Freitag, 27. März 2015

Von Menschen, ihren Geschichten und ihren Welten


Vor ein paar Wochen wurde mir das nur noch antiquarisch käufliche Buch Von der Aare bis zur Wolga zum Lesen übergeben. Die Lebensbeschreibung eines wandernden Schweizer Handwerkers. 1938 im Verlag Walter Loepthien, Meiringen und Leipzig, erschienen. Ein Juwel.
Hans Hermann Eichenberger ist der Erzähler der eigenen Lebensgeschichte. Eduard Röthlisberger bearbeitete seine von Hand geschriebenen Aufzeichnungen. Ob Röthlisberger der Verleger oder ein Schriftsteller war, ist mir nicht bekannt.
 
Er berichtet im Vorwort („Zum Geleit“), vom Besuch „eines Mannes, nahe der Grenze des patriarchalischen Alters“, der ihm 4 umfangreiche Hefte vorlegte. Er bat um Durchsicht seiner Erinnerungen und wollte wissen, ob Röthlisberger diese durchlesen und vielleicht verarbeiten wolle. Viele seiner Bekannten hätten ihn gedrängt, seine aussergewöhnlichen Erfahrungen aufzuschreiben. Er sei 24 Jahre lang als Handwerksbursche in der weiten Welt herumgekommen. Geboren wurde er 1860 in Zofingen, Kanton Aargau.
 
Röthlisberger erwärmt sich nach und nach für diesen alten Mann. Er nennt ihn Greis. Im Vorwort schrieb er: „Mit Händedruck scheiden wir. Unverzüglich vertiefe ich mich – es ist abends 6 Uhr, als ich damit beginne – in das Manuskript. Es ist nicht leicht, sich dem durch das Fehlen fast jeglicher Interpunktion entstandenen Wirrwarr zurechtzufinden. Unbekümmert um die elementarsten Gesetze der Orthographie ist das Ganze niedergeschrieben. Ich lese und lese und bin gefesselt, denn aus diesen Blättern spricht eine Lebensauffassung von geradezu erschütternder, fast kindlicher Einfachheit. Ich wende das letzte Blatt um, als draussen der neue Tag heraufdämmert."
 
„Eichenbergers Aufzeichnungen erschienen dann unter Beibehaltung seines Stils, jedoch in einer flüssigeren Form und unter seinem Namen.“ Röthlisberger begleitete das Kunstwerk dieses Mannes respektvoll in die Welt hinaus.
 
Schon das Geleitwort strahlt Aussergewöhnliches aus. Es packte mich. Ich las es Primo vor. Und sofort waren wir uns einig, dass dieses Buch mit seinen 146 Seiten vorgelesen werden muss. So hielten wir es. Die Geschichte wurde für uns lebendig. Es entstand ein gemeinsames Erlebnis, und wir freuten uns auch, dass wir die alte deutsche Frakturschrift immer noch problemlos lesen können.
 
Alle Erlebnisse sind kurz und bündig, dicht beschrieben und packten uns in ihrer Einfachheit. Auch wir erwärmten uns für diesen unerschrockenen, offensichtlich freundlichen und tüchtigen Mann.
 
Als er auf die Welt kam, waren die Verhältnisse in seiner Familie alles andere als intakt. Sein Vater starb, noch bevor er 2 Jahre alt war. Von seiner leiblichen Mutter wird in seinen Aufzeichnungen nicht gesprochen. Von der Stiefmutter schon. Einer Person, die dem gängigen Bild der Stiefmütter aus den Märchen entsprach.
 
