Samstag, 23. August 2008

Celeste befürchtet bei jedem Adieu, es sei nun das letzte

Ich treffe Celeste in versteinertem Zustand in ihrem Fauteuil sitzend an. Ich wurde nicht erwartet, darum schaut sie mich kritisch, beinahe grimmig an. Ihr Augenlicht hat nachgelassen. Es braucht eine gewisse Zeit, bis sie mich erkennen kann. Daran bin ich schon gewöhnt. Heute ist sie extrem grau im Gesicht, obwohl ihre Haut immer noch fleckenlos ist und dank einer Gesichtscreme weich und elastisch erscheint. Aber die Ausstrahlung ist dumpf. Es geht ihr wieder nicht gut. Heute Morgen sei sie wieder umgefallen. Nächsten Monat wird sie 92. Ein Arzt hatte ihr schon vor 20 Jahren prophezeiht, sie könne gut 100 Jahre alt werden. Darauf möchte sie gerne verzichten. Seit Jahren will sie sterben und hält das Heft doch immer noch in ihrer Hand. Sie steht jeden Tag um 5 Uhr auf, wäscht sich, pflegt sich, kleidet sich selbständig an. Sie lüftet auch das Bett aus und macht es noch vor dem Frühstück zurecht. Perfekt.
 
Von Tag zu Tag aber spürt sie, wie die Kräfte schwinden. Wenn sie deprimiert ist, fragt sie manchmal, warum er (Gott) sie nicht haben wolle? Diese Frage berührt mich immer. Celeste hat kein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, aber ein Gen, das sie zum General befähigen würde.
 
Die Probleme häufen sich. Die Organe spielen nicht mehr unbekümmert miteinander. Es hapert an vielen Orten. Sie braucht viel Chemie, um Schmerzen und das Rumoren im Kopf zu ertragen. Zudem hört sie nicht mehr gut. Da sind Missverständnisse vorprogrammiert. Heute sagt sie zum Beispiel: „Meine Stimme ist verloren gegangen. Ich kann mich kaum mehr hören.“ Und vom Speisesaal, das sei das Krematorium. Alle würden nur noch lispeln und tuscheln. Man vernehme keinen Laut.
 
In Wahrheit hört sie bald gar nichts mehr. Ich kann schon lange nicht mehr mit ihr telefonieren. Sie antwortet auf keine Frage, hört sie gar nicht. Telefonkontakt funktioniert nur noch, wenn sie anruft und ein Ja oder ein Nein zu einer Problemlösung haben will.
 
Heute wollte ich ihr erzählen, dass ich nächste Woche in den Ferien sei. Vorsichtshalber habe ich dazu einen Brief verfasst und ihn in grosser Schrift ausgedruckt. Das ist jetzt die uns verbliebene Kommunikationsform, wenn etwas ganz Neues auf sie zukommen soll. Auch wenn ich neben ihr sitze und schlichte Sätze ins Umfeld ihres linken Ohrs spreche, kann ich nicht mehr damit rechnen, dass sie alles erfasst.
 
Stelle ich eine Frage und versteht sie diese nicht, spürt sie der Sache angestrengt nach und erzählt dann einfach etwas, was im besten Fall einen Teilbereich anspricht. Ihre Antworten sind aber meistens daneben. Ich spüre, sie will nicht aufgeben und mir den Eindruck vermitteln, sie sei noch da und zu einem Gespräch fähig.
 
Als sie die ersten Sätze in meinen mitgebrachten Brief liest, zuckt sie zusammen. Ich erwartete schon einen Aufschrei, aber er blieb aus. Tapfer sagt sie dann: „Ihr habt Recht, dass ihr Euch ein paar schöne Tage gönnt.“ Mich betrachtend, stellt sie fest, meine Haare seien grau geworden. Ich hätte viel geleistet und viel getragen. „Ja, Ferien werden dir gut tun.“
 
Da staune ich. Das ist neu. Früher hätte sie meiner Familie gerne verboten, in die Ferien zu reisen. Sie konnte jammern, wenn ein Abschied bevorstand. Ganz südländische Schauspielerin. Da hiess es dann im Befehlston: „Komm wieder zurück. Ich brauche dich!“ Diesen Satz hörte ich jahrzehntelang mindestens einmal pro Jahr. Er gehörte zu jeder Geburtstagstorte, die sie mir schenkte. „Ich brauche dich noch.“
 
Erst als ich diese Anklammerung nicht mehr als eine Last empfand und einmal beim Abschied sagte: „Ich weiss, dass du auf mich wartest, bevor du dich zum Sterben hinlegst“, atmete sie auf, lachte herzlich, obwohl sie sich ertappt fühlte oder gerade deshalb. Und diese Zuversicht, die sich damals ergab, hat sich offensichtlich erhalten. Dem Humor sei Dank.

