Dienstag, 23. Dezember 2008

Die Weihnachtspost: Mehrheitlich immer noch auf Papier

Manchmal möchte ich wissen, wie viele Hände eine eben erhaltene Sendung weitergegeben haben.
 
Das wattierte Couvert aus Paris sollte seine Geschichte erzählen können. Es ist zerknittert, aber nicht beschädigt. Seine Rückseite arg verschmutzt, vermutlich in den Schneematsch gefallen. Seine Dekoration, die Briefmarken aus der Serie „Bonnes Fêtes“, aber farbenfroh. Abgestempelt in Paris-La-Vilette. Der blaue Prioritaire-Kleber beteiligt an der speditiven Reise. In nur 4 Tagen kam die Sendung bei uns an. Ein Strichcode, grün umrahmt und mit Vermerk „abgabefrei“ versehen, wird mitgeholfen haben. Wichtig auch der in der Mitte angebrachte Strichcode aus Zürich-Mülligen, dem Ankunftsort am Stadtrand von Zürich. Rot gedruckt heisst es da „International“ und Post Pac Priority.
 
Alles Worte, Bezeichnungen. Doch welche Drücke musste der Umschlag aushalten? Zuerst einmal die Last weiterer Sendungen im Briefkasten im 17. Arrondissement, wo meine Enkelkinder wohnen. Hatte er kalt, und ist es ihm vielleicht übel geworden, als die Postsäcke in rasender Fahrt nach La Villette gebracht wurden? Und erst beim Ausladen und Ausschütten auf die Fliessbänder, wie fühlte sich das an? Gab es auch freundliche Hände, die einzelne Sendungen aufhoben, wenn sie herunterfielen und ihnen den Weg zum Ziel sicherten?
 
Lebten meine Grosseltern noch, sie würden staunen, wie schnell und effizient uns die internationale Post heute bedient. Damals war es wie ein Wunder, wenn Nachrichten von ausgewanderten Söhnen oder Töchtern auf den Weihnachtsabend in der Heimat eintrafen. Es gab da viele Geschichten, die dieses Thema bearbeiteten. Ich weiss nicht, ob sie reines Wunschdenken waren.
 
Dem Umschlag habe ich ein festlich verpacktes Geschenk entnommen und für Weihnachten zur Seite gelegt. Gelesen habe ich die Glückwünsche von den Kindern. Die zweijährige Nora schenkte uns energiegeladene Filzstiftschwünge und Mena gestaltete eine Karte. Auf ein feines Baumwollflies platzierte sie kleinste Blätter und feinste Gräser und fixierte das Arrangement mit einer transparenten Folie auf einer roten Karte. Was sie vielleicht gar nicht bemerkte: Unter der durchsichtigen Haut befindet sich auch ein kleines, gelocktes Haar. Dieses erinnert mich an den alten Brauch, Schmuckstücke aus Haar anzufertigen. Mussten die Mütter früherer Jahrhunderte ihre Kinder früh ziehen lassen, wünschten sie, dass etwas Lebendiges von ihnen zurückbliebe. In der Familie von Primo habe ich ein aus Haaren hergestelltes Armband gesehen, das die in Gold gefasste Foto einer verstorbenen Tochter umfing.
 
Heute berühren wir mehrheitlich nur noch eine Tastatur, um mit unseren Kindern, Enkeln und Freunden, die weit ab von uns im Ausland leben, verbunden zu bleiben. Der Internetanschluss ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Ihm verdanken wir den schnellen Transport von Worten, Bildern und kleinen Filmen. Wir sind einander nahe, ohne aber die persönliche Ausstrahlung zu spüren und ohne Spannungen ertragen zu müssen.
 
Der Computer ist überall. Auch schon in der Liste des Existenzminimums? Was machen eigentlich Familien, die sich keinen Computer leisten können? Es ist Primo und mir bis jetzt noch gelungen, ohne Fernsehen zu leben. Den Computer abzulehnen, wäre weit schwieriger.
 
Wir können heute gar nicht mehr bescheiden leben. Die Zwänge sind gross. Hat sich eine technische Errungenschaft durchgesetzt, will sie benützt werden.
 
Ich selber habe mich unter einem gewissen Zwang für den Computer entschieden und bereue es nicht. Und doch stört es mich, wenn ich erkenne, dass wir im Grunde keine freien Menschen sind. Wir reden es uns nur ein. Der Zeitgeist mischt immer mit.
 
