Sonntag, 19. Januar 2014

Aus der Lebenserfahrung entstanden seine Metaphern

Ich wischte den Boden im Wäschetrocknungsraum und dachte an Fritz. Ich fragte mich wieder einmal, ob er mit mir zufrieden wäre, mich in seinem Gestaltungsbüro einstellen würde. Er erzählte mir vor etwa 30 Jahren einmal, dass er den modernen Bewertungskriterien bei der Auswahl von Angestellten misstraue. Es reiche doch, einer Person den Auftrag zu geben, einen Raum zu wischen und ihm zuzuschauen, wie er vorgehe. Da komme die persönliche Übersicht zur Geltung. Und man sehe sofort, ob jemand eine Aufgabe systematisch angehen könne.
 
Ein andermal sprach er vom Spiegelei. Auch dieses sei geeignet, um einen Kandidaten oder eine Kandidatin auszuwählen. Dabei ging es dann um Feingefühl und Geduld. Auch um die Qualität der Sinne und die Beobachtung. Wie ein Ei in die Hand genommen und aufgeschlagen werde. Und ob die Butter massvoll erhitzt worden sei. Sicher hatte er noch viele solch vergleichende Bilder auf Lager. Die beiden erwähnten sind in mir in lebhafter Erinnerung geblieben.
 
Wäre Fritz noch am Leben, würde er demnächst 100 Jahre alt. Er war Gestalter, Innenarchitekt, ein schöpferischer Mensch. Die Qualität seiner Ideen und Entwürfe entsprach den Qualitäten der Schweiz von einst. Er setzte seine Talente gerne für sie ein und hatte Erfolg. Seine mit Partnern geführte Firma war denn auch eine Talentschmiede.
Aus der Zeitung «Die Vorstadt» vom 16.3.1977,
Kunstvitrine, Keller und Bachmann, Herstellung Primo Lorenzetti, Idee und Realisierung Fritz Keller

Aus dem Lebenslauf, der bei seiner Beerdigung vorgelesen wurde, tauchte nochmals ein typisches Muster seiner Beobachtungen auf. Es wurde berichtet, wie er sich im Spital beklagt habe. Er soll gesagt haben: Von einem Arzt erwarte ich, dass er mir in die Augen schaut, nicht ständig in den Computer. Der Mensch hatte für ihn umfassenderen Stellenwert als die Technik.
 
Mir gefallen solche Überlegungen, weil ich selbst auch nicht mehr jung bin. Bevor der Computer in alle Berufsbereiche einzog, betrachtete man das Leben als etwas Ganzheitliches. Die Freude am Detail und an rechnerischen Analysen waren noch nicht abgespaltet.
 
Fritz suchte immer nach dem Augenmass, nach der Verhältnissmässigkeit einer Sache, einer Sorge, einer übertragenen Arbeit. Ihnen in die Augen zu schauen, bedeutete, das Lebendige zu ergründen. Er wollte dem Innersten gerecht werden und es auch berühren.
 
Wenn er in unsere Werkstatt kam, dann suchte er nach geeignetem Holz für einen Auftrag. Er nannte keine Namen, auch keine bestimmte Farbe, die ihm vorschwebte. Er umschrieb sie, erklärte beispielsweise, er wolle den Eindruck einer von den Jahreszeiten gegerbten Scheunenwand darstellen.
 
Heute kommen Designer mit einer Farbkarte, nennen Namen und Nummer. Ihre Gestaltungen sind in unseren Augen dementsprechend kühl. Und doch werden auch sie dem Leben in die Augen schauen, einfach aus einem anderen Blickwinkel heraus.

Sonntag, 12. Januar 2014

In der Eisenbahn: Der Sturm auf die reservierten Plätze

Unbekannt war uns, wie reservierte und bezahlte Sitzplätze in der Bahn ganz selbstverständlich okkupiert werden. Als wir in Köln die unsrigen schon besetzt vorfanden, mussten wir aber nicht um unser Sitzplatzrecht kämpfen. Die beiden Personen erhoben sich sogleich und verschwanden. Als wir dann fürs Mittagessen in den Speisewagen wechselten, informierten wir unsere Sitznachbarn, dass wir nichts dagegen hätten, wenn unsere Plätze zwischenzeitlich benützt würden. Aber wenn wir zurück kämen, möchten wir sie wieder einnehmen.
 
Ganz anders das Erlebnis unserer Tochter Letizia. Auf einer Reise nach München fand sie ihren reservierten Sitzplatz ebenfalls besetzt vor. Es sass da eine Frau, und die war nicht bereit, wegzugehen. Sie sagte, sie habe sich hier bereits zum Arbeiten eingerichtet. Es gebe ihn diesem Wagen gewiss noch freie Plätze.
 
Einer ähnlich sturen Person sind wir dann in Düren begegnet, konnten zuschauen, wie sich 3 Autos so verfahren hatten, dass 2 hintereinander angefahrene Fahrzeuge gefangen waren, weil eine entgegenkommende Autofahrerin um ein parkiertes Auto herum kurven wollte und mehr als die halbe Strassenseite beanspruchte. Diese Frau war mit freundlichen Worten nicht zu bewegen, zurückzufahren. Der nur geringe Verkehr stand still. Man wartete. Es wurde nicht gehupt. Es dauerte sehr lange, bis sie einsah, dass sie der Bitte nachkommen musste. Sogar im eigenen Interesse, denn auch ihr Auto war gefangen. Nur sie allein konnte die Blockade auflösen. Der hohe Trottoirrand in der Gegenrichtung verhinderte, dass die Entgegenkommenden hätten ausweichen können.
 
Es war ein Beispiel, wie Kriege entstehen oder abgewendet werden können.
 
Wieder zurück in der Bahn: Datönte eine Durchsage aus dem Lautsprecher. Ich sagte zur mir gegenüber sitzenden Frau, ich hätte diese nicht verstanden. Sie auch nicht. Aber sie wisse, was mitgeteilt werden wollte. Es seien immer dieselben Nachrichten. Verspätung. Keinen Anschluss an den fahrplanmässigen Zug.
 
Da dämmerte es mir. Darum wollen junge Leute, die auf diesen Strecken reisen, keine Sitzplatzreservation bezahlen. Wenn der Zug abgefahren ist, ist auch der bestellte Sitzplatz fort, also verloren. Anfänglich störte es mich, dass man um einen bestellten und bezahlten Platz bitten musste. Jetzt wussten wir Bescheid.

Wir dachten auch noch über die Frau im Auto nach. An jenem Ort befindet sich ein Krankenhaus. Vielleicht kehrte diese in unseren Augen sture Frau von einer Behandlung zurück, hatte möglicherweise ein beruhigendes Medikament erhalten, das rasches Handeln verunmöglichte. Wenn wir immer alles schon wüssten, hätten wir mehr Verständnis für scheinbar egoistisches Verhalten.