Sonntag, 10. August 2008

Die Faszination Gewitter ist oft auch von der Angst begleitet

Ich staune immer wieder, wie mir die Gefühlswelt ihre Erfahrungen aufzeigen kann.
 
In den ersten Tagen hier am neuen Wohnort in Zürich-Altstetten wurde ich früh morgens von Blitzen geweckt und von einem wuchtigen Donner erschreckt. Es war ungewöhnlich für mich, und ich begriff sofort, dass das Haus, in dem ich jetzt lebe, ganz andere Eigenschaften besitzt. Das Bernoulli-Reihenhaus fing einen Donnerknall schwingend auf. Das wusste ich aber erst in diesem Moment, weil es sich am neuen Ort wie ein Erdbeben anfühlte. Die ganze Schwere der Betonmasse grollte, bewegte sich nur leicht hin und her. Es war etwas Dumpfes dabei, und ich sah vor den inneren Augen einen unendlich starren Block.
 
Wochen später bescherte uns ein aussergewöhnliches Gewitter wieder ganz andere Erfahrungen.
 
Es war Ende Mai 2008. Bei Sonnenuntergang baute sich das Gewitter auf. Ich sass in der Stube und schaute durch einen angrenzenden Raum zum Himmel. Dort zuckte es unaufhörlich. Primo beobachtete das Schauspiel anfänglich vom Balkon aus. Ich schaltete alle möglichen elektrischen Anschlüsse aus, und wir kamen überein, auch das Licht zu löschen, um alle Facetten des aufziehenden Natur-Schauspiels einzufangen.
 
In diesem Halbdunkel sahen wir die Zuckungen des Gewitters. Lichtfäden leuchteten nicht nur am Himmel auf. Sie schossen auch durch unsere Stube. Von Norden nach Süden verlaufend. Der dazugehörige grollende Donner, den wir wie den Lärm startender Flugzeuge wahrnahmen, dauerte eine ganze Stunde an. Aber nie folgte diesem Brummen der erlösende Knall.
 
Dann begann es zu regnen. Der Wind peitschte eine Wasserwand wellenartig an der Balkonfront vorbei. Es goss in Strömen. In der Toilette rumorte das Meteorwasser. Es windete und stürmte. Wir liessen die Rolläden herunter und verharrten, schon etwas besorgt, im Dunkeln.
 
Als es ruhiger wurde, öffneten wir die Fenster wieder und sogen die entspannte und gereinigte Luft ein. Es hatte eine Verwandlung stattgefunden. Wir atmeten auf. Den Blitzen gleich, verflüchtigten sich unsere bangen Gefühle. Nun war der Himmel Richtung Osten in ein türkisfarbenes Blau getaucht. Wunderschön klar. Richtung Schlieren allerdings war noch bedrohliches Grau auszumachen.
 
Ein solches Gewitter hatten wir beide noch nie erlebt. Seither messe ich alle nachkommenden an diesem grandiosen, aber auch Angst machenden Energiespektakel.
 
Jetzt bin ich gespannt, wie und wann sich meine Gefühlswelt in ähnlicher Situation wieder meldet und mir das beschriebene Erlebnis als Vergleich darstellt.

Mittwoch, 6. August 2008

Liebenswürdige Feier für liebenswürdige Persönlichkeit

Die Schulanlage Chriesiweg (Chriesi ist der Dialektausdruck für Kirschen) in CH-8048 Zürich habe ich immer nur flüchtig angeschaut, obwohl sie zu meinem nächsten Umfeld gehört. Wohl bewunderte ich die vielen, locker verstreuten alten Bäume, aber eine Beziehung zu diesem Areal hatte sich noch nicht ergeben. Bis zum 4. Juli 2008. Da gehörte ich plötzlich dazu.
 
