Donnerstag, 27. Juli 2006

Geburt mitten in Paris: Die natürlichste Sache der Welt

Gute Nachrichten. Menas Schwester ist auf die Welt gekommen. Ein gesundes, schönes Mädchen ist es. Vermutlich eine entspannte, gemütliche Natur. Mit schwarzen Haaren, die bereits nach einem perfekten Haarschnitt aussehen. Sie wird die junge Familie bereichern. Die grosse Schwester freut sich ungemein. Als der Papa die Ankunft am Telefon meldete, hüpfte sie auf dem Sofa wie auf einem Trampolin. Inzwischen haben wir das Kind in der Klinik besucht.

Das ist keine Kleinigkeit. Die Fahrt in der Metro mit der quicklebendigen Mena fordert das Verantwortungsbewusstsein der Grossmutter über die 100-Prozent-Grenze hinaus. Im grössten Gedränge findet sie an einer der Mittelstangen eine Haltemöglichkeit und will an der Umsteige- und Zielstation die Metrotür nach der Deblockierung eigenhändig öffnen. Keine Widerrede. Öffnen. Ein Stadtkind durch und durch.
Ein Neugeborenes in Händen zu halten und dazu wissen, dass dieses ein Ast am eigenen Lebensbaum ist, berührt mich. Hier passt für meine Empfindung das Wort heilig wieder einmal. Ein Kind, wohlgeformt, mit allem ausgerüstet, was es auf seinem Lebensweg brauchen wird. Ein Kind, das atmet, als wäre es schon Monate auf der Welt. Unübersehbares Zeichen für Kraft und Lebensmut.


In der Klinik hörte ich, dass am selben Tag 5 weitere Kinder und am Tag zuvor 30 weitere geboren worden sind. Die natürlichste Sache der Welt und doch auch immer mit Unsicherheiten verbunden. Wie schön, wenn alle aufatmen und sich dankbar zeigen können.

Samstag, 22. Juli 2006

Boulevard de Clichy: Die Reize eines Schulwegs in Paris

Das kurze Gewitter war nur eine sanfte Abkühlung, mehr nicht. Aber es flossen nachher den Randsteinen entlang kleine Bäche. Hoppla! Menas rechte Sandale war gerade untergetaucht. Selbstverständlich musste die linke folgen. Ein fragender Blick zu mir. Keine Rüge. Jetzt ging es erst recht los. Jede neue Möglichkeit, mit beiden Schuhen ins Nasse zu treten, wurde von dem kleinen Mädchen ausgeschöpft. Der Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp wäre sicher mit uns einig gewesen, dass diese Abkühlung an den Füssen genau die richtige war.
Auf dem Schulweg via den Boulevard de Clichy gibt es für ein Kind allerhand zu erleben. Da sind die Tauben, die nach Brosamen suchen und auffliegen, wenn Mena ihnen nachrennt. Es sind die Mäuerchen, welche die Rabatten mit den Büschen abgrenzen, die erstiegen und seiltänzerisch begangen werden müssen. Und dann an der Place Blanche die Abluft, die aus der Metro aufsteigt. Da will Mena jedes Mal aufs Gitter klettern und dort oben ihre Runden drehen. Der Luftstrom von unten wirbelt dann ihre Locken frech umher.

Mena ist ein Wirbelwind, fängt alle Reize dieses Wegs auf. Ihr Interesse gilt auch den grossen Autocars und deren Beschriftungen. Grosy (die Grossmutter) sollte dies auch sofort sehen und kommentieren können. Das gelingt nicht immer.

Wir müssen jeweils mehrere Strassen überqueren. Dazu ist mir ein Takt-Vers eingefallen. Sobald Grün aufleuchtet, gehen wir los und sagen „Eis, zwei, drü vier, jetzt chömed mier“ (Eins, zwei, drei, vier, jetzt kommen wir). Auf diese Weise gelangen wir gradlinig und vor allem zügig ans andere Ufer.

