Samstag, 20. April 2013

2 Geschichten, die dem Markt in Oerlikon entsprangen

Die erste Geschichte:
Auf dem Früchte- und Gemüsemarkt in Zürich-Oerlikon habe ich nochmals Tarocco-Orangen gekauft. Der Händler sagte, das seien die letzten dieser Saison, bald nur noch eine Erinnerung.
 
Und dann, als ich eine schälte, kam mir Leo in den Sinn ‒ der Sizilianer, der mit 6 Arbeitskollegen wie wir damals in einem Bernoulli-Reihenhaus lebte und uns einmal nach der Rückkehr aus den Weihnachtsferien in seiner Heimat eine Prachtsorange brachte. Er läutete an unserer Tür, grüsste, strahlte und erzählte von seiner Reise. 24 Stunden habe sie gedauert. Von Anfang an sei der Zug überfüllt gewesen. Man habe die Sitzplätze mehrheitlich den Frauen überlassen. Und die restlichen abwechselnd benützt. Er habe manche Stunde auf dem gestapelten Gepäck etwas ruhen, aber nicht schlafen können. „Und jetzt koche ich Spaghetti!“ rief er noch, bevor er im Nachbarhaus verschwand.

Er brachte uns also die Orange, bevor er zu kochen begann. Noch „sehe“ ich ihn und die Freude auf seinem Gesicht, als er uns grüsste und ein gutes Neujahr wünschte. Auch wenn er jetzt wieder in der Fremde angekommen war, hier war er nicht fremd, und das spürte er.
 
Leo zeigte mir einmal, wie sich die Männer eingerichtet hatten und er nannte den Preis pro Schlafplatz, der ihnen vom Lohn abgezogen wurde. In meinen Augen überrissen. Ein Wohnort im eigentlichen Sinn war es nicht. 7 Matratzen. Eine Unterkunft, ja. Und ein Glück, dass Bernoulli die Küchen geräumig entworfen hatte. Hier konnten diese Bauarbeiter am Abend selber kochen und an einen gemeinsamen Tisch sitzen. Alle gehörten zur selben Firma.
 
Leo verstand es, Körbe zu flechten. Im Frühjahr schnitt er am Limmatufer geeignete Weidenruten. Er legte sie ins Wasser, wusste, wie er sie behandeln musste. Und wir schauten dann zu, wenn er diese im Garten zu Schalen oder Körben flocht. Handwerkliches Geschick und Schönheitssinn waren ihm mitgegeben und dürften auch auf den Baustellen geschätzt worden sein. Wo mag er heute sein?
 
Die zweite Geschichte, ebenfalls vom Früchte- und Gemüsemarkt:
Rüebli und Radisli
Primo und ich beobachteten dort eine Hortleiterin mit 5 Kindern. Sie waren auf den Marktplatz gekommen, um Früchte und Gemüse zu benennen. Jedes Kind hielt einen Zettel in Händen. Darauf war eine Frucht oder ein Gemüse notiert. Diese(s) wurde(n) gesucht und dann gekauft. Artig grüsste das entsprechende Kind die Frau oder den Mann am Stand „Guten Morgen!“ Und las dann den Namen vom Zettel. Radieschen. Ja, solche wollte der Bub kaufen. Die Hortnerin zeigte noch auf das Preisschild und dass man dort den Namen lesen könne, wenn man ihn vergessen habe. Ein anderes Kind wollte Erdbeeren kaufen. Die Marktfahrerin hatte viel Geduld mit ihm. Es war schwierig für das Mädchen, sich für eine der bereits abgepackten Portionen zu entscheiden. Wir blieben eine Weile stehen und beobachteten diesen praktischen Unterricht. Die Kinder, zum Teil aus fernen Ländern, waren sehr aufmerksam und interessiert. Ein Knabe hielt uns seine Papiertasche hin, damit wir sehen konnten, was er gekauft hatte.
 
Später sahen wir noch eine weitere Führung: Um eine andere Hortnerin geschart, kleinere Kinder, die noch nicht lesen konnten. Aber auch ihnen wurden Früchte gezeigt und diese benannt. Und wieder etwas später trafen wir auf 3 afrikanische Frauen, denen die Produkte in den Auslagen von einer schweizerischen Begleiterin erklärt wurden.
 