An diesem Morgen wollte ich am Suteracher einkaufen. Ich stieg aufs Velo, fuhr los und hielt gleich wieder an, sah sofort, dass hier Feierlichkeiten anstehen. Ein roter Teppich war ausgelegt, viele Meter lang und seitlich mit Steinen befestigt. Ich lehnte mein Rad an einen Baumstamm und staunte wie ein Kind durch das hohe Gitter, das die Schulanlage abschirmt. Entlang dem Teppich standen Musikerinnen mit ihren Instrumenten, ein ganzes Orchester. Eine Frau filmte die erwartungsvolle Stimmung. Ich solle doch hereinkommen, sagte sie unter dem Eingangstor, dann könne ich alles mitverfolgen. Sie würden eine Handarbeitslehrerin in die Pension verabschieden.
 
Ich folgte der Einladung gern, stellte mich hinter die grosse Schar von Schülerinnen und Schülern aus der Unterstufe. Ich habe sie nicht gezählt, vermute, dass es etwa 200 Kinder waren, die im Halbrund am Boden sassen.
 
Eine freundliche Frau hiess mich willkommen und gab sich als die Ehefrau eines Lehrers zu erkennen. Sie rapportierte mir alle Einzelheiten. Man erwarte jetzt eine Pferdekutsche. Die Jubilarin und eine sie begleitende Freundin seien in Albisrieden abgeholt worden und würden in den nächsten Minuten hier eintreffen. Und so geschah es. Als das Pferd sichtbar wurde, tönte es im Sprechchor: „Frau Müller, Frau Müller, Frau Müller!“ Für sie war ein Thron vorbereitet, und ein dazu passender Stuhl stand auch für ihre Begleiterin bereit.
 
Die Damen (alles Lehrpersonen), die das Orchester darstellten, begaben sich dann unter die Eichen und suggerierten uns eine Opernpartie, die ab Band gespielt wurde. Ein Lehrer mimte den Sänger, ein zweiter den Dirigenten. Wenn der Sänger sentimentale Partien mit emotionalen Gesten unterstrich, lachten die Kinder. Und am Schluss riefen sie: „Zugabe, Zugabe, Zugabe!“
 
Frau Müller, eine grosse Opernfreundin, wurde mit einem prächtigen Blumenstrauss geehrt. Der „Sänger“ überreichte ihr diesen mit einem Autogramm ihres realen Lieblingssängers. An alles wurde gedacht. Jedes kleinste Detail war getreu und liebenswürdig nachgezeichnet. Auch ich als Aussenstehende spürte, dass Frau Müller eine aussergewöhnlich beliebte und geschätzte Persönlichkeit sein muss.
 
In Altstetten bin ich schon mancher Freundlichkeit begegnet, doch diese Feier im Chriesi-Schulareal ist wohl kaum mehr zu übertreffen.

Freitag, 1. August 2008

Ganz unverhofft durfte ich die Maismutter kennen lernen

Die Geschichte vom „Geheimnis der Maismutter“ hat mich bestimmt schon vor 17 Jahren berührt, sonst hätte ich den Text aus dem „Brückenbauer“ vom 25.09.1991 nicht aufbewahrt. Er ruhte im grossen Märchenbuch, das ich kürzlich hervorholte. Als ich es öffnete, fiel die „Junior“-Seite dieser Zeitung gleich zu Boden und machte mich neugierig.
 
Es handelt sich um eine Geschichte aus der indianischen Mythologie. Sie spielt in einer Zeit des Hungers, als Nahrung mühsam gesucht werden musste.

Sie ist mir zum richtigen Zeitpunkt zugefallen. Ich beobachte doch seit ein paar Wochen, wie sich das Maisfeld auf dem Weg zum Pestalozzi-Hof entwickelt. Mittlerweile sind mir die Pflanzen schon über den Kopf gewachsen und bilden eine Front zur Strasse hin. Da schaue ich dann in ihre Räume und den inneren Wegen entlang.
 