Zank und Streit müssen Dauergäste gewesen sein. Nur bei der Grossmutter fand Eichenberger Liebe und viel Verständnis. Ihr durfte er alles berichten und seine Anliegen anvertrauen. Umso trauriger dann ihr Tod. Ein grosser Verlust. Er schrieb dazu: „Am Morgen des Sterbetages ging der Grossvater ins Dorf, um entsprechend dem Brauch zur Leiche anzusagen. Der Bruder marschierte derweil nach Wildegg zum Doktor. Ich legte mich zu der toten Grossmutter ins Bett, hielt ihren Hals umschlungen, klagte ihr, nun sei ich ganz allein und weinte bitterlich.“
 
Glück aber brachte ihm der Beruf. Es bot sich die Gelegenheit, eine Lehre als Kupferschmied anzutreten. Mir war das recht, schrieb er.
 
Freude am Formen und Gestalten, Freude an seinem Beruf, sie ermöglichten ihm, sich grosse Wünsche zu erfüllen. Schon immer wollte er in die Welt hinaus, spürte den Drang, sie kennen zu lernen. Sein berufliches Können unterstützte ihn. So wurde er zum wandernden Handwerker.
 
Er arbeitete in der Schweiz, in Italien, Österreich, Ungarn, Serbien, Rumänien, Polen und Russland. Überall wurde er, wie gerufen, willkommen geheissen und eingestellt. Überall konnte er wertvolle Arbeit leisten und wurde als umgänglicher, tüchtiger und auch als sparsamer Schweizer geschätzt.
 
St. Petersburg faszinierte ihn ganz besonders. Schon die Reise dorthin war aussergewöhnlich. Im Nachtzug machte der Schaffner gegen morgens 4 Uhr auf Wolfsrudel aufmerksam. Diese hatten den Zug erwartet, weil Reisende hier Knochen und Brot aus den Fenstern werfen. Eichenberger staunte über den Kampf um diese Nahrung und auch darüber, wie die Tiere dem etwa 100 Km schnellen Zug nachjagten. Er sprach von Bestien, die sich rauften und den Artgenossen die Bissen streitig machten.
 
4 Tage gönnte er sich, um St. Petersburg kennen zu lernen. Dann fand er auch hier wieder rasch eine gute Arbeit. Ihn begeisterten in dieser riesigen Stadt mit ihren 246 Kirchen die weltlichen und kirchlichen Feiertage. Besonders das Fest der Newa-Weihe - Segnung des Flusses - bewegte ihn. Er erlebte den Zaren mit der ihn umgebenden Pracht. Und er fühlte sich wohl unter den russischen Menschen.
 
Später in Nischni-Nowgorod wurde ihm dann eines Tages bewusst, dass er immer nur ein Fremdling gewesen war. Und er entschloss sich, in die Schweiz, in seine Heimat, zurückzukehren. Aber die Schweiz sah in ihm, dem Mann mit dem gigantischen Schnurrbart und der fremdländischen Kleidung, anfänglich wie anderswo, auch einen Fremden.
 
Nach und nach fand er aber auch hier wieder Freunde und Geselligkeit. Er lebte auf. Und als er dann eine junge Frau kennen lernte und begriff, dass eines das andere verstand, heirateten sie. Als Überraschung für die Braut führte die Hochzeitsreise nach Wien. Dort feierte man gerade den 1. Mai, und das Hochzeitspaar begegnete dem Kaiser. Sie hätten Glück gehabt, schrieb er. „Die Kavalkade kam ganz nahe an unserem Wagen vorüber. Wir hatten uns erhoben. Ich nahm vor seiner Majestät den Hut in die Hand und verneigte mich. Der Kaiser salutierte freundlich.“
 
Seine Frau, die er liebevoll s‘ Müetti nannte, soll darob erschrocken sein. Er kenne den Kaiser doch nicht. – Er aber kannte ihn schon seit Jahren.
 
Wer kann schon solche Geschichten erzählen?
 
Vielleicht jener Mann, dem ich vor kurzem in Zürich an der Tramstation Paradeplatz begegnet bin?
 
Es war später Abend, und nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Auf der überdachten Bank sassen 2 Männer. Ein stiller Schweizer und ein Mann aus einem fernen, mir unbekannten Land. Der Schweizer hörte zu, was der Unbekannte erzählte. Dieser sprach ein gut verständliches Deutsch, doch die Aussprache liess an ein Land im mittleren Osten denken. Er trug eine vornehme Kleidung, die eine Uniform sein konnte, oder die ihn zu einem besonderen Volksstamm gehörend auszeichnete.
 