Der Markt zeigte sich an diesem Morgen als Freilichtschule. Auch für uns. Wir kamen mit jenem Marktfahrer ins Gespräch, der seinen Cicorino verde zu einem Rosenbett zusammengefügt hatte. Es sei ihm ein Anliegen, diese grünen Rosettenzichorien so zu präsentieren, wie sie gewachsen seien. Aufrecht stehend, Rose an Rose, hatte er sie in ein hölzernes Kistchen platziert und mit diesem ein schönes Bild geschaffen. Den Blättern schien es zu gefallen. Er zeigte uns, wie sie sich aneinander anschmiegten und aufrollten. Das ungehobelte Holz des Kistchen schenkte den schlichten Rahmen dazu.
 
Vielleicht, weil dieser Mann sah, dass wir seine Feinfühligkeit erkannten, wetterte er über alle Händler, die solche Schönheit nur auf einen Haufen werfen. Etwas Gewachsenes muss man doch auch bewundern, nicht nur essen wollen, schien er zu sagen. Er freute sich, dass wir gleicher Meinung waren.
 
Eine weitere Spezialität an seinem Stand: Einige wenige Eier von Gänsen, Enten und Zwerghühnern. Mit sanft farbigen Schalen, schöner als sie Osterhasen färben können. Da langten wir zu.
 
Zudem trugen wir Blumensetzlinge heim. Sie läuteten noch am selben Nachmittag unseren persönlichen Balkon-Frühling ein. Es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Heute aber regnet es. Und die Temperatur ist gefallen. Wie froh bin ich, dass die Gärtnerin, die mir Setzlinge verkaufte, noch darauf hingewiesen hat, dass diese robust und unverdorben seien.




Montag, 15. April 2013

Geschichten rund um eine ambulante Augenoperation

In der Rückschau empfinde ich die seriösen Vorbereitungen für Primos Katarakt-Operation wie ein wichtiges Ritual. Wir konnten uns langsam vorbereiten und mit der Augenklinik vertraut machen.
 
Auf Anraten unserer Augenärztin ging ich zur Voruntersuchung mit. Auch ich durfte Fragen äussern. Dann stellten wir uns noch für Studierende eine Stunde lang zur Verfügung.
 
Sie mussten die Probleme in unseren Augen erfassen und eine Diagnose erstellen. Spannend für uns beide, auch wenn uns das Verständnis für die vielen Fachausdrücke fehlte. Diese jungen Leute arbeiteten mit einfachen Instrumenten, gingen behutsam an die Aufgaben heran. Und sie besprachen in ihrer Gruppe das, was sie entdeckt hatten. Einer schwärmte von meinem rechten Auge, wie schön es sei. Es interessierte mich, was er darin sehe, ob das Bild einer Landschaft vergleichbar sei. Nein. Die Farbe und die Adern faszinierten ihn.
 
Ein anderer Schüler hielt die Sehtesttafel hoch. Primo musste die verschieden angeordneten "E" benennen. Der Arzt, mit dem wir die Operation besprochen hatten, schaute zu. Ich sah Fehlinterpretationen und schüttelte den Kopf. Nur leicht, doch wurde es bemerkt. Der Arzt sagte: „Die Frau hat keine Freude, ich aber schon.“ Mir hatten nicht alle Antworten gefallen. Der Arzt aber sah in ihnen seine Diagnose bestätigt, und das freute ihn. Und mir stärkte er mit dem, was er sagte, das Vertrauen in seine Kompetenz.
 
Die Operation ist denn auch entsprechend gut verlaufen. Auf dem Heimweg aus der Klinik erzählte mir Primo, wie sich alles abgespielt hat. Er wünschte keine Vollnarkose, kam damit gut zurecht, war wach und hat mir das, was er mitbekommen hat, schildern können. Entlastet und beschwingt verliess er dieses Haus, in dem die eine alt und trüb gewordene Linse durch ein künstliches Linsenimplantat ersetzt worden war. Wie genau dieser Austausch vollzogen worden ist, bleibt unfassbar. Da war er für nur 2 Minuten voll narkotisiert. Das Wesentliche also konnte nicht mitverfolgt werden. Es bleibt ein Geheimnis, grenzt an ein Wunder, weil wir nicht einmal eine Narbe sehen.
 
