Montag, 29. August 2011

Paris (4): Eile mit Weile oder: Mensch ärgere dich nicht

2 Namen für dasselbe Spiel. 2 Inhalte, die sich ergänzen. Eile mit Weile kenne ich seit meiner Kindheit. War es anfänglich nur ein spannendes Würfelspiel, habe ich irgendwann seinen Namen hinterfragt. Und dann begriffen, dass es ein wertvolles Lebensmotto ist. Eilen ja, aber auch verweilen ist wichtig. Und jetzt noch der gute Rat: Mensch ärgere dich nicht.
 
Mena wollte mit uns Grosseltern und ihrer kleinen Schwester Mensch ärgere dich nicht spielen. In digitaler Form. Neu für uns.
 
Die Regeln schienen anfänglich dieselben wie beim Brettspiel aus Karton, auf dem die hölzernen Spielfiguren unterwegs waren.
 
Als Mutter galt für mich immer auch eine persönliche innere Regelung: Wenn Kinder mit grossem Altersunterschied am gleichen Spiel beteiligt sind, das kleinste hie und da zu schonen, um es nicht zu entmutigen. Vorausgesetzt, dass ich Wahlmöglichkeit habe. Dass sich mehrere meiner Figuren ausser Haus befinden. Da ich in der Familie die einzige war, die sich so verhielt, gab es für die Jüngste immer noch genügend Widersacher, die sie herausforderten.
 
Jetzt, im digitalen Spiel, eckte ich an. Es meldete „Fehler“. Es liess meine moralische Richtlinie nicht zu. Als ich die kleine Nora nicht überholt und sie nicht heimgeschickt hatte, weil ich sie aus den beschriebenen Gründen schützen wollte, befahl mir das Gerät, mit allen Figuren heimzugehen. Kein Problem für mich. Ich kann verlieren. Aber es wurmte mich schon, dass eine Automatenautorität meine vermeintliche Wahlfreiheit ignorieren musste. Ich hatte auch schnell begriffen, dass das System Blockaden auf der Bank nicht zulässt. Und das war doch immer ein spannendes Detail, das uns kribbelig machte und echte Spielfreude aufkommen liess. Kurz: Ich empfand diese Spielform fad. Es konnten keine Wagnisse eingegangen werden. Hier musste nur ein Programm abgewickelt werden. Mein persönlicher Gestaltungswille meldete Opposition.
 
Felicitas beobachtete mich und sah schnell, was in mir vorging. Sie kennt meine Abneigung, wenn es darum geht, einem Automaten Macht abzutreten. Hier also die automatische Steuerung nach einem mir nicht genehmen Muster. Selbstverständlich spielte ich mit, und die Kinder freuten sich. Und das war ja das Wichtigste. Und kein Unglück für sie, dass sie nicht gewonnen hatten. Das neutrale Gerät – ich nenne es hier Computer – hatte entschieden. Er ist kein Mensch und darum keine Bedrohung für sie.
 
Später suchte Felicitas das Gespräch mit uns. Sie habe meine Skepsis von meinem Gesicht ablesen können und möchte uns noch die Hintergrundgeschichte erzählen. Mit dieser digitalen, starren Form und dem Resultat, das das Gerät melde, könne Mena gut leben. Bis anhin sei sie eine schlechte Verliererin gewesen, habe ihre Fassung verloren, konnte kaum beruhigt werden.
 
Wir erfuhren auch, dass dieses Spiel später noch anspruchsvoller programmiert werden könne. Als Heilmittel für ehrgeizige Kinder, die nicht verlieren können, wirke es auf der erlebten Grundstufe aber phänomenal.
 
Wunderbar. Eine Belehrung, die ich gern annehme. Der Titel stimmt: Mensch ärgere dich nicht!
 
Dieses Erlebnis führte dann noch zu einer anderen Anschauung. Wir könnten den Computer in diesem Spiel im übertragenen Sinn als jene Schicksalsmacht ausserhalb von uns deuten, von der wir abhängig sind, sie aber nicht beeinflussen können. Ob alle Entscheidungen auf unserem Lebensweg auch wirklich gelingen, hängt nicht nur von uns selbst ab.
 
Und jetzt noch der Witz der ganzen Geschichte: Ich hatte das Spiel gewonnen.