Wie ich später annahm, hatte der Schweizer diesem Mann vermutlich den Weg zur Tramstation gewiesen und wartete hier noch, bis das Gefährt eintraf. Der Paradeplatz ist eine wichtige Umsteigestation. Es kreuzen sich dort verschiedene Linien. Der Wegweisende wollte sicher sein, dass der Gast in die richtige Richtung fuhr.
 
Ich wurde auf die beiden aufmerksam, weil der Unbekannte laut redete. Ich hörte, wie er dem Wegweisenden erzählte, er habe für seine Frau eine Flasche Champagner gekauft. Er hielt sie in die Höhe und verwies noch auf die dazugehörigen Gläser in der Papiertragtasche. Er öffnete den Reissverschluss seiner grossen Umhängetasche, die aus demselben khakifarbenen Stoff wie seine Kleidung geschaffen war. War es eine Uniform oder eine Tracht? Mit Bordüren, speziellen Knöpfen und Bändern dekoriert. Und nicht zu übersehen, dass sie aus edlem Stoff geschaffen war. Dieser Tasche entnahm er ein ziseliertes Tablett. Er wolle es ebenfalls seiner Frau schenken. Sie habe ihm schliesslich 2 Kinder geboren.
 
Dann fuhr Tram Nr 2 an der Station ein und entführte ihn.
 
Wer war dieser Fremde? Ein Eichenberger aus der heutigen Zeit? Ich weiss es nicht.

Donnerstag, 5. März 2015

Vermutlich raubte mir eine Elektrosteckdose den Schlaf

Diese Geschichte habe ich schon vor 20 Jahren aufgeschrieben. Ich nahm damals an einem 2-tägigen Seminar zum Thema Meditation teil.

Ich übernachtete in einem einfachen Gästehaus. Nach Mitternacht erwachte ich. Ich fühlte Übelkeit. Stickige Luft liess mich kaum atmen. Ich wollte das Fenster öffnen, doch mein Gleichgewicht war gestört. Ich fühlte mich wie auf hoher See. Meine Augen konnten einen eingeschlagenen Nagel an der Wand nicht mehr als ruhenden Punkt wahrnehmen. Geduldig wollte ich warten, bis sich diese Wellen glätten würden. Dann fiel mir ein, dass ich die Zimmertür öffnen sollte, falls ich am Morgen nicht aufstehen könnte. Ich schwankte zur Tür, drehte den Schlüssel, öffnete sie. Etwas später gelang es mir, auch noch das Fenster zu öffnen.
 
Der linke Arm war beängstigend verkrampft und strahlte in die Herzgegend aus. Nur keine Panik aufkommen lassen! Ruhig wollte ich warten, bis der Sturm vorüber sei. Ich versuchte, bewusst zu atmen. Es fiel mir schwer.
 
In einem vorgefundenen Merkblatt dieses Gästehauses war vermerkt, dass die Telefonnummern 20, 30 und 400 benützt werden dürfen, wenn Hilfe nötig sei. Der Apparat befinde sich in der Mitte des Korridors, hiess es. Meine Kräfte reichten aber für diesen Weg nicht aus.
 
Ich fragte mich, was geschehe, wenn ich mich einfach hinlege und alles loslasse. Ob ich dann sterbe? Ich war aber gar nicht bereit dazu. Zudem sah ich mannigfaltige Verwirrung voraus.
 
Am frühen Abend hatte ich noch nach Hause angerufen und erzählt, was mir am Seminar missfalle (es gab abschätzige, diskriminierende Reaktionen jenen Schülerinnen oder Schülern gegenüber, die sich mit den Anleitungen nicht sofort zurecht fanden).
 
Das grosse Ganze aber gefiel mir. Am Telefon erwähnte ich es jedoch noch nicht.
 