Klar, so kann der Schulweg im Alltag nicht jeden Morgen ausufern. Es ist das Vorrecht der Grosseltern, dass sie mehr Zeit und mehr Flexibilität haben und manches zulassen können, was jungen Eltern verwehrt ist. Auch sie müssen einen Stundenplan erfüllen, müssen oder wollen arbeiten. Ihre Zeit ist beschränkt. Ich bewundere sie, wie sie das schaffen. Der Stress ist zwar ihr Motor, doch bemerke ich bei der Übergabe der Kinder im Sommerhort grosse Behutsamkeit.

Das Leben von Vätern und Müttern ist ein anderes geworden. Die Familien von heute stellen grössere Ansprüche an die Gesellschaft, erwarten Unterstützung von ihr. Das stellen vor allem Grosseltern fest.

Freitag, 21. Juli 2006

Im Quartier Abbesses in Paris: Das Karussell des Lebens

Das Quartier Abbesses am Montmartrehügel gibt mir einen dörflichen Eindruck. Die verschiedenen Quartierläden mit den typisch französischen Qualitätsprodukten wie Fisch, Fleisch, Eier, Milch, Brote und Kuchen und die Gemüse in den offenen Nischenläden regen mich zum Kochen an.

Für Mena ist es die Manège am Place des Abbesses, das Karussell, das speziell interessant ist. Und wieder imponiert mir die Post, meine Lieblingsinstitution, die auch daneben steht. Die Metrostation mit den Schmiedeisenarbeiten im Jugendstil ist vielen Touristen von den Prospekten bekannt. Und an diesem Platz gestalten auch alte Bäume mit.

Der Name Abbesses übersetze ich mit Äbtissinnen. Gerne würde ich wissen, welche Rollen diese Frauen in längst vergangener Zeit hier gespielt haben.

Zu diesem Platz, an dem ich täglich vorbei komme, gehört die Quartierkirche St. Jean. Ein eigenwilliger Backsteinbau aus der Moderne. Die junge Familie wohnt direkt hinter ihm. So höre ich in der Küche den Stundenschlag und zu gewissen Zeiten auch das Geläut oder ein Glockenspiel, das mich ans Mittelalter mahnt. Da waren die Klöster das Vorbild für Arbeit und Gebet. Jene, die das mühsame Leben einfacher Menschen leben mussten und noch keine Uhr besassen, orientierten sich an diesen Klängen von den Kirchtürmen, damit sie sich an ihrem Arbeitsort mit dem Gebet der Mönche oder Nonnen verbinden konnten.

Diese Zeiten sind vorbei. Und doch läutern die Glocken auch heute noch an vielen Orten. Und sie rühren die Seele in den tiefen Schichten an. Sie verweisen auf etwas über uns, das die Schicksale in Händen hält. Daran denke ich jetzt ganz besonders, weil unsere Tochter in den Wehen liegt und wir hoffen, dass sie die Geburt normal erleben und das Kind gesund auf die Welt kommen darf. Wir müssen zwar unser Leben leben, wie wenn es nur auf uns ankäme, uns anstregen und unseren Verstand einsetzen und doch auch akzeptieren, dass uns das Gelingen nur geschenkt werden kann.

Donnerstag, 20. Juli 2006

Stadt-Reinhaltung in Paris: Auch Abfall – der ist bei Ihnen

Dem Thema Abfall begegne ich hier in Paris täglich und überall. Eindrücklich beginnt der Lärm auf der Strasse, wenn nach 6 Uhr am Morgen die Müllabfuhr vorfährt und die vor jedem Haus stehenden grünen Tonnen abholt.

Wenn ich die kleine Mena in den Sommerhort begleite, kommen wir am Moulin Rouge vorbei, und oft kippen sie dort gerade die Glascontainer in die Lastautos. Das scheppert und klirrt jeweils und geht durch Mark und Bein. Der Champagner ist ausgetrunken, der Tag wieder angebrochen und mit ihm auch der Alltag.

Ich stelle ein grosses Bemühen fest, die Stadt sauber zu halten, doch zu viele der Menschen sind einfach unerzogen, lassen alles fallen, was sie nicht mehr brauchen. In einer Post z. B., wo im Innern an einem Automaten selbstklebende Frankaturen herausgelassen werden können, liegen im Umkreis dieses Apparates viele der abgezogenen Papiere, die einst die Klebefläche schützte, herum. Wenn hier jemand in Eile vorbeikäme, würde er ausrutschen wie auf dem Eis.

Abfalleimer sind überall vorhanden, doch ein Teil der Kunden, sicher auch Touristen, denken nicht darüber nach, dass es schick wäre, den eigenen Teil zur Ordnung beizutragen.

Von der Kampagne für ein sauberes Zürich habe ich letztes Jahr einmal berichtet. Die gleiche wird auch hier in Paris aufgezogen. Offensichtlich wird ein internationales Thema übergeordnet behandelt. Die Bilder aber sind adaptiert. Ich sah einen Müll-Lastwagen mit dem Plakat eines Hundes, der seinen Stuhlgang im Badezimmer oder in der Küche deponiert. Die Überschrift dazu: PARIS, DAS IST BEI IHNEN.

Auf dem Boulevard de Clichy wurde in den letzten Jahren eine Wohlfühlmeile eingerichtet. In der Mitte wurde ein breiter Weg geschaffen, auf dem auch Kinder unbeschwert daherkommen können. Bäume und Sträucher säumen ihn. Und auf vielen Sitzbänken sitzen jene, die unter den Mitmenschen sein wollen. Einige schlafen auch da.

Links und rechts von diesem erholsamen Weg brausen aber weiterhin die Autos vorbei. Man wird bescheiden. Ich freue mich hier schon an diesen begrenzten Oasen, an den Büschen und Bäumen.

Mittwoch, 19. Juli 2006

Ohne Concierge: Tür-Tücken, die mich in Wallung brachten

Eine Ortsveränderung macht mir immer bewusst, was in der Computer-Welt „einscannen“ umschreibt.

Mein Unterbewusstsein knistert jeweils wie eine Hochspannungsleitung, wenn noch nie Geschautes aufgenommen werden muss. Diesmal sind es nicht die bekannten Monumente hier in Paris, weder das Moulin Rouge noch die Notre Dame, auch nicht die hohen Häuser mit den typischen Keramik-Kaminaufsätzen. Die sind in meinem inneren Archiv gespeichert. Jetzt sind es die Schlösser, Codes und Schlüssel, die meine ganze Aufmerksamkeit verlangen.

Einst sass in jedem grösseren Haus der Concierge (Pförtner), dem nichts entging und der für eine gewisse Sicherheit verantwortlich war. Eine Person also, die im schlimmsten Fall um Hilfe und Unterstützung gebeten werden konnte. Jetzt ist es die Technik, die diesen Beruf ersetzt hat. Jeder Mensch soll selber schauen, wie er seine Tür schützt und wie er ins Haus kommt.

An einem fremden Ort ankommen und sofort alles so begreifen und handhaben, dass es 100%ig richtig ist, das kann ich nicht. Ich muss üben können, sonst kommt Panik auf.

Für mein Studio und für die Wohnung der jungen Familie trage ich je einen Schlüsselbund auf mir und muss für jedes dieser Häuser einen Code auswendig wissen. Den einen kann ich als geometrisches Muster eingeben, den anderen aus Zahlen, die mit einem Geburtsdatum gekoppelt sind.

Wenn ich also ankomme, muss ich die Zahlenkombination und Buchstaben eintippen. Mache ich es richtig, kann ich in den Windfang eintreten. Dann brauche ich einen ersten Schlüssel, der mir den Zugang zum Treppenhaus und zum Briefkasten gewährt. Für meinen Fall ist diese Tür die grosse Knacknuss. Das Schloss verlangt Fingerspitzengefühl. Ich kann den Trick hier natürlich nicht bekannt geben, will Einbrechern nicht auf die Spur verhelfen. Er wäre auch schwer, ihn zu beschreiben. Es ist eine Sache des Gefühls.

Die Wohnungstür dann hat ein Schnappschloss. Wenn ich die Wohnung verlassen will, muss ich sicher sein, dass ich den Schlüssel für diese letzte Hürde beim Heimkommen bei mir habe. Schloss ich die Tür beim Weggehen unachtsam und vergass, den Schlüssel an mich zu nehmen, stehe ich hilflos draussen. Nun habe ich für mich ein Ritual entwickelt, das mich unterstützt und sicher macht.

Und trotzdem ist es verständlich, dass es Schweissausbrüche gibt, wenn nicht alles reibungslos verläuft. Schweissausbrüche, die ganz und gar nicht mit der grossen Hitze zusammenhängt, die auch Paris erfasst hat.

Dienstag, 18. Juli 2006

Ganz ungewohnte Perspektiven in der Weltstadt Paris

Die Amseln haben mich geweckt. Ihr Jubelgesang ist auch hier in Paris verheissungsvoll. Sie singen ihre Lieder schon, bevor die Sonne aufgegangen ist. Eine unbegreiflich friedliche Stille liegt über der Stadt. Ich weiss nicht, ob ich träume. Die Lichter der Strassenlaternen leuchten noch. Am Abhang treten 3 junge Männer aus einem Haus. Sie diskutieren, ohne sich zu ereifern. Sie wirken weder übernächtigt noch sind es dubiose Gestalten. Aus meiner Sicht eher Persönlichkeiten, die Skulpturen sein könnten. Ich schaue vom weltbekannten Hügel, wohne am Berg.

Als die Lampen erlöschen, tritt das Licht auf. Nun wird mein grosses, breites und hohes Blickfeld ausgeleuchtet. Meine Fenster schauen Richtung Süden. Die Sonne strahlt von Osten her und wirft ihre Strahlen wie Scheinwerfer an mir vorbei nach Westen. Die Stadtmitte liegt mir zu Füssen. Ich kann erleben, wie das Morgenlicht alle Prestigebauten, die Hochhäuser, und die alten Kirchen anstrahlt und sie aus der Masse heraushebt. Auch der Stadtrand ist nun markant wahrnehmbar.
Bin ich wirklich da, wo ich erwartet worden bin?

Noch nie habe ich diese Stadt aus solch idealen Aussichtsverhältnissen schauen können. Noch nie habe ich den Himmel wie eine Kulisse vor mir gehabt. Ohne den Kopf in den Nacken zu legen, sehe ich Mond und Sterne. Hier gehören sie zum abendlichen Freundeskreis. Keine Stadtwanderung, kein altes Gebäude, keine Ausstellung hat mich je so eingenommen wie dieser Blick aus meiner derzeitigen Wohnung. Und vor allem faszinieren mich auch die unzähligen Schwalben, die in den Morgenstunden und dann wieder nach Sonnenuntergang vor meinen Fenstern, nah und fern, hoch und tief vorbeipfeilen.
Ich befinde mich in Paris, erwarte die Geburt unseres 2. Enkelkindes, bin als Grossmutter, Haus- und Kindermädchen gefragt. Hier werden die Grossmütter „Mami“ gerufen. Gut bekannt.

Zur Begrüssung habe ich von Mena ein kleines und leichtes Notizbuch bekommen. Damit ich neue Wörter, die mir gefallen, notieren, oder Ideen fürs Blogatelier skizzieren könne.

Mena erklärte mir die Zeichnung, die sie auf den ersten beiden Seiten für mich angebracht hat. Auf der rechten Seite sähe ich sie, links zeichnete sie die Sonne und sagte dazu: „Das ist der Tag.“

Und schon konnte ich Bleistift und Buch benützen und diese schöne Zuschreibung für die Sonne festhalten

Donnerstag, 13. Juli 2006

Zufälle verdichten sich, lassen die Vergangenheit aufleben

Gleich zu Beginn möchte ich wieder einmal für den Zufall werben. Ich habe ein gutes Verhältnis zu ihm. Der Zufall ist für mich nicht „nur“ ein Zufall, sondern ein wichtiger Wink für mein Leben. Meist ist er ein Geschenk.

Der erste Zufall ereignete sich an einem Freitagmorgen im Mai 2006 auf dem Blumen- und Gemüsemarkt am Bürkliplatz in Zürich. Die Herkunftstafel am Stand eines Gemüsebauern wies auf das Dorf Dänikon im Wehntal hin. Da begann es in meinem inneren Archiv gleich zu knattern. Vor über 40 Jahren, als unsere erste Tochter zur Welt kam, war ich mit einer Frau aus Dänikon im gleichen Zimmer einquartiert. Sie hatte am selben Tag einen Sohn geboren. Er bekam den Namen Martin. Martin B. war auch der Name auf der hölzernen Tafel an seinem Stand. Als wir an die Reihe kamen, um einzukaufen, fragte ich zuerst, ob er am Tag so und so Geburtstag habe. Er stutzte, prüfte unsere Gesichter, überlegte, ob er eine so persönliche Frage überhaupt beantworten solle, sagte dann aber „Ja“ und gleich danach: „Herr Lorenzetti!“ Er hatte Primo erkannt.

Für weitere Gespräche blieb aber keine Zeit. Martins Angebote sind von feinster Qualität. Der Zulauf an Kundschaft ist enorm.

Zweiter Zufall: Am Tag danach las Primo in der Kolumne „Hier kocht der Chef“ von Peter Brunner (Restaurant Reblaube, Zürich) im Stadtmagazin „Züritipp“ einen lobenden Hinweis auf die aussergewöhnlichen Bohnen von Martin B.

Auf Martins Hinweis besuchte ich dann seine Mutter an einem Mittwoch auf dem Gemüse-Markt in Oerlikon. Auch dort sind Familie B. und ihre feinen Produkte regelmässig anzutreffen. Hier arbeitet die Mutter noch mit. Wir konnten uns eine halbe Stunde gönnen, für ausführliche Geschichten aus 4 Jahrzehnten warten wir auf den Winter. Wir beide haben Erinnerungen, die wir miteinander vergleichen und ergänzen wollen. Dafür ist ein Wintertag dann der rechte Zeitpunkt. Wer mit Lebendigem arbeitet, muss sich der Jahreszeit unterordnen.

Dritter Zufall: Ich ordnete Schränke in der Winde und stiess auf Schulhefte unserer Töchter. Letizia hatte kürzlich danach gefragt. Jetzt konnte ich die ihren abgeben. Heute nun meldete sie amüsiert, im Aufsatzheft sei der Besuch bei Familie B. in Dänikon beschrieben. Sie las mir vor:

10. Februar 1980
Die ganze Familie ging über den Altberg nach Dänikon zu Familie B. Es gab Vanillecrème und Fruchtsalat. Hm! Das war fein. Etwa um 5 Uhr gab es ein Telefon. Frau B. rief: „Was?...Wo?? Ich will meinen Mann schicken. Adiö!“
 

„Willi, es brennt beim Fritz im alten Haus.“
 

Alle schoben die Vorhänge auf die Seite. Wir sahen den Rauch. Frau B. rannte die Treppen hinauf und holte die Feuerwehr-Uniform. Martin stellte die Sirene ein. Die tönte aber schrill. Von allen Seiten rannten Leute herbei. Herr B. sagte: „Martin, du gehst in den Stall.“
 

Dann rannte auch er fort. Auf der Strasse zog er den Gürtel an. Martin kam mit dem Traktor gefahren, damit die Motorspritze angehängt werden könnte. Ein paar Bauern hatten unten die Stallhosen und oben den Feuerwehrhelm angezogen.
 

Wir blieben im Haus.

Nach ca. einer halben Stunde kam Herr B. wieder und sagte: „Ein Auto ist in der Werkstatt verbrannt. Es sah gar nicht schön aus.“

Alle waren erleichtert.


Ich jetzt auch, weil mir der Zufall noch Stoff für einen Beitrag fürs Blogatelier lieferte.

Freitag, 7. Juli 2006

Der Alltag prägt die Gesundheit. Hektik beim Pulsmessen

Im Briefkasten finde ich neben den Zeitungen eine Broschüre „Gesundheitsförderung Kanton Zürich“. Weiterlesen fördere meine Gesundheit, lese ich auf dem Titelblatt. Prof. Dr. med. Felix Gutzwiller von der Universität Zürich, Institut für Sozial- und Präventivmedizin, empfiehlt uns, zur Gesundheit Sorge zu tragen und gibt für 6 Bereiche unseres Lebens Empfehlungen, wie wir unsere Gesundheit fördern können.

Es sind Übungen für zuhause, für überall und jederzeit, für die (Haus-)Arbeit, für die Freizeit, für besondere Gelegenheiten und für den Ausgang.

In einer Zeit, in der vor allem die Beschleunigung unser Leben bestimmt, sind Übungen, die zur Ruhe und Gelassenheit führen, besonders wichtig. Ruhe ist aber nicht als Stillsitzen oder Autofahren zu verstehen.

Es heisst da unter anderem:
Steigen Sie aus. Zwei Stationen früher. Bewegung entspannt.
Gehen Sie beim Briefkastenleeren gleich noch eine Runde zügig ums Haus.
Steigen Sie auf, aber auf der Treppe, und nicht mit dem Lift.
Augen zu. Legen Sie die Hände auf Ihre geschlossenen Augen und lassen Sie die Wärme fliessen.
Lust statt Frust. Genussvolles Essen entspannt.

Alle Erfindungen, die uns das Leben leichter gemacht haben, zeigen auch eine Kehrseite. Unsere Körperkräfte werden im Alltag nicht mehr auf natürliche Weise gebraucht. Junge, starke und gesunde Männer z. B. können sie am Computer sitzend, im Beruf gar nicht mehr nützen. Der Ausgleich wird mit Joggen, Velofahren, Schwimmen, Fussball usw. gesucht.

An Sommerabenden fühlen sich Fussgänger am Fischerweg, der Limmat entlang, oft fehl am Platz. Da ist eine Hektik, ein Vorpreschen, eine Platzbeanspruchung, die einem weh tut. Es zeigt sich, dass überall, wo wir etwas für die Gesundheit tun wollen, das Abdriften in den Wettbewerb wieder dabei ist. Pulsmesser und Zeitmesser gehören leider auch schon wieder zu diesem Ausgleichssport. Velofahren wird an der Limmat toleriert, obwohl eigentlich Fahrverbot markiert ist. Umso mehr stört es jene, die beschaulich spazieren wollen, wenn von weit her schon aggressiv geklingelt wird, damit für das anfahrende Velo Platz gemacht wird.

Überall gibt es die Masslosen, die Wettbewerbssüchtigen, die Egoisten. Ob sie auf die Horizonterweiterungs-Übung ansprechen, bezweifle ich. Sie heisst nämlich: Erweitern Sie Ihren Horizont. Betrachten Sie abends den Sternenhimmel.

Hinweis
Weitere Informationen: www.gesundheitsfoerderung-zh.ch

Sonntag, 2. Juli 2006

Sommerabende bei Nachtkerzen oder unter Fussballfans

Die Sommerabende in unserem Reihenhausviertel an der Hardturmstrasse in Zürich sind manchmal leise und nur dem versinkenden Tag gewidmet. Sobald die Kinder ins Haus gerufen werden und die Sonne untergeht, ist die Stille da. In den bekannten Abständen fährt noch das Tram vorbei. Der Autoverkehr hält sich in Grenzen. Wer die Rabatten noch nicht bewässert hat, macht das jetzt. Wir grüssen uns über die Zäune hinweg und tauschen Neuigkeiten aus.

Dann gehen die Nachtkerzen auf. Wir sitzen zu ihnen und schauen, wie sie sich öffnen. Von Juni bis September können wir jeden Abend – immer bei Sonnenuntergang − miterleben, wie sie ihre Knospen aufmachen und die Blätter in der Art eines Regenschirmes ausfalten. Noch bevor es dunkel ist, haben sie ihre Antennen zum Universum hin eingerichtet und sind im Austausch mit ihm. In dieser hingebenden Haltung werden wir sie auch am andern Morgen noch finden.

Sobald die Sonne verschwunden ist, fällt ein kühler Luftzug über uns her und weht die Düfte der Nachtkerzen über unsere Wege. Sofort sind Nachtfalter da und verkriechen sich ins Innere der Blumen. Dann treten die Sterne auf. Der Himmel trägt nun Nachtblau und die Bäume werden zu schwarzen Schimären. Spinnen haben ihre Netze gesponnen und warten auf ihre Beute.

Während der Fussball-Weltmeisterschaft aber ist alles anders. Ist ein wichtiger Match angesagt, ändert sich das Szenario um 180 Grad. Pablo, der Schweizer mit spanischen Wurzeln, stellt dann sein Umfeld für die Übertragung eines Spiels zur Verfügung. Das Fernsehen ist eingerichtet und gegen ein allfälliges Gewitter sind Blachen als schützendes Dach aufgespannt. Aus den verschiedensten Höfen erscheinen Männer und Frauen und folgen der Einladung. Viele schätzen hier das unkomplizierte Zusammensein. Hier können auch Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern ein Spiel mitverfolgen.

Ob dabei, im eigenen Garten oder zu später Abendstunde schon im Bett, immer ist aus den wogenden Stimmen zu erfahren, wie es um das Spiel steht. Wie Meereswellen brandet der Jubel oder die abgrundtiefe Enttäuschung unseren Häuserfassaden entlang.

Für die Kinder und Jugendlichen unserer Siedlung ist das wunderbar. Ich beobachtete an einem der ersten Abende, als sogar ich dabei war, wie aufmerksam sie den Spielen folgten. Einige von ihnen und auch junge Frauen, zelebrierten beinahe magische Rituale. Sie meinten, ihrer Lieblingsmannschaft den Sieg herbeizaubern zu können. Spannung erleben, ist offenbar ein Grundbedürfnis. Auch die Kriminalromane leben davon.

Ich verstehe wenig von Fussball. Aber ich nehme die Begeisterung wahr. Ich sehe, wie der Sport Menschen zusammenführt und wie solche Turniere ein Zusammengehörigkeitsgefühl auslösen können. Da unsere Kultur am Abbröckeln ist, bestehen Bedürfnisse nach neuen Formen von Gemeinschaftserlebnissen. Man findet sich zusammen, wie wir Bernoullianer bei Pablo. Wir gehörten für einen Abend zusammen und gingen nachher wieder unsere individuellen Wege. Aber für 2, 3 Stunden verband die Teilhabe an den Emotionen alle, die dabei waren.

Weder für Primo noch für mich ist Fussball ein Thema, obwohl wir das GC-Stadion als Nachbar haben. Trotzdem reagierte er auf meine Aussage, dieser Sport sei doch extrem grob und nicht immer fair, ganz realistisch und humoristisch. „Das ist Kampf. Hier geht es ums Ganze, um viel Geld, und Du kannst zum Verteidiger nicht sagen ‚Bitte gehen Sie doch etwas zur Seite, ich möchte ein Tor schiessen.’“

Und nicht vergessen haben wir beide einen Ausspruch einer Hausangestellten, die uns erzählte, sie besuche jeden Match des FC Frankfurt. Wir fragten, ob ihr Freund Fussballer sei. „Oh nein!“ Was denn die Faszination ausmache? „Wissen Sie, da kann ich schreien.“

Dieses Schreien ist offensichtlich ein Urbedürfnis. Eine Art (Urschrei-)Therapie, die das Ungereimte und Quälende in der eigenen Seele wieder zurechtrücken kann. Und nur eine Facette im Wettbewerb um Tore und Sieg.