Samstag, 27. August 2011

Paris (3): Velofahren und austoben, wo es gestattet ist

Nora hatte alles ganz liebenswürdig arrangiert. Auf ihrem Hochsitz stand ein illustriertes Liederbuch, und auf dem Tisch lag ihr Abspielgerät, aus dem Lieder und Gedichte ertönten, die Primo und ich vor einiger Zeit für sie aufgenommen hatten. Verschmitzt sah sie mich an und freute sich, dass ich meine Stimme erkannte. Dann suchte sie im Liederbuch entsprechende Bilder, die zu unserem Gesang oder den Versen passten. Für solche Momente gibt es eigentlich keine Worte. Da gibt es nur das übereinstimmende, glückliche Gefühl. Und dieses machte den Abschied nachher schwer.
 
Wir waren gekommen, um Mena abzuholen, nicht um mit Nora zu spielen. Als sie bemerkte, dass sie bei der Mama bleiben musste, wurde sie wütend und traurig. Ich konnte sie gut verstehen, musste aber auch einsehen, dass wir einer 5-Jährigen die bereits beschriebene Tour mit Mena als Reiseleiterin nicht hätten zumuten können.
 
In solchen und ähnlichen Situationen rettete der Schwiegersohn die Situation. Nora durfte dann mit ihm ausfahren. Da war sie die Königin. Mit Velohelm, Ellbogenpolster und Knieschoner, gut gesichert im Kindersitz. Da strahlte sie. Sie war sich bewusst, dass diese Fahrten auf seinem Fahrrad nur ihr zustanden. Alle anderen mussten sich aus eigener Kraft fortbewegen.
Velofahren in Paris ist populär geworden. Im Internet sind alle Angaben unter Fahrrad-Verleih Paris abzurufen. Dort ist auch zu erfahren, dass in dieser Grossstadt zur Zeit beinahe 400 km Radwege zur Verfügung stehen.
 
Wenn wir alle zusammen als Familie ausfuhren, blieben Fussgänger manchmal stehen. Vom Schwiegersohn angeführt, schlängelten wir uns als geschlossener Konvoi über Velowege und Verkehrsachsen aus dem Stadtverkehr hinaus.  Beispielsweise zum Park de la Villette. Felicitas auf dem Trottinett, Nora auf ihrem kleinen Zweirad, das wie ein Anhänger am Velo von Bappa fest montiert war.
 
Der Park de la Villette ist eine riesige Anlage auf dem ehemaligen Schlachthof von Paris. Wo früher Tiere getötet wurden, wird heute das Leben gefeiert. Auf den riesigen Grünflächen, in der Konzerthalle, dem Museum und Bibliothek. Mit ständig wechselnden Veranstaltungen. Dieser Ort kann übrigens auch mit dem Ausflugsschiff aus der Innenstadt über den Canal Saint Martin erreicht werden.
 
Hier hielten wir uns lange auf einem asphaltierten Platz auf, wo die Kinder mit Mama zusammen ihre Schleifen zogen. Nora hatte erst kürzlich gelernt, ohne Stützräder Velo zu fahren. Jetzt war sie im Element, fühlte sich der grossen Schwester ebenbürtig. Sie pfeilte los und lag in die Kurven. An diesem Ort war es ruhig. Der Platz gehörte uns lange allein.
Ganz anders im Bereich, wo sich die Kinder mit sportlichen Spielgeräten austoben können. Herausragend das neuartige, übergrosse Trampolinfeld. Hergestellt aus schlauchartigen Gummituch-Matratzen. Noch nie so gesehen. Der Lieblingsort aller gerade anwesender Kinder. Begehrt aber auch ein Tretrad, eine Schwungseilbahn, das Mäuselaufrad für Kinder, eine Ballspielanlage, ein Feld mit verschieden hohen Poldern (Hocker) zum darüber Hüpfen usw. Die Installationen sind verschiedenen Altersgruppen zugeordnet und entsprechend bezeichnet.
Der Andrang war gross. Die Kinder mussten in Warteschlangen anstehen, sich in Geduld üben. Am Tag unseres Besuchs geschah das vorbildlich. Und dann, wenn sie am Ziel ihrer Wahl angekommen waren, warfen sie sich ins Spiel, lachten und schrien. Was für eine fröhliche Ausgelassenheit! Das Gekreische der vielen Kinder in Ekstase.
 