Jetzt überlegte ich mir, dass ich ein falsches Bild hinterlassen würde, wenn ich noch in dieser Nacht stürbe. Mein Mann wüsste nicht, dass ich auch wertvolle Erfahrung gemacht habe. Er hätte gewiss einen Groll gegen die Veranstalter und würde ausrufen, sie hätten seine Frau fertiggemacht. (Später bestätigte er meine Vermutung.)
 
Auch aus meinen Notizen wäre man nicht klug geworden. Da waren nur Stichworte aufgeschrieben.
 
Und da war noch ein Buch, über das man sich gewundert hätte. Ich hatte es aus der Hausbibliothek aufs Zimmer mitgenommen und noch eine Weile darin gelesen. Es behandelte das Tätigkeitswort „segnen". Angekommen war ich beim Kapitel „Das Zeitliche segnen". Was sich da alles zusammenfand und ein völlig falsches Bild abgegeben hätte! Ich legte mich wieder ins Bett, diesmal ans Fussende, um einer Elektrosteckdose auszuweichen. Dann packten mich die Rufe des Käuzchens, das sich ganz in der Nähe bemerkbar machte. Weil ich zu diesem Vogel eine ganz besondere Beziehung habe, horchte ich hin, wollte seine Botschaft verstehen. Darüber muss ich eingeschlafen sein.
 
Am Morgen begrüsste ich den neuen Tag, begrüsste das Leben in mir. Ich fühlte mich wieder gesund. Nachdem ich die erlebte Geschichte nochmals überblickt hatte, erschien sie mir wie ein Hirngespinst und war doch wahr. Dann lachte ich. Und dieses Lachen räumte noch die allerletzten Verspannungen aus mir heraus.
 
Und bis heute gebe ich mir Mühe, möglichst keine einseitigen Bewertungen mehr auszusprechen.

Sonntag, 1. März 2015

Das Velo aus dem Winterschlaf geholt und ausgefahren

In den Wintermonaten tranken wir Milch aus der Packung. Jetzt aber pedale ich wieder zum Bauernhof und hole dort Frischmilch. Vor wenigen Tagen, als letzte Schneeflecken und Eiskristalle an den Strassenrändern verschwunden waren, eröffnete ich unsere persönliche, neue Milchsaison.
Es war ein besonders heiterer Tag. Die Sonne vermochte den zähen Hochnebel endlich aufzulösen und ihr Licht wieder in alle Winkel auszustrahlen. Auf der Strasse, im Bus und Tram war dieses Licht ein dankbares Gesprächsthema. So muss Freude an der wieder sichtbaren Sonne im hohen Norden empfunden werden, wenn die Polarnacht zu Ende ist und erste Sonnenstrahlen auftauchen. Diesen Augenblick nennen sie die Wiederkehr des Lichts.
 
Auf den Wiesen in meinem Umfeld hatte sich über Nacht Raureif gebildet. Er begann sich aufzulösen, als ich mit dem Velo zum Bauernhof nach Schlierenberg fuhr. Einige der gerade entstandenen Wassertröpfchen blitzten rot auf, als ob sie Kristalle wären.
 
Die Sonne wärmte meinen Rücken. Mein Schatten fuhr vor mir her, begleitete mich auch, als die Strasse der ursprünglichen Ost-West-Richtung nicht mehr folgte. Jetzt sah ich mein Abbild im angrenzenden Rapsfeld mitfahren. Ein lustiges Spektakel, nur für mich.
 
Auf der Rückfahrt wurde ich vom Licht geblendet. Und mein Schatten fuhr mir hinten nach. Ich konnte ihn nicht sehen, wusste aber, dass er mich immer noch begleite. Und es blitzten in mir die Worte Ende Fin auf, wie wir sie von Charlie Chaplin-Filmen kennen. Bald war ich zu Hause und meine heitere Ausfahrt auch zu Ende. Ich fühlte mich beschwingt.