Diese Gegebenheiten brachten Menschen hervor, die eigenständig und
sich selbst treu sein wollen. Beziehungen mit Wallisern verdanke ich
viel. Sie nahmen mich mit in ihre Welt, ganz speziell in ihre Bergwelt.
Sie erschlossen mir und meiner Familie viel vom Reichtum ihrer
Mentalität und auch von ihrer warmherzigen, bodenständigen und
klangvollen Sprache, ihrem Dialekt. Und seit jeher haben mich ihre Sagen
angesprochen. Vor Jahrzehnten sendete das Schweizer Radio viele
Walliser Sagen in unsere Stuben.
Als ich eine erste Filmbesprechung über den eingangs erwähnten Film
las, war sofort klar, dass ich ihn sehen wollte. Es hiess, er sei eine
Verbindung von Totensagen, übersinnlichen Erlebnissen und grandioser
Walliser Bergwelt.
Im Film wurde einer Schulklasse aufgetragen, in ihrem Umfeld nach
Geschichten rund um die wandernden Seelen zu fragen. Antworten von
verschiedenen Personen und Persönlichkeiten bilden das Gerüst des Films.
Eine junge Seherin und Therapeutin kann die Seelen sehen. Sie
berichtet, dass sie von dieser Gabe anfänglich sehr belastet worden sei.
Nach einer besonderen therapeutischen Schulung kann sie heute ihre
Begabung als Aufgabe verstehen.
Im Film sahen wir den Gratzug dargestellt. Die auf einem
Bergkamm wandernde Prozession von unerlösten Seelen. Lichttragende
Gestalten in weissen Umhängen. Altvordere sollen solche gesehen haben.
Nachfahren sprechen im Film davon.
Mit dem Wort Seele wollen heute viele nichts mehr zu tun haben, weil es ein Leben nach dem Tod voraussetzt. Aber der Begriff der guten Seele – eines Menschen, der vorurteilslos auf andere zugehen und hilfsbereit handeln kann – ist immer noch geläufig.
Aus meinen ersten Lebensjahren in der Grossfamilie hüte ich immer
noch Geschichten, die mit dem Tod und einem Leben danach verbunden sind.
Als kleines Kind erlebte ich, wie Todesfälle die Verwandten
veränderten. Sie wurden milder. Vor allem die sonst allwissenden Männer.
Sie erzählten sich Geschichten, die ins Jenseits verwiesen. Ich hörte
auch, wie sie von verwandten Toten träumten. Und später kamen ähnliche
Geschichten aus der Familie meines Ehemannes hinzu. Immer gab es die
Schwelle und das Leben danach. Manchmal wurden auch Zeichen erkannt, die
einen Tod meldeten. Z. B. wenn ein Bild von der Wand fiel. Von solchen
Zeichen wird auch im Film gesprochen.
Auch im erwähnten Gespräch mit der Seherin erfahren die Kinogäste,
dass viele Seelen noch nicht heimgekehrt seien, die Schwelle einfach
nicht übertreten wollen. Da befand sie sich im Film im Stockalperpalast
in Brig VS und zeigte mit einer Geste, hier wimmle es von
herumgeisternden Seelen.
In jungen Jahren, als ich in Paris arbeitete und mit einer Nonne aus dem Kloster der Helferinnen der armen Seelen (Les auxiliatrices des âmes du purgatoire)
befreundet war, muss ich mich dort in Gesellschaft mit noch nicht
heimgekehrten Seelen befunden haben. Gespürt habe ich sie nicht.
Rückblickend denke ich daran. Dieser Orden war den sogenannt armen, also
noch nicht erlösten Seelen gewidmet. Hier wurde für deren Erlösung
gebetet.
Das Diesseits und das Jenseits waren in meiner Familie unangefochtene Dimensionen.
Allerlei Erfahrungen in meinem Leben deuten für mich darauf hin,
dass unsere Seelen, nachdem sie ihren Körper auf der Erde zurückgelassen
haben, zum Ursprung zurückkehren. Wir bringen das Leben, das wir gelebt
haben, mit verschiedensten Leerblätzen (ein Dialektausdruck)
zurück. Leerblätze sind Lehrstücke oder Lappen, an denen man flicken
gelernt hat. Eigentlich Lehrblätze, doch mit ee steht's im
Zürichdeutschen Wörterbuch (NZZ-Verlag).
Vielleicht? Wahrscheinlich? Oder möglich, dass unsere
Diesseitserfahrungen im Jenseits wertvoll sind und in ferner Ferne
nachgeborenen Menschen als geläutertes Wissen, Weisheit, Liebe und auch
als spezielle Talente zur Verfügung stehen.
Ein Zitat von Raketeningenieur Wernher von Braun sitzt schon Jahre lang in meinen Gedanken und unterstützt sie:
Die Unsterblichkeit der Seele muss existieren. Als
Wissenschafter weiss ich, dass nichts je verloren geht, sondern sich
einfach verändert. Nach dem Tod muss ,die Seele‘ – oder wie man es
nennen will – irgendwo sein, muss sich in etwas anderes umformen. Nichts
löst sich je in nichts auf.