Als ich die Geschichte gelesen hatte, waren die Maispflanzen noch nicht so weit entwickelt, dass ich die Ansätze der Kolben und die Haarbüschel hätte finden können. Ich suchte täglich nach ihnen und freute mich riesig, als ich sie endlich fand.
*
Nun will ich das Märchen nacherzählen: Da soll eines Abends eine armselige Alte mit weissen Haaren in einem Lager angekommen sein. Sie war niemandem bekannt und wurde kaltherzig abgewiesen. „Verschwinde!“ hiess es. „Hier ist kein Platz für dich.“ Auch in anderen Siedlungen war sie unerwünscht. Man jagte sie unwirsch davon. Erst bei den sehr armen und bedürftigen Menschen des Alligator-Clans wurde sie freundlich aufgenommen. Sie durfte ausruhen, sich stärken und neben dem Feuer schlafen.
 
Anderntags gingen die Männer des Clans auf die Jagd, und die Frauen suchten nach Beeren und Wurzeln. Die Alte betreute in dieser Zeit die Kinder und kochte für sie. Einer der Knaben konnte die köstliche Speise, die sie ihnen vorsetzte, nie mehr vergessen, auch als die Alte nach einer gewissen Zeit so geheimnisvoll verschwand, wie sie vorher erschienen war. Eine Zeit lang suchten Männer und Frauen noch intensiv nach dieser geheimnisvollen Nahrung. Sie fanden aber nicht die geringste Spur. Darum wurde sie wieder vergessen.
 
Nach Jahren, als aus dem Knaben ein Krieger geworden war, machte er sich auf die Suche nach der Alten, die bei ihnen eingekehrt war. Als einziger hatte er sie nie vergessen. Obwohl er nicht wusste, dass es die Maismutter selbst war, die in armseliger Gestalt auf die Welt gekommen war, suchte er unentwegt nach ihr. Und eines Tages erschien sie ihm, um ihn den Maisanbau zu lehren.
 
„Brenne das Gras ab, bis nur noch die Asche übrig bleibt. Dann nimm mich bei den Haaren und schleife mich kreuz und quer über die verbrannte Erde!“ befahl sie. Sie prophezeite, dass danach neues Gras aus dem Boden spriessen und er zwischen deren Blättern ihr Haar finden werde.
 
Sofort machte er sich an die Arbeit. Er schleifte die Alte über die ganze Lichtung. Überall, wo sie die Erde berührt hatte, wuchs bald das seltsame Gras. Es wurde so hoch, dass es ihn überragte. Und zwischen den Blättern sah er tatsächlich Büschel von weissen Haaren. Er konnte ihr offenbar gar nicht danken, denn es heisst, als er die vorgeschriebene Arbeit getan hätte, sei die Frau aus seinen Händen entschwunden.
Seitdem ich diese Geschichte kenne, ist das Maisfeld für mich beseelt. Ehrfürchtig stehe ich jetzt da und betrachte die Veränderungen, die täglich zu beobachten sind.
 
Im Text von der Maismutter wird von weissen Haaren geredet. „Meine“ Maispflanzen tragen entweder leicht grünliche Haare, entsprechend der Farbe des Stengels, viele aber rote Haare. Im Anfangsstadium waren sie so rot, wie natürlich rote Menschenhaare. Jetzt sind sie bereits dunkelrot. Ob die grünlichen auch rot werden, weiss ich noch nicht.
 
Als ich die ersten Haarbüschel entdeckte, waren sie alle noch jung und zart und zwischen Stengel und Blatt geborgen. Wie junge Liebe, empfand ich dieses Stadium.
 
Die Pflanzen halten sich mit starken Krallen, Fingern oder Zehen ähnlich. Nicht wie die üblichen Wurzeln, bleiben sie oberhalb der Erde und sorgen für das Gleichgewicht. Ungewöhnlich schön ist ihr Auftritt. Ganz nahe am Stengel weisen diese Halterungen einen oder zwei dunkelrote Farbkränze auf.
 
Wenn ich in die Räume dieses Pflanzenwaldes schaue und dort die Haarbüschel finde, wirken sie auf mich wie Figuren eines Puppentheaters. Könnte ich doch ihre Sprache verstehen!
 
Gerne wüsste ich dann von ihnen oder noch besser von der Maismutter selbst, wie sie den gentechnisch veränderten Mais erlebt. Wurde sie durch deren Eingriffe amputiert? Kann sie überhaupt noch zu uns sprechen? Besitzen Menschen, die den Pflanzen solche Eingriffe verpassen, keine Ehrfurcht vor dem Leben? Ich befürchte es.