Sonntag, 27. April 2014

Desenzano bis Bergamo und die Motive unserer Reise

Über die Grösse des Wochenmarktes in Desenzano (Italien, am Gardasee) staunten wir. Wir schlenderten 1 ½ Stunden den Auslagen entlang, ohne das Ende des Markts zu erreichen. 2 Arten von Souvenirs habe ich mitgenommen. Ab einem Wühltisch eine Strickjacke und eine Bluse. Gesamtpreis: 5 Euro. Da war mehr Spass dabei als vernünftiger Einkauf. Und doch sind es Stücke, die ich tragen werde.
 
Das andere, mich weit mehr beeindruckende Souvenir ist eine Foto von einem Denkmal, das an den Krieg erinnert. An der Seepromenade, auf der Achse der Kirche platziert. 2 Frauen umarmen sich. Mitfühlend sind ihre Gebärden. Ihnen gegenüber 2 Männer mit einem starren Gürtel aneinander gekettet, unfrei, den militärischen Befehlen ausgeliefert und darin gefangen. Beide Paare stehen auf einer Art Schaukel, die im Kunstwerk aber fix dasteht. Als ich es sah, dachte ich: Wie Frauen auf den Krieg reagieren und wie Männer reagieren müssen.

Ich suchte nach weiteren Angaben zu diesem Denkmal, konnte sie nicht finden. Ich stiess aber im Internet auf den Ort Solferino, wo vor 155 Jahren jene erbitterte Schlacht stattfand, die den Schweizer Henri Dunant bewegte, das Rote Kreuz (heute zum Internationalen Rot-Kreuz-Hilfswerk geworden) zu erschaffen. Ohne es zu wissen, waren wir diesem geschichtsträchtigen Ort im Umfeld von Peschiera sehr nahe gekommen. Solche nicht gesuchte Informationen zu finden, das sind Geschenke.
 
Nach dem Marktbesuch wurden wir nach Bergamo geführt. Ein Freund hatte uns schon in Zürich einen dicken Reiseführer ausgeliehen, damit wir uns auf die darin aufgelistete Geschichte dieses Orts vorbereiten konnten. Ganz speziell wies er auf das in der Basilika Santa Maria Maggiore anzutreffende Intarsienwerk von Lorenzo Lotto hin.
 
Bergamo steht erhöht über dem Tal. Die Altstadt wird mit der Drahtseilbahn erreicht. Als wir dort ankamen und durch die engen Gassen schlenderten, sagte Primo plötzlich: Fühlst du dich hier auch sehr klein? Ja, bei so hohen Gebäudemauern. Da gingen wir gerade am Musikinstitut und dem Donizetti-Museum vorbei. Der Komponist Gaetano Donizetti wurde 1797 hier geboren.
 
Auch in dieser Stadt stoppte uns wieder die Mittagssiesta. Museen und Kirchen waren bereits geschlossen. Sofortigen Zugang fanden wir aber in der Curia. Und dort überraschte uns der Versammlungsraum, die Aula Picta. Ihre Schönheit verdankt sie der schwungvollen Bogenstütze, die das hölzerne Dach trägt. Und die Fresken aus dem 13. Jahrhundert füllen den Ort mit Geschichten. Mich hat ein Seelen wägender Engel besonders angesprochen.
 
Dieser Raum muss vor nicht langer Zeit achtsam renoviert worden sein. Es ist eine Frische zu verspüren, wie man sie selten findet.
 
Bis die Pforte der Basilika Santa Maria Maggiore wieder geöffnet wurde, schlenderten wir durch die Gassen, ohne wie andere Mitreisende auf der Piazza Kaffee zu trinken. Wir wollten auch die Aussicht aus Bergamo in die weite Landschaft erleben. Obwohl dieser Ort für uns den Eindruck erweckte, er sei eine einzige, nicht verletzbare Festung, zeigt ihre Geschichte auch schicksalshafte Züge. Bei unserem Besuch aber fühlten wir uns an einem sicheren Ort. In einer Welt zu Besuch, die ihre Kultur, ihre Schätze und Traditionen mit berechtigtem Stolz hütet. Das architektonische Zusammenspiel von Baudenkmälern, die Plätze schafften, überraschte uns.
 
14 Uhr. Wir durften in die Basilika eintreten und Lorenzo Lottos Intarsien finden. Sie zieren das Chorgestühl. Zu diesem ist der Zutritt aber verboten. Für Kunstinteressierte werden einige plakatgrosse fotografische Reproduktionen gezeigt.
 
Diese handwerklichen Arbeiten sind so vollendet geschaffen, dass sie Jahrhunderte überdauerten. Sie müssen auch entsprechend gepflegt worden sein, so dass sie heute noch intakt sind.
 
Lorenzo Lotto malte die Entwürfe. Ein genialer Möbelschreiner setzte sie in Bilder aus Holz um. Aussergewöhnlich ist, dass sie nicht nur eine Szene darstellen. Lotto versammelte verschiedene Kapitel einer Geschichte in einem einzigen Bild.
 
Dieser Bilderzyklus entstand 1471‒1500 in der Zeit, als die Reformation auch Venedig erfasste und sich dort Menschen aller sozialen Schichten darum bemühten, den direkten Zugang zur Bibel zu finden. Zur selben Zeit, als in Zürich religiöse Bilder vernichtet wurden, wurde Lotto beauftragt, Bildvorlagen für die biblische Geschichte im neuen Verständnis der Reformation darzustellen, weil die breite Bevölkerung Analphabeten waren.
 
Verschiedenfarbige Hölzer lieferten das Material für die Bildgestaltung. Der ausführende Möbelschreiner muss aber auch Chemikalien benützt haben, um sie um Nuancen zu verändern. Er wird mit Salzsäure, Kupfervitriol, Arsen experimentiert haben. Er musste auch Leime herstellen. Die sich entwickelnden giftigen Dämpfe griffen seine Gesundheit an. Er sei kurze Zeit nach Vollendung seines Werkes an einer Vergiftung gestorben.
 
Nach diesem Besuch schlenderten wir nochmals durch die Gassen und entdeckten eine alte, vornehme Bäckerei-Konditorei. Wir konnten nicht widerstehen, kauften Gebäcke, damit wir den Laden von innen sehen konnten. Sehr gepflegt. Und die Frau an der Kasse, vielleicht die Ladenbesitzerin, lobte mich, dass ich den Preis in Münzen richtig gezählt hatte. Bene! rief sie freundlich, molto bene! (Gut, sehr gut.)
 
Im Rucksack lagen bereits ein paar Schätze. Eine Colomba artiginale für unser Osterfest in Zürich, ebenso die Schrift Bilder der Bibel von Lorenzo Lotto aus dem Verlag Ferrri Editrice und auch ein beachtlicher Stadtführer zur Geschichte und Kunst in Bergamo. Die Aula Picta ist darin abgebildet. Ihretwegen haben wir das Buch gekauft.
 
Die Heimreise nach Zürich verlief zügig. Mit vorgeschriebenen Zwischenhalten und Stärkung. Bessere Bedingungen konnten wir uns nicht vorstellen. Frühlingshaftes Wetter, wenig Strassenverkehr, zufriedene Stimmung unter den Reisenden. Und eine beeindruckende Fahrt über den San-Bernardino-Pass.
 
Beim Abschied in St. Gallen dankte ich dem Chauffeur für seine einmalig sichere Fahrweise. Er verwies auf 2 Jahre Postautodienst im alpinen Bereich. Da lerne man subtil chauffieren.
 
Ich komme nochmals auf das Motiv unserer Reise zurück, habe es im Blog mit dem Thema Reisefüdli erwähnt. Ich wollte nach Peschiera kommen, möglichst nahe an diesen Ort, wo Rico, die Hauptperson aus der Geschichte Heimatlos, seinen Geburtsort wiederfand. An jenem Reisetag, als wir den Gardasee umrundeten, kamen wir auf der Heimfahrt – für mich – unerwartet durch Peschiera. Der Bus überquerte gerade den Fluss Minico, als uns der Chauffeur über den Ort informierte. Grosse Überraschung! Für einen Augenblick schien die Sonne strahlender. Ich war in Johanna Spyris Geschichte angekommen, sah den Hafen, den Ausfluss und dahinter den See.
 
Das 2. Thema unserer Reise: Den Lebensraum von Primos Urgrosseltern kennen lernen. Sie stammen aus der Provinz Trentino. Sie haben eine besondere Geschichte, die dokumentiert ist.
 
Der Urgrossvater sei schon als Bub mehrmals in der Schweiz gewesen. Er habe seinen Vater, einen Holzfäller, begleitet. Später sei der Jüngling in die Schweiz gekommen, um beim Bau des Gotthardtunnels mitzuarbeiten. Baubeginn 1872.
 
Wieder später, so die Legende, die mir eine seiner Enkelinnen erzählte, habe dieser Junge mit seinem Vater einen Bilderhandel aufgezogen. Die beiden wanderten als Hausierer Richtung Schweiz und boten überall Kunstdrucke an. Ihr Ziel war, später dorthin auszuwandern, wo sie die Bilder am teuersten verkaufen konnten. Diesen Ort fanden sie in Landquart (Kanton Graubünden, Schweiz). Da bauten sie ihr Geschäft auf. Eine Art Warenhaus. Bei ihm deckten sich die Hausierer mit geeigneten Waren ein. Landquart war ein guter Ausgangsort für sie. Der Ort gilt als Tor zu 150 Alpentälern.


Seine Frau suchte er noch im Südtirol, ebenso heuerte er später Mitarbeitende für seinen Betrieb aus dem Trentino an. Im Buch Streifzug in Wort und Bild durch die Geschichte von Igis-Landquart, herausgegeben 1996 von Reto Hartmann, CH-7206 Igis, ist er abgebildet. Es wird von ihm berichtet: Michaele Manega (1853-1929) kam im Schulbubenalter als Hausierer nach Landquart; er baute als erster Kaufmann am Ort seine Geschäftshäuser am Marktplatz. Seine Gattin gebar ihm 16 Kinder.
 
Unsere Reise hat uns über die immensen Strecken, die von den Vorfahren begangen worden sind, aufgeklärt. Ob sie immer nur zu Fuss, mit einem Pferd und Wagen oder ein Stück weit in der Postkutsche reisten? Wir wissen es nicht. Es müssen mühsame Wege gewesen sein, vielfach über die Berge. In Johanna Spyris Geschichte ist eine solche Reise mitzuerleben.

Montag, 21. April 2014

Rundfahrt um den Gardasee. Wanderung nach Salò (I)


Die Fahrt auf der in Fels gehauenen Gardesana Occidentale, der legendären Uferstrasse am Gardasee, ist ein besonderes Ereignis. Sie trägt ehrenvolle Titel. Man spricht von Ingenieurkunst, von einem Meisterwerk der Strassenkunst und bezeichnet sie als eine der Traumstrassen Europas. Sie führt am Westufer des Gardasees von Salò nach Riva.
 
Bauzeit: 1927 bis 1932. Auf dieser in Felsen gehauenen Uferstrasse mit angeblich 74 Tunnels begann unsere Rundreise um den Gardasee. Die Tunnels habe ich nicht gezählt, aber bewundert. Es war eine Balkonfahrt. Eindrücklich und anspruchsvoll für den Car-Chauffeur. Erstaunlich, dass Busse auf dieser schmalen Strasse zugelassen werden. Traum auch für Motorradfahrer und Radrennfahrer. Man spricht von romantischer Ursprünglichkeit.
 
Mich begeisterten auch überraschende Ausblicke aus den Tunnelfenstern. Nur kurze Sicht auf den See. Immer wieder aus anderem Blickwinkel heraus. Manchmal etwas länger. Rechtzeitig vom Fahrer informiert, konnten wir den Ort sehen, wo sich Surfer und Segler tummeln. Es gebe bestimmte Orte und Winde, die für sie ideal seien. Das aufblitzende Bild zeigte dann, wie sich die Sportler dem Wind und Wasser hingeben. Ekstatisch ihr Spiel. Von oben herab nahm ich diese Menschen wie kleine, silberne Delphine wahr.
 
Bergseitig schenkten wir vornehmen Villen und prachtvollen Gärten bewundernde Blicke. Hier glänzten Büsche und Bäume, wie wenn ihre Blätter lackiert worden wären. Jeden Tag bezauberte uns das Licht dieser Region, die allem ihren Glanz aufträgt.
 
Kaffeehalt in Riva, am Ende der urtümlichen Strasse. Ohne Kaffee. Der Ort schlief noch, als wir am Sonntagmorgen vor 10 Uhr hier eintrafen. Gasthäuser waren noch geschlossen. Wenige Menschen unterwegs. Spaziergang am See, im Park. Das Geländer, das den See hier abgrenzt, kam mir seltsam bekannt vor. Sein Bild weckte in mir Hinweise auf den Gardasee, als Reisen erst möglich wurde. Es ist lange her. Sehr lange. Und doch wusste ich sofort, dass ich dieses Bild kenne. Es waren die steinernen Balustraden, an die ich mich erinnerte.


Dann Weiterreise dem Ostufer entlang. Hier begrenzen keine Felsen den Blick auf den See. Manche Partie verglich ich mit dem Zugersee in der Schweiz. Längerer Halt dann in Lazise. Gastfreundlich empfingen uns Stadttor, Marktplatz, Gasthäuser und Kirchen. Hier gingen alle Reisenden ihre eigenen Wege. Primo entdeckte eine Bäckerei, hätte dort gerne eingekauft. Geschlossen. Leider schon Siestazeit. Diese überrascht Touristen in Italien immer wieder. Läden, Museen, Kirchen sind mindestens von 12 bis 14 Uhr geschlossen. Auch im Sommer? Ich weiss es nicht. Primo entdeckte in der gleichen Gasse eine imposante, detailreiche Seekarte. So gross wie ein halbes Leintuch. Auf ihr fanden wir später alle Informationen, die wir uns wünschten. Der Ladenbesitzer bediente uns noch, dann schloss auch er subito sein Geschäft.
Auf dem Marktplatz zeigte ein Künstler seine moderne Ikonenmalerei. Ein Buchhändler präsentierte edle Bücher aus seinem Antiquariat. Ein Kleidergeschäft bot Strickwaren an. Mich zog es zur baufälligen Kirche Sankt Nikolaus. Ich las ihre Geschichte. Sie wurde im Jahr 1100 direkt am Hafen von der Genossenschaft der ursprünglichen Einwohner errichtet. (Corporazione degli Originari). Was für eine schöne, eben originale Bezeichnung. Von Menschen, die mit dem Fischfang, dem Seehandel und der Seefahrt beschäftigt waren. Trotz Altersbeschwerden, an denen dieses Bauwerk leidet, strahlen im Innern die liebevoll gereinigten Fresken immer noch aus.
 
Die renovierte Zollstation direkt am Hafen, Dogana Venata di Lazise, ist heute ein vornehmes Haus für Kongresse, verschiedene Anlässe und Feste. Die Türen standen offen. Wir hörten Gesänge. Es wurde eine Feier eröffnet. Eine Weile waren wir dabei.
 
Mittagessen in einer Trattoria, neben einer italienischen Grossfamilie. Bestimmende Autorität war der Grossvater. Der Enkel, vielleicht 6-jährig, sass nahe bei ihm, schaute zu ihm auf, eiferte ihm nach. Das muss klassische italienische Erziehung sein.
 
Auf dem Rückweg wurden wir am grössten italienischen Vergnügungspark Gardaland entlang geführt. Er war noch nicht aus dem Winterschlaf erwacht. Kein Problem für uns. Nicht unsere Wellenlänge.
 
Am frühen Abend ins Hotel zurückgekehrt, schwärmte ich mit Primo nochmals aus. Wir stiegen den Hügel empor, landeten in einem gepflegten, traditionellen Dorf. Wir fühlten uns ins schweizerische Tessin versetzt. Die Häuser allerdings grosszügiger proportioniert. In Italien ist eigentlich immer alles grösser. Vor einer Scheune standen 2 ältere Frauen miteinander im Gespräch. Als sie uns entdeckten, winkten sie uns herbei. Wir folgten der Einladung. Mit wenigen italienischen Worten vertraut, ergab sich ein herzliches Gespräch. Wir erfuhren, dass sie hier im Altersheim leben. Wir erzählten, woher wir kamen. Es war eine Begegnung, wie wenn wir Verwandte besucht hätten. Die Frauen bedauerten, dass sie uns ihre Kirche nicht zeigen konnten. Auch hier werden Kirchen geplündert, müssen darum geschlossen bleiben. Sie werden nur noch für Gottesdienste geöffnet.
 
Am freien Tag, der dann folgte, wanderten Primo und ich von Porto Portese nach Salò, besuchten die sympathische Stadt am schräg gegenüberliegenden Ufer. Das Wetter freundlich, der See leicht träumerisch. Die Luft mit Nebel getränkt. Die Sicht unklar. Sofern wir im richtigen Winkel daher kamen, sahen wir den Monte Baldo (höchster Punkt: 2218 Meter über Meer) wie eine Himmelserscheinung. Er trug noch Schnee wie der japanische Fujiyama. Der Reiseführer wies immer auf ihn hin, wenn er sichtbar wurde. Wie ein Geheimnis. Ein überirdischer Berg, der scheinbar ohne Bodenhaftung am Himmel hing.
 
Auf dieser Wanderung kamen wir am Friedhof unseres Ferienortes vorbei. Ein monumentales Gelände. Aus weissem Marmor an den Hügel gebaut. Mit hunderten oder vielleicht tausend Gräbern. Alle Verstorbenen werden hier mit einer Foto verewigt. Zypressen stehen am Ufer Spalier. Einen halben Kilometer lang. Sie markieren den Ort der Toten. Sind von weit her sichtbar und auf ihre Art auch Wegweiser.
 
In Salò entdeckten wir als erstes eine reife Frucht an einem Orangenbaum. In einer eher dunklen Gasse fanden wir blühende Kamelien. In vielen Töpfen standen auch sie Spalier. 2 abgefallene Blüten nahm ich mit nach Hause.
 
Als wir ins Schaufenster schauten, wurde unser Interesse an echten Lederartikeln bemerkt. Die Geschäftsführerin sprach uns an, freute sich mit mir deutsch zu sprechen und verstanden zu werden. Sie habe sich diese Sprache selber beigebracht. Zur selben Zeit ersetzte Primo im Laden sein lädiertes Portemonnaie. Zu einem passenden Zeitpunkt. Am Tag danach begann für ihn ein neues Lebensjahr.
 
Zur Mittagszeit betraten wir ein kleines Restaurant. Aus der Küche rief der Chef: Wollt ihr nicht im Freien essen? Wir hatten die Tische auf der andern Strassenseite noch nicht gesehen. Es war ein gutes Angebot, im Freien zu speisen und sich vom Leben um uns unterhalten zu lassen.

Später ergänzte noch ein Spaziergang an der Seepromenade das Feriengefühl. Vor dem heutigen Rathaus, dem Palazzo della Podestà blieb ich lange stehen. Dieser Palast aus dem 14. Jahrhundert wurde nach meinem Empfinden nicht mit schnurgerader Front gebaut, sondern dem Seeufer leicht nach innen gebogen angepasst. Sie wirkte lieblich. Die hohen Palmen vor den Arkaden mögen die Hauptdarsteller ihres Charmes sein. Es verwundert mich, dass dieses Gebäude in Reiseführern keine herausragende Rolle spielt.
 
Wir rechneten für die Rückkehr auch wieder mit einer langen Wanderung. Da kamen 2 Personen auf uns zu, die zur Reisegruppe gehörten. Sie waren ebenfalls hierher marschiert. Sie wussten bereits, dass demnächst ein Schiff eintreffe, das den See überquere und in Porto Portese anlege. Wir fuhren mit. Glück gehabt!

Freitag, 18. April 2014

Busreise an den Gardasee über Arlberg und Reschenpass

Wenn ich auf die Ferientage zurückschaue, sehe ich vor den inneren Augen vorbeihuschende und sich überlagernde Bilder, wie sie sich jeweils am Abend vor dem Einschlafen präsentierten. Wir waren im Bus unterwegs. Sassen still, liessen die Landschaft auf uns zukommen.
 
Ab Bludenz (Vorarlberg) sah und erlebte ich Unbekanntes. Das Klostertal. Die Reise über den Arlberg. Der Kaffeehalt auf der Passhöhe. Einzelne Skifahrer auf eisigem Gelände. Weiterfahrt nach Landeck. Erinnerungen an eine Velofahrt ab St. Moritz nach Innsbruck stiegen auf. Ich war aber erst richtig angesprochen, als ich die Kirche mit dem orangeroten Zwiebelturm von Pfunds sah. Da fühlte ich mich damals in sehr alter Zeit, meinte, in einer Sust angekommen zu sein. Aus Primo sprudelten viele Erinnerungen heraus. An diesem Ort lernten wir das Wort Pfanderl kennen. Eine Speise in einer kleinen Bratpfanne serviert. Das Wort ist in unserem Haushalt gut integriert. Heut gibt's ä Pfanderl! heisst es öfters.
Neu nun die weitere Strecke: Reschenpass. Reschensee. Der vom Stausee umspülte Kirchturm, der mir schon jahrelang auf Reiseprospekten begegnet ist. An diesem Tag auch von Eis umgeben. Wahrzeichen des Vinschgaus. Mit hohem Alter. Er stammt aus dem 4. Jahrhundert und sei mit Beton gefüllt. Hier gehörte ein Fotohalt dazu. Das Gefährt eine Weile zu verlassen und frische Bergluft zu tanken, ein Genuss. Wundervolle Fahrt durch das Südtirol. Herbe, liebliche Landschaft mit Obst- und Weinkulturen. Aprikosen und Äpfel werden hier in Niederkulturen angebaut.
 
Das abfallende Gelände ist Teil der Schönheit dieser Landschaft. Immer wieder schaute ich nach unten aus und wunderte mich, dass der Talboden noch nicht erreicht war. Die Farben der Landschaft waren in dieser Woche vom Frühling geprägt. Böden trugen aber auch noch hellbraune Winterpatina. Menschen, die hier leben, müssen eine grosse Geborgenheit fühlen und mit einem Schönheitssinn zur Welt kommen.
 
Ich weiss nicht, wie die Menschen aus dem Vinschgau ihre Landschaft benennen. Ich nahm sie wie eine übergrosse Tüte wahr, die ihren Schatz nach unten rieseln lässt. Ich sah eine Ortschaft mit vielen Türmen, alten Wehrtürmen, Kirchtürmen, die im offenen Raum zwischen 2 auseinander liegenden Gebirgszügen angesiedelt sind. Ich kann sie in keinem Reiseführer finden, frage mich, ob sie eine Komposition meiner Emotionen ist. Wahr ist, dass wir auf dieser Reise etliche Kirchen, Türme und auch die mächtige Benediktinerabtei Marienberg sahen, die alle besondere, herbe Schönheit ausstrahlen.
 
Im Bildband Südtirol von Adolf Sickert (1986) schreibt Hans Humer über Land und Volk der Heimat Südtirol: Wer über Südtirol nachdenkt, gelangt an kein Ende. Er mag hinabtauchen oder sich aufschwingen, den letzten Grund und die letzte Höhe erreicht er nicht, denn hier lebt noch immer eine Welt des Geistes und der Seele, des Herzens und des Gemütes, die nicht auszuwandern ist.
 
So wirkten das Land, seine Topographie und die Menschen auf mich. Auch das Mittagsmahl im Hotel Maria Theresia in Schlanders bestätigte solche Aussage. Der Hotelprospekt spricht von herzlicher, familiärer Gemütlichkeit. Diese haben wir erlebt. Und das Essen, von uns allen individuell gewählt, liess die Rast zum Festessen werden.
 
Weiterfahrt. Nächster Halt: Kalterersee. (Lago di Caldaro). Ein südlicher Ort. Palmen und blühende Bäume begrüssten uns. Schwimmbad-Stimmung, obwohl es noch zu kühl war, um zu baden. Für Gelati stand man in der Warteschlange an. Der See ist für Wassersport beliebt. Es wurde gerade ein Wettkampf vorbereitet. Im Umfeld wird Wein angebaut. Kalterersee war der Wein, den mein Vater an Festtagen getrunken hatte. Schön, solche Orte zu finden. Es gibt also diesen See. In Salurns wurden wir auf die Sprachgrenze aufmerksam gemacht. Ab diesem Ort zieht sich die deutsche Sprache zurück. Von da an wird Italienisch gesprochen.
 
Bozen und Trento wurden nicht berührt. Zügige Fahrt dem Gardasee entgegen. Die Berge hatten wir verlassen. Den Charme des Vinschgaus ebenfalls. Erstaunt schaute ich den Vergleich der Höhenmeter an. Vom Reschenpass bis ins Umfeld von Trento sind wir 1310 m abwärts gefahren.
 
Der weiteren Reise fehlte das Besondere. Wir reisten auf einer typischen Autobahn. Hie und da zwinkerte mir das Wasser aus der Etsch zu. Dann verschwand es wieder, um später erneut zu grüssen. Italienisch heisst dieser Fluss Fiume Adige. Seine Quelle entspringt nahe dem Reschenpass. Seine Reise endet im adriatischen Meer. Er ist der längste Fluss Italiens.
 
Kurz bevor wir an Trento vorbeifuhren, stupfte ich Primo, der etwas gedöst hatte. Ich wollte daran erinnern, dass wir jetzt ins Umfeld seiner Urgrosseltern gekommen seien. Sie entstammten der Provinz Trentino.
 
Vor mir im Bus schlief eine Frau, einige Reihen hinter uns erzählten sich 2 Männer pausenlos Geschichten. Es gelang mir, nicht zuzuhören. So blieb ich wach und erwartete den ersten Blick auf den Gardasee. Und entdeckte unerwartet die Hinweistafel auf den Ort Peschiera. Mit grosser Freude. Wir fuhren aber nicht ins Zentrum. Ich erschauerte, was ich hier antraf. Geschäft an Geschäft, Zweigstellen internationaler Markenfirmen. Dominante Namen an Hausfassaden. Viel Verkehr, Hektik. Was würde auch Johanna Spyri sagen, wenn sie das Umfeld von Peschiera heute sähe? In ihrem Buch Heimatlos ist dieser Ort bedeutungsvoll. Ich bewunderte den Chauffeur, wie sorgfältig er unsern Bus durch das Gewusel von Mensch und Autos steuerte.

Angekommen in Felice del Benaco im Hotel Casimir. Zimmerbezug, eines von den 199 zur Verfügung stehenden Zimmern. Vor unserer Balkontür, die direkt auf eine Wiese und zum Seeufer führt, wartete ein Entenpaar um uns zu grüssen und zu betteln.

Der vom Hotel offerierte Apéro und das Nachtessen nach eigener Zusammenstellung verbreiteten gute Stimmung. Es standen Vor-, Haupt- und Nachspeisen zur Selbstbedienung bereit. Welche Fülle. War ich im Schlaraffenland angekommen? Auch Genuss für die Augen. Italienische Kochkunst, Grosszügigkeit und Lebensfreude.
 
Im Speisesaal waren die Tische für 4 Personen immer übers Eck und mit Abstand zum nächsten hin platziert. Es sah aus, als wollten diese Vierbeiner tanzen. Verschiedene Kellner im Livrée überwachten das Geschehen, halfen, wenn wir Informationen brauchten. Grundsätzlich bedienten sie nicht, damit der Gast sein Essen selbstbestimmend zusammenstellen und an seinen Tisch tragen konnte. Mir hat diese Ordnung gefallen. Ebenso die Persönlichkeiten der Mitarbeitenden. Die Atmosphäre in diesem grossen Raum liessen mich an die Commedia dell' arte und an Goldoni-Figuren denken. Und dass auch wir, die angereist sind, in diesem Theater auftreten.

Montag, 14. April 2014

Hotel geschlossen, gebuchte Übernachtung ignoriert

Zwei Tage vor der Abreise träumte ich einen Traum, den ich erst später verstanden habe. Da befand ich mich in einem öffentlichen Raum. Vielleicht war es im Untergeschoss eines Bahnhofs oder einer grossen Tiefgarage. Menschen eilten hin und her, alle ihren persönlichen Zielen entgegen. In der Mitte dieses Orts lag ein entspannt schlafender Mann. Seine Beine hatte er locker angezogen. Niemand beachtete ihn. Nur ich schien ihn wahrzunehmen.
 
Da unsere Reise an den Gardasee bevorstand, wurde ich etwas unruhig. Ich fragte mich, ob uns auf der Reise etwas Ungewöhnliches bevorstehe. Ein Unfall? Hoffentlich nicht. Da sich das Traumbild markant gezeigt hatte, beruhigte es mich. Der Mann sah nicht aus wie ein Toter.
 
Primo und ich hatten uns für die Frühlingsfahrt eines Reiseanbieters aus dem Kanton St. Gallen entschieden. Um für die frühe Abreise um 7 Uhr morgens ausserhalb der Stadt St. Gallen bereit zu sein, entschlossen wir uns, einen Tag vorher anzureisen. Das Reisebüro buchte für uns eine geeignete Übernachtung.

Als wir dort eintrafen, war das Hotel geschlossen. Auf einer schwarzen Restaurant-Tafel wurde auf Wirteferien aufmerksam gemacht und eine Natel-Nummer angegeben. Es antwortete jedoch nur die Combox. Ohne eigenes Natel unterwegs, waren wir auf hilfsbereite Mitmenschen angewiesen. In der Bäckerei im Nachbarhaus durften wir telefonieren und das Reisebüro informieren. Und im dazu gehörigen kleinen Café auf jenen Mann aus der Hotelierfamilie warten, der uns das Haus öffnete, das Geld für die Übernachtung einzog und uns den Hausschlüssel für eine Nacht übergab. Wir hörten von ihm, dass man spontan entschieden habe, vor der Ostersaison noch etwas auszuspannen. Der Vater oder Patron war also in den Ferien und schlief wohl genau zum Zeitpunkt, als wir anrufen wollten. Rechnete er damit, dass wir anderswo ein Bett bekämen? Am Schlüsselbrett im Hotel hing aber eine Notiz mit unserem Namen und der vorgesehenen Zimmernummer.
 
Die Situation entsprach dem schlafenden Mann im Traum, der weder beachtet noch gestört wurde. Diese Geschichte ­– so dachte ich schon, als sie noch nicht zu Ende war – sei unangenehm, gebe aber immerhin Stoff für einen Beitrag ins Blogatelier her. Und sie zeigt auf, dass wir gewissen Erfahrungen nicht ausweichen können, dass sie vorgegeben sind.
 
Am nächsten Morgen sorgte die Filialleiterin in der Bäckerei nochmals für uns. Wir konnten schon nach 6 Uhr in ihrem Geschäft frühstücken. Sie erzählte, dass sie am gestrigen Abend noch oft an uns gedacht habe. Sie war sehr besorgt, dass es uns an nichts fehle und schenkte uns beim Abschied noch eine Packung Champagner-Truffes. Diese bringen Glück! sagte sie dazu. Erstaunlich, denn Hotel und Bäckerei sind eigenständige Betriebe. Sie handelte nicht, um sich im Namen eines Vorgesetzten zu entschuldigen. Sie half uns aus Mitgefühl. Und ihre Wünsche brachten uns wirklich Glück.
 
Sobald wir unseren Platz im Reisebus eingenommen hatten, lief alles wie am Schnürchen. Der Chauffeur nannte die Route unserer gemeinsamen Fahrt: St. Gallen – Rorschach – Bludenz – Arlberg – Landeck – Mals – Vinschgau – Meran – Kalterersee – Trento – Etschtal – Rovereto – Gardasee und das Ziel: San Felice del Benaco. Er nannte die Ankunftszeit, sofern uns kein Stau an einer flüssigen Fahrt hindere. Sogar mit 2 Minuten Vorsprung waren wir dann abends am Ziel.