Ich weiss nicht, ist die geschaute, überschäumende Fröhlichkeit darauf zurückzuführen, dass Kinder in Grossstädten in ihrem natürlichen Bewegungsdrang zurückgebunden sind und solchen Ausgleich brauchen. Hier gibt es keine kindergerechten Schulwege, keine Möglichkeiten, Entdeckungen ganz allein zu machen. Hier muss man aufpassen und spuren. Das trifft die Kleinen am meisten. Hier werden Kinder lange begleitet.
 
Oder öffnen uns die exaltierten Kinder hier ein Fenster in die Zukunft und zeigen uns eine hoch gespannte Menschheit, wie sie immer neue technische Erfindungen dazu benützt, um sich in rauschhaften Zuständen zu erholen?

Donnerstag, 25. August 2011

Paris (2): Zu Fuss unterwegs. Mena, unsere Reiseleiterin

„Wie sollen Eure Tage aussehen?“, fragte Felicitas nach unserer Ankunft. Mena notierte unsere Vorstellungen und die Wünsche der Kinder rechtsseitig auf einem grossen Papier. Der übrige Platz wurde in 9 Felder für 9 Tagebucheintragungen eingeteilt. Über Wünsche und Erfüllung sollten wir jederzeit Klarheit haben.
 
Die Kinder wünschten ein Picknick in einem Park, einen gemeinsamen Kinobesuch und ein Abendessen im Restaurant. Auch unsere Vorgaben wurden notiert. Wichtig für mich: Dass ich Felicitas endlich einmal „mein“ Quartier zeigen könne. Den Arbeitsort an der Rue de Vaugirard und den Wohnort an der Rue Saint Placide. Von den Kindern wünschte ich mir speziell, dass sie uns das zeigen können, was ihnen in ihrer Stadt gefällt.
 
Einmal haben wir die 9-jährige Mena als Stadtführerin engagiert. Sie begleitete uns zu Fuss von ihrem Zuhause im Umfeld der Metrostation Abbesses über Place Blanche zur Kirche Trinité und dem vorgelagerten Spielplatz, wo sie sich als kleines Kind gern vergnügte. Darauf wies sie hin. Sie war besorgt, dass wir die Strassen korrekt überquerten und schaltete an jedem Fussgängerübergang die Glocke für Blinde ein, die dann läutete, wenn die Ampel auf Grün schaltete. Wir haben immer gute Erfahrungen gemacht, auch mit den eigenen Kindern, wenn wir ihnen Verantwortung übergaben, im Hintergrund aber alles überwachten.
 
Als wir dann bei den grossen Boulevards eingetroffen waren, übernahm der Grossvater die Führung. Und wir landeten im berühmten Warenhaus Galeries Lafayette. Drinnen aber ging uns Mena voran. Wir durchwanderten jedes Geschoss, fuhren mit der Rolltreppe in die nächste Etage, betrachteten die Angebote aber nur so nebenbei. Uns drei interessierte der Baustil mit seinen kreisrunden Galerien, von denen wir in jedem Geschoss übers Geländer in die Tiefe schauen konnten. Mena bewunderte die Relikte an den alten Liften aus der Jugendstilzeit, und vor allem interessierte sie sich für die mit farbigen Gläsern ausstaffierte Kuppel. Wir kamen ihr ganz nahe und sahen ihre Konstruktion, die Verschraubungen und sahen auch, dass einige Gläser leicht verletzt sind. Die Rolltreppe führte dann aus einem Anbau nebenan noch höher, und von dort aus konnten wir sogar auf sie herunterschauen. Die höchstmögliche Aussicht war nun erreicht, und wir waren gleichzeitig in der Spielzeugabteilung gelandet.
 
Erschien uns Mena bisher älter als sie ist, wurde sie hier oben wieder ganz Kind. Sie verliebte sich in Kuscheltiere, betastete haptische Materialien, bestieg Schaukelpferde, setzte sich an Kinderklaviere und dirigierte eine Gokart-Bahn. Derweil entdeckten wir Grosseltern das enorm vielfältige Spielzeugangebot und besonders die jetzt gängigen Figuren von Barbie. Während sich Mena in diesem Kinderland irgendwie heimisch fühlte, realisierten Primo und ich, wie weit weg wir von ihm sind.

Nach dem Mittagessen und auf dem weiteren Weg – immer zu Fuss – trafen wir auf ein Strassen-Orchester und lauschten dort eine Zeit lang Vivaldis „Jahreszeiten“. Spannend auch für ein 9-jähriges Kind. Endlich landeten wir vor der Kirche Notre Dame. Dort wollten wir den Turm besteigen und Mena die steinerne Figur zeigen, in der Globi sich selbst erkannte. Globi ist ein Wesen zwischen Mensch und Papagei und die erfolgreichste Kinderbuchfigur der Schweiz. Wenn die Enkelkinder zu uns kommen, gehen sie jedesmal sofort zum Schrank, wo seine Bücher versorgt sind.
 
In der Geschichte „Globi erlebt Paris“ besuchte er ebenfalls den Turm von Notre Dame und erschrak, als er in einer Ecke der Balkonbrüstung eine dämonische Figur wahrnahm, die seinen Gesichtszügen ähnelte. Der Globi-Texter sah in dieser und anderen Figuren Wasserspeier. Aus meiner Sicht sind es vom Steinmetz erschaffene Figuren. Schimären, die das Böse erschrecken und das Heiligtum beschützen müssen. Als wir aber die unzähligen Menschen in der Warteschlange sahen, änderten wir das Programm. Von weit her sahen wir Globis Verwandte dann doch noch. Zusätzlich kaufte ich für Mena eine Postkarte mit einer Nahaufnahme von ihm.
 
Eindrücklich bleiben die vielen Menschen in Erinnerung, die Notre Dame besuchen wollten. Quer über den ganzen Vorplatz dieser weltberühmten Kathedrale stand man in der Schlange an. Niemand drängte vor. Dieser Ort strahlt eben aus. Die Menschen, die hieher kommen, fühlen rasch, dass die Atmosphäre einmalig ist. Alt und Jung wollen Notre Dame sehen und erleben. Das lange Warten wird akzeptiert. Bald einmal fühlt es sich sogar wohltuend an. Wartend vermischen sich Temperamente und persönliche Energien zu einem Fluidum, das heiter und friedlich stimmt. Das ist meine persönliche Erfahrung. Und davon sprechen auch Fotos, die ich hier schon vor Jahren aufgenommen habe.
 
Wir begleiteten Mena dann in den Square Johannes XXIII. an der rechten Seite der Kathedrale. Dort befindet sich ihre Lieblingsschaukel. Sie verfügt über ein höheres Gestell, eine längere Kette als üblich. Zum Schwung kann weiter ausgeholt werden. Mena kann nicht genug schaukeln. Hin und her, hinauf, hinunter, vom Diesseits ins Jenseits, scheint mir. Als sie ihren Platz einem Amerikaner abtrat, schaute sie bewundernd zu, wie er, ohne zu stoppen, aus dem Schwung absprang. Da wollte sie es ihm gleich tun und stürzte. Die Schürfungen waren nicht bedrohlich, aber der Schreck hing noch eine Weile an ihr. Sie hinkte, meinte, das Knie nicht mehr beugen zu dürfen.
Nicht lange, denn wir trafen auf einen Gaukler, der mit seinem Velo Kunststücke vollführte. Eine Attraktion löste die andere ab. Den Schlusspunkt bildete eine Glace, die auf der Promenade am Seineufer angeboten wurde. „Grosy, du wirst dich wundern“, sagte sie, als sie eine Kaffee-Glace wählte.
 
Diese überbrückte dann die Müdigkeit und den kleinen Schmerz. Gut gelaunt kamen wir nach Hause zurück.

Dienstag, 23. August 2011

Paris (1): Meditative Reise und Empfang im Gare de l'Est

Diesmal verlief vieles anders. Primos Beobachtung von früheren Reisen nach Paris wiederholte sich nicht sofort. Es hiess da, ich sei jedesmal ein anderer Mensch, wenn ich die Grenze zu Frankreich passiert habe. Quirliger, erlebnishungriger, lustiger. Dem riesigen Adler gleich, nach dem wir jeweils in Saint Louis ausschauen. Die mächtigen Flügel zum Abflug ausgebreitet, bewacht er das Museum für Gegenwartskunst im ehemaligen Weinlager von „Fernet Branca“. Und er stellt, auf der Weltkugel sitzend, das Logo dieser Firma dar. Eine imposante Erscheinung.
 
Abfliegen wollen und doch an einen Ort festgebunden sein, in solchem Spannungsfeld fühlte ich mich diesmal beim Grenzübergang. Wir hatten gerade bemerkt, dass Primo die Identitätskarte nicht auf sich trug. Wohl dachten wir ans Schengen-Abkommen, das die Grenzen in Europa öffnete, aber da kam doch die Grenzpolizei in unseren Bahnwagen. In stoische Ruhe versunken, fragten wir uns, was auf uns zukomme. Es wurde aber nur eine Person und deren Gepäck von 3 Grenzwächtern sorgfältig überprüft. Wir blieben unbehelligt, aber auch weiterhin still.
 
Nach Strasbourg führte die Reise im TGV-Hochgeschwindigkeitszug durch die Champagne. Diese Route ist neueren Datums und führt durch riesige Felder auf sanften Hügeln. Sie waren grösstenteils abgeerntet und zwischen den verbliebenen Getreidstorzen wuchs schon wieder zartes Grün. Einen solchen Farbteppich beige-silber-grün würde ich gern für meine Stube erwerben, wenn es ihn gäbe. Von solchen Bildern begleitet, erlebten wir die Reise meditativ. Nach 5 Stunden waren wir schon in Paris.
 
1958/59, als ich in Paris arbeitete, benötigte die Bahnreise ab Zürich noch 10 Stunden. Ich erinnere mich an Halte in grösseren Städten, wo den Reisenden auf rollenden Verkaufswagen vom Perron aus Zwischenverpflegung und sogar mit Kapok gefüllte Kissen angeboten wurden. Damals gehörten zum Reisen auch Zufallsbekanntschaften im selben Abteil und Gespräche mit ihnen. Heute schläft man in der Bahn. Die Landschaft wird kaum mehr bewusst wahrgenommen. Dies meine Erfahrung, auch in der Schweiz. Ausgenommen sind gut informierte Touristen, die wissen, wo die landschaftlichen Schönheiten zu erwarten sind.
 
Im Zug reiste auch eine japanische Reisegruppe. Die meisten schliefen. Der Reiseleiter sass mir gegenüber. Als er seine Papiere geordnet, alle Informationen verteilt hatte, zog er eine eng anliegende Brille aus Stoff über die Augen und tauchte ab in einen ruhigen Schlaf. Ich dachte auch Tage danach noch an diese Reisenden und frage mich jetzt wieder, wie man solche Monstertouren in fernste Länder und zu touristischen Höhenpunkten erträgt. Wie verkraften Herz und Kreislauf die ständig wechselnden Höhenunterschiede und die wechselnden Wettereinflüsse? Was kann überhaupt wahrgenommen werden?
 
Im Abteil uns gegenüber hatten sich eine Grossmutter, ihre Tochter und 2 Enkelkinder aus Basel eingerichtet. Die beiden Frauen strömten eine liebenswürdige Präsenz und auch Gelassenheit aus, die sich auf die Kinder übertrug. Das vielleicht 10-jährige Mädchen strickte an einem Schal, und der kleinere Bruder füllte Bilder in einem Malbuch aus. Es wurden Rätsel gelöst, Proviant gegessen, Fingerspiele gemacht und auch ein bisschen gedöst. Sobald aber die ersten Häuser der Pariser Banlieue sichtbar wurden, erwachten alle, auch die Reisenden aus Japan und das Mädchen von nebenan. Es fragte nach der Sprache in Paris: Ob sie frankrichisch heisse (aus dem Wort Frankreich abgeleitet). Solche Fragen gefallen mir.
 
