch keinen Gottesdienst. Einfach etwas verweilen war angesagt. Jahreszahlen und architektonische Zuordnungen vergesse ich ohnehin schnell wieder. Aber dasein und einen spiritueller Raum auf sich wirken lassen, das ist gut.
 
Ein feines und leichtes Mahl erwartete uns im Gäste- und Tagungshaus „Maria Trost“, das ebenfalls auf eine lange Vergangenheit zurückblicken kann. Herr Peter Zimmermann, der mit seiner Frau zusammen dieses Haus führt, erzählte uns sehr eindrücklich aus deren Geschichte und verriet uns etwas von seinem persönlichen Engagement, dieses zu erhalten und weiterzuführen.
 
Mit fühlbarer Hochachtung und Respekt wies er auf Besuche von Edith Stein hin, die sich in Beuron und explizit auch in diesem Haus wohl fühlte. Die Strasse, an der das Gasthaus steht, trägt ihren Namen. Und eine Gedenktafel hält ihr Andenken wach. (Edith Stein: Philosophin, katholische Nonne jüdischer Herkunft. In Auschwitz ermordet. Wurde von der katholischen Kirche heiliggesprochen.)
 
Das eigentliche Ziel unserer Reise signalisierte uns in Gnadenweiler ein luftiger Fahnenwald in gebührendem Abstand zum Heiligtum „Maria, Mutter Europas“, das vor kurzem erschaffen und 2008 eingeweiht worden ist. Noch jung und doch schon von voller Ausstrahlung. Ein lichtdurchfluteter Bau, der Innen und Aussen verbindet. Ein aus den Schriften des alten und neuen Testaments gültig übersetztes Bauwerk für die Menschen von heute. Ein Zeichen in der Landschaft zu Ehren Europas.
 
Bilder, die im Internet zur Verfügung stehen, vermitteln mir die wahre Ausstrahlung dieses Orts nicht ganz so, wie ich sie gesehen und gefühlt habe. Sie ist grösser. Landschaft, Architektur und Glaube sind an diesem Ort vereint. Und die barocke Marienfigur aus der „alpenländischen Schweiz“ verbindet alle hier anzutreffende Detailtreue theologischer Aussagen und wandelt sie zu einem lebendigen Heiligtum.
 
Mir persönlich sind die weiblichen und mütterlichen Elemente in der Religion wichtig, weil sie sich um das echte Leben sorgen.
 
Dieser Beitrag ist mit vielen Links versehen. Die Reise soll für Leserinnen und Leser nachvollziehbar werden. Mein Bericht soll Unaussprechbares nicht zerreden. In diesem Sinne hat es mir entsprochen, dass alle Orte, die wir besuchten, nicht mit tausend Worten übergossen worden sind.
Ein Buch zum Thema
Hinweis auf einen kleinen, grafisch ansprechenden Bildband, der alle Grundlagen und das Werk selbst beleuchtet. Fotos und Texte: P. Notker Hiegl: „Maria, Mutter Europas“, ISBN 978-3-87071-183-2.