Ich fühlte seinen Schwung und seine Freude, als er die Klinik verlassen hatte, und verstand den Wunsch, nicht sofort in ein Tram einzusteigen. Er wollte über die Polyterrasse in die Stadt hinunter gehen. Das ist ein schöner Ort mit Weitsicht über die Altstadt, zum See und Üetliberg hin, auch Richtung Limmattal und bei schönem Wetter in die Alpen. Er hoffte, dort noch Skulpturen zu sehen, hatte von solchen gelesen. Sie waren aber bereits weggeräumt. Da musste ich dann schon augenzwinkernd fragen: Wer braucht denn hier Begleitung? Wer holt wen ab? Von der Klinik wurde nämlich ausdrücklich verlangt, dass der entlassene Patient abgeholt und begleitet werden müsse.
Die schöne Aussicht konnte er aber nur halbseitig geniessen. Wenn ich aus Versehen an seiner rechten Seite ging oder stand, konnte er mich nicht sehen. Das operierte Auge war unter einer aufgeklebten Plastikschale gut geschützt, sah gepolstert aus und modellierte das Gesicht neu. Tags darauf wurde dieser Augenschutz, wieder in der Klinik, abgenommen. Das war dann der eindrückliche Moment. Er öffnete die Sicht in neuem, klaren Licht. Primo sprach vor allem von der Weite der Wahrnehmung, die ihn als erstes begeisterte. Noch muss dieser Augenschutz jeden Abend wieder angebracht und über Nacht dort belassen werden.
Ich war sehr neugierig, wie ich seine neue Sicht erleben werde und sprach auch mit den Töchtern darüber. Ich fragte mich, ob ich vielleicht speziell putzen müsse. Letizia erinnerte mich sofort an eine Humorgeschichte aus der Schreinerzeitung von einst. Da kam ein Schreiner zum Augenarzt, beklagte sich über seinen müden Blick und dass er keine präzisen Leimfugen mehr herstelle könne. Es war höchste Zeit für eine Brille, die man ihm sofort verschrieb. Als er sie beim Optiker abholte, beeindruckte ihn die klare Sicht und er freute sich. Dann kam er heim und sah seine Frau. Wie alt und verbraucht sie war. Dieser Anblick war unerträglich. Er packte die Brille wieder ein, brachte sie dem Optiker zurück und schimpfte mit ihm. Unbrauchbar! Eine Zumutung! Eine Frechheit, meine Frau so darzustellen.

Auch ich konnte meine Sicht erweitern. Das Gebiet des UniversitätsSpitals kannte ich bisher kaum. Ich entdeckte die alte, also ehemalige Eidgenössische Sternwarte in Zürich. Ein schmucker Bau mit Kuppel, der mich sofort anzog. Schrecklich aber die verschiedenen Bauten, die nach und nach an diesen Zürichberg-Hang gebaut worden sind. Vor allem die Materialien empfinde ich teilweise abstossend und lieblos. Wie ganz anders zeigt sich der Nachbarort mit dem Kantonsspital und dem zugehörigen Park. Wir empfanden diese hohen Spitalgebäude nicht nur darum wohltuend, weil Primos Vater als Maurer an ihnen gearbeitet hat. Es sind harmonische Bauten. Wir schauten die Backsteinmauern an und fragten uns, welche von seinen Händen und seiner Kraft mitgestaltet worden sind. 
Als die Aufrichte am 15. September 1949 gefeiert wurde, bekamen alle Arbeiter, die an diesem Bau beteiligt waren, ein Fazenettli, ein Stoffdruck mit der Darstellung des Gebäudekomplexes samt Park. Solche Tücher, die den Stofftaschentüchern ähnlich sind, benutzten die Bauarbeiter gerne, um den Schweiss abzuwischen. Jenes von Vater Lorenzetti ist brüchig geworden. Wir halten es gleichwohl in Ehren.
 
Primo erinnerte sich noch, dass ein solches Fazenettli in einem Bildrahmen im Erdgeschoss des Kantonsspitals aufgehängt war. Wir suchten nach ihm. Es ist verschwunden.