Paris! Auch Primos und meine Lebensgeister erwachten. Das markante Häusermeer hiess uns willkommen. Ebenso unsere Tochter Felicitas und ihre Töchter. Mena und Nora schauten am Perroneingang nach uns aus. Als sie uns erkannten, rannten sie los, uns zu begrüssen und zu umarmen. Nora, 5-jährig, ist besonders dem Grossvater zugetan. Darum rief sie, schon während sie uns entgegenlief: „Dä Gropi isch für mich. Dä Gropi isch für mich“ (Der Grossvater sei für sie reserviert).
Nora sorgte auch sofort für einen Ersatz, als wir erzählten, dass Gropi die Schweizer Identitätskarte zu Hause liegen gelassen habe. Sofort stellte die 5-Jährige eine Ersatz-ID für ihn aus. Auf einem mit der Karte vergleichbar grossen Papier zeichnete sie das Porträt ihres Grossvaters. Die Fröhlichkeit in Person. Stimmt. Ich staune immer wieder, wie Kinder im Vorschulalter mit wenigen Strichen Stimmungen festhalten können. Hier das lustige Gesicht, das vom Wind aufgestellte Haar (man nannte ihn zeitweise Tintin), die grosse Nase, die ausgestreckten Arme und rund um ihn schwebende Kugeln, die als lustige Einfälle zu deuten sind.
 
Dieses Papier kam in die Brusttasche jedes Hemds, das er in Paris trug. Es erwies sich als wichtiger Datenträger. Auf der Rückseite vermerkte uns Felicitas ihre Telefonnummer, ihren Haustürcode, die Strasse und Hausnummer unserer Ferienwohnung und auch deren Haustürcode.
 
Nach 3 Tagen traf Primos ID im Original in Paris ein. Die in Zürich zurückgebliebene Tochter Letizia hatte dafür gesorgt. Dass wir von einander Haustürschlüssel besitzen, hat sich nicht zum ersten Mal als hilfreich erwiesen.

Dienstag, 2. August 2011

In Zürich singen die Vögel sogar im öffentlichen Bus

"Wenigstens einmal täglich sollten wir unsere Aufmerksamkeit nach innen richten." Dieses Dalai-Lama-Wort stand am 26.07.2011 auf meinem Kalenderblatt.
 
Als ich an jenem Tag im VBZ-Bus in die Innenstadt fuhr, waren wohl die meisten Fahrgäste drinnen, bei sich selbst. Zuhörend und in den Schwingungen eines Vogelgesangs schaukelnd. Und erfüllten, ohne es zu wissen, die buddhistische Vorgabe vom Abreisskalender.
 
Kaum war der Bus losgefahren, hörten wir Vögel singen. Ich fragte mich, wer diese hier so gut nachahmen könne. Beim Einsteigen war mir ein wackerer Mann aufgefallen, dem ich diese Kunst zutraute. Ein Weltreisender vielleicht. Mit Rucksack und Sombrero.
 
Möglichst unauffällig schaute ich nach hinten und beobachtete ihn. Er sass aber ganz ruhig da. Mehr noch, er schien in sich versunken. Er hörte zu. Nichts bewegte sich in seinem Gesicht. Sofort schied er als Imitator aus.
 
Der Gesang wiederholte sich. Kurz vor einer Haltestelle setzte er aus. Fuhr der Bus wieder los, ertönten auch die Vogelstimmen wieder. Niemand fragte, woher sie kämen. Wir hörten einfach zu. Sie hoben uns ab. Gedanken, die mich bis dahin umtrieben, verflüchtigten sich. So mag es auch anderen Fahrgästen ergangen sein. Es entstand eine friedliche Stimmung. Eine Art Andacht. Es wurde nicht gesprochen. Niemand stellte eine Frage. Den singenden Vögeln galt unsere ganze Aufmerksamkeit.
 
Ich fühlte mich in den Bergen. Dort werden Reisen im Postauto oft mit diskreter Musik begleitet.
 
Ich dachte auch an „unsere“ Amsel, die vor dem Eindunkeln ihr Abendlied singt. Dafür fliegt sie, ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang, auf den First des Nachbarhauses, setzt sich dort an die Front, richtet sich ein, schaut aus, wartet auf den richtigen Augenblick und beginnt dann zu singen. Wir können sie vom Balkon aus beobachten und hören. Manchmal warten wir auf sie, manchmal ist sie es, die uns ruft. Immer ist das ein schöner Abschied vom Tag. Wir fragen uns, ob es ein Loblied sei. Eines für die anbrechende Nacht oder einen Dank an den vergangenen Tag?
 
Jetzt, bei bedecktem Himmel und Regenwetter, ist sie nicht erschienen. Ist das ihre Antwort an uns, sie singe nur für den Sonnenuntergang?