Aber ganz hat er uns noch nicht unter Kontrolle. Sonst würde mir der Postbote nicht täglich ein paar handschriftliche Weihnachtsgrüsse bringen.

Sonntag, 14. Dezember 2008

Mein Wunsch: Stille Momente in der Vorweihnachtszeit

Ich pendle hin und her. Einerseits gefällt mir der Advent hier oben am Stadtrand. Andererseits fahre ich auch gerne in die Innenstadt. Abendspaziergänge zum Waldrand sind aber die Favoriten dieser Vorweihnachtszeit. In einer Viertelstunde bin ich schon auf dem Schlieremerberg, kann die Stadt aus der Ferne und wenn der Himmel offen ist, auch die Sterne betrachten. Das angekündigte, seltene Ereignis der Venus, die am 1. Dezember für 45 Sekunden hinter dem Mond verschwand, konnten wir nicht beobachten. Der Himmel war bewölkt. Doch tags zuvor bewunderten wir Venus, Jupiter und die Mondsichel in einer seltenen Nähe und Klarheit. Ein wunderschönes Bild, das sich uns einprägte.
 
Wir waren durch den Wald anmarschiert, und als wir aus ihm heraustraten, präsentierten sich auch die Stadt und das Limmattal als Lichtermeer. Aber von anderer Art, nur von Menschen gemacht.
 
Am Sonntag dann entdeckten wir von weitem rote Feuersglut und sich bewegende kleine Lichter, als wir wieder dort oben unterwegs waren. Die Sonne war längst untergegangen. Der gedeckte Unterstand war von Familien bevölkert. Kinder sprangen herum. Einige trugen Laternen, andere spielten mit Taschenlampen. Hier wurde vermutlich Sankt Nikolaus gefeiert. Wir sahen dieses Fest nur von weitem. Es war ein Anblick wie aus der Zwergenwelt. Ein Zauber der Nacht. Und Primo wurde, wegen seines Barts und seiner Ausstrahlung, wie immer im Advent, von Kindern ganz genau betrachtet. War das der Samichlaus? Zwei Buben auf dem Heimweg fragten sich: Hat der Samichlaus eine Frau? als sie mich an seiner Seite entdeckten.
 
Ein anderes vorweihnachtliches Erlebnis: Die Ausstellung „Polnische Weihnacht“ im Spielzeugmuseum Baden. Wir mussten lange suchen, bis wir den Ort fanden. Die Auskünfte, die uns ein Bus-Chauffeur und Passanten gaben, waren so widersprüchlich, dass wir die Altstadt zweimal durchqueren mussten, bis wir den Ländliweg endlich fanden. Es schneite und regnete. Schneematsch behinderte uns im Gehen, aber als wir das Museum in einer schönen, alten Villa fanden, waren wir versöhnt. Hier trockneten die Kleider. Es war gemütlich warm, und die Frau an der Theke war freundlich. Ich war mit meiner Freundin Ursula hierher gekommen. Still schauten wir uns um, lasen die Texte, bestaunten den polnischen Weihnachtsbaum, eindrückliche Holzschnitzereien von Waclaw Suska, ebenso filigrane Scherenschnitte, Strohgeflechte und die mit Silberpapier gestalteten Kathedralen. Polnische Weihnachtsmusik füllte den kleinen Raum und gab uns das Gefühl, zum Fest eingeladen zu sein.
 
Diese Gegenstände aus der Volkskunst tauchten schon vor Jahren auf dem Weihnachtsmarkt auf. Jetzt weiss ich, woher sie kommen. Aber auch aus Skandinavien und aus der Schweiz kenne ich solche Stroharbeiten. Wer wen beeinflusst hat, ist oft nicht mehr auszumachen.
 
Der farbenfroh dekorierte Weihnachtsbaum hinter einer gläsernen spanischen Wand steht vor einem Fenster der Museumsvilla. Da es schneite, als wir uns dort aufhielten, wurde das Bild einer Weihnachtsstube lebendig.
 
Ursula begeisterte sich für das Rezept der polnischen Mohn-Roulade und notierte es. Mein Blick haftete immer wieder an Holzreliefs von Waclaw Suska. Seinen Geige spielenden Engel hätte ich gern mitgenommen.
 
Das polnische Weihnachtsfest mit vielen traditionellen Speisen muss ein Festschmaus für die Grossfamilie sein. Mich beeindruckte die Oblate, die bei Tisch gebrochen wird. Eine feierliche Geste, die das Fest erst zum Weihnachtsfest werden lässt. So stelle ich mir das vor. Die Oblaten, die wir hier kaufen können, sind rund. In Polen rechteckig und gross und wie unsere Tirggel mit eingedrückten Bildern verziert.
 
Diese Ausstellung sei die erste in ihrer Art. Weitere werden in den nächsten Jahren folgen. Obwohl im Spielzeugmusem angesiedelt, ist dieser Blick in die Volkskunst anderer Länder zuallererst für Erwachsene ein Gewinn. Nur sie können ihn den Kindern vermitteln. Obwohl klein, ist die Ausstellung aber fein. Sie dauert noch bis zum 6. Januar 2009.
 
Zurück in Zürich, stand ich noch alleine bei einer singenden Heilsarmee-Gruppe, die im Advent zum traditionellen Bild meiner Stadt gehört. Jedes Jahr bewundere ich das Engagement dieser Menschen und ihre liebenswürdige Ausstrahlung. Sie sorgen nicht nur für die Ärmsten. Sie schenken uns ganz allgemein etwas Einstimmung in den Advent. In diesem Sinn sind sie Bestandteil von städtischen Weihnachtsbräuchen. Sie gehörten dazu, wenn im Badener Spielzeugmuseum Volkskultur aus Schweizer Städten gezeigt würde.
 
Das Säcklein Maggi-Suppe, das mir überreicht wurde, als ich meine Gabe in den Topf fallen liess, werde ich dann unserer Weihnachtssuppe einverleiben.

Sonntag, 7. Dezember 2008

Besuch in Basel: „Figuretti“ entdeckt und Engel mitgebracht

Wir schlenderten herum. Wir waren nach Basel gekommen, um die Ausstellung von Primos Bildern und Objekten zum Thema „Fundsache Engel“ zu eröffnen. Alle Vorbereitungen waren gemacht. Es blieb uns noch etwas Zeit, das Quartier Gundeldingen zu entdecken.
An der Laufenstrasse 90 zog mich ein hell erleuchteter Raum in einer Reihenhaussiedlung magisch an. Im Schaufenster links grüsste ein feingliedriger Stern, eingerahmt von einem türkisfarbenen Theatervorhang. Wir standen vor dem Figurentheater „Figuretti“. Ich ging die Steintreppe hoch. Durch die Glastüre schaute ich auf Kaspers Bühne. Sie war erleuchtet, aber unbelebt. 25 Stühle, alles Individualisten mit verschiedenfarbig bezogenen Sitzkissen, standen für einen Auftritt bereit. Doch nichts regte sich. Das Dutzend Figuren schaute noch aus einem Fenster und machte auf sich aufmerksam.
 
Mit mir hatte es funktioniert. Diese intime Theaterwelt elektrisierte mich, machte mich neugierig. Ich dachte an unsere Enkelkinder in Paris, zog den Fotoapparat aus der Tasche und blitzte in den Raum. Ich wollte ihnen Bilder schicken und erzählen, ich wisse jetzt, wo der Kasper wohne. Vielleicht könnten wir ihn im nächsten Jahr einmal besuchen.
 
Sofort erschienen 2 Personen aus einem Nebenraum und öffneten die Tür. Sie wollten wissen, warum es hier geblitzt habe. Sie schienen sich an meiner Begeisterung zu freuen. Ich bekam die „Figuretti“-Zeitung“ und den Prospekt „Über uns“. Die Foto zeigt die beiden Personen, mit denen ich gesprochen hatte: Claudia Stoob und Werner Jufer. Die Theaterdirektion also. (Mehr über sie und ihr Theater bei www.figuretti.ch).
 
Ich versicherte, wieder zu kommen und einer Aufführung beizuwohnen. Vor lauter Freude vergass ich, dass ich auf dem obersten Treppenabsatz stand. Als ich zu Primo auf die Strasse zurückkehren wollte, ging ich wie ein Luftibus ebenaus und wäre beinahe abgestürzt. Ich konnte mich am Geländer auffangen. Primos Gesichtsausdruck werde ich nicht so schnell vergessen. Eine Mischung aus Schrecken und vorwurfsvoller Strenge. Ich hatte grosses Glück. Hat mich vielleicht ein Engel vor einem katastrophalen Sturz bewahrt?
 
Mittlerweile war die Sonne untergegangen und allerlei Weihnachtsbeleuchtungen spendeten festliches Licht. In solchen Momenten werden  alle Schichten von erlebten Weihnachtsgeschichten wieder wach. Besonders einfache, eher spröde Dekorationen ergreifen mich dann. Sie erinnern an die Kindheit.
 
Letztes Jahr um diese Zeit waren wir auch nach Basel gekommen, um einem Stadtrundgang zu folgen. Eine Kunsthistorikerin führte uns zu Engeln in der Kunst und Architektur und zeigte auf, wie diese geflügelten Wesen von den Menschen durch viele Jahrhunderte hindurch als Beschützer wahrgenommen und sichtbar gemacht wurden.
 
Damals durften wir auch das Rathaus betreten und im Turmzimmer, ganz oben, wurde ein Apéritif serviert. Meine Familie kam, in der Gruppe gehend, unvorbereitet in den Hof dieses prächtigen Gebäudes. Da stand eine mächtige Tanne, festlich geschmückt, und vor ihr wurde Drehorgelmusik gespielt. „Oh, wie schön!" entfuhr es mir. Die Klänge, der Baum, der Lichterglanz, das unbekannte Umfeld, sie gaben den Blick für Weihnachten frei. Wie ein Blick ins Paradies kam mir das vor. Ein Ereignis von wenigen Sekunden.
 
Wir mussten zügig weitergehen. Es vollzog sich alles husch-husch, wie wenn ein Engel gesichtet worden wäre, der sich aber nicht weiter bestaunen liess. Und als wir später zurückkamen, waren die Drehorgeln verschwunden und mit ihnen die grosse Ausstrahlung von vorher.
 
Jetzt, an diesem Dezembertag 2008, konnten wir bekannten und auch unbekannten Menschen aus Basel etwas Vergleichbares zurückgeben. Nichts Herkömmliches und darum überraschend. Ein neuer Blick auf das Wesen des Engels, den Primo als reine Energie versteht. Für ihn sind Engel keine Sache, auch keine menschlichen Figuren. Um aber ein Objekt herzustellen, das diese Energie andeutet, braucht auch er eine Sache: Materialien, die ihm aus seinem Berufsalltag zufallen, Farben, auch Fundgegenstände, die er als Velofahrer auf dem Weg zur Arbeit und auf der Strasse oder beim Spaziergang im Wald oder Feldern entlang, zufällig findet.
Die Ausstellung ist gut aufgenommen worden.
 
Hinweis auf die Ausstellung mit Werken von Primo Lorenzetti
Sie ist bis Ende Januar 2009 im Restaurant L'esprit zu sehen. Informationen zum Ort, einer Lesung über Engel und ein Engelmahl finden sich bei www.lesprit.ch.

Samstag, 29. November 2008

In meinem Fokus sind noch Zuversicht und das Vertrauen

Jetzt ziehen die neuen Mieter ins frisch renovierte Mehrfamilienhaus ein. Schon seit Wochen waren das Hämmern und die mehrheitlich heiteren Rufe der Bauarbeiter verstummt. Der Innenausbau vollzog sich still.
 
25 persönliche Wohnungseingänge habe ich gezählt. Dazu auf jedem der Stockwerke noch ein allgemeiner. Ich bin gespannt, wie wir diese neue Nachbarschaft erleben. Der Einzug der neuen Mieter scheint gut abgestimmt zu sein. Es reisen nicht alle am selben Tag an. Wir bemerken jeweils nur am Abend, dass weitere Fenster erleuchtet sind.
 
Auf der grossen Wiese wird noch ein Zaun errichtet, damit die Landverhältnisse klar sind. Eine Massnahme, die in der Erfahrung gründe, hörten wir von unserem Hausmeister. Die Grosszügigkeit wird beschnitten, weil nicht alle damit umzugehen wussten.
 
Auch in der Gesellschaft weisen plötzlich neue Leitlinien auf einen ähnlichen epochalen Wandel hin. Aber die Sicherheit, die wir suchen oder neu erschaffen müssen, beschert uns zuerst viel Unsicherheit.
 
In solchen Situationen schaue ich immer wieder einmal auf einen Leitsatz, der schon einige Jahre innerhalb meiner Bücherwand hängt. Da heisst es: „S’chunnt guet. Mer ziehend’s durä." (Es kommt gut. Wir ziehen es durch.)
 
Dieser stammt nicht aus meiner Feder. Ich entdeckte ihn an Neujahr 2002 auf einem handschriftlichen Plakat an der Konradstrasse in Zürich, wo sich damals noch viele Drogenabhängige aufhielten. Die positive Botschaft aus diesem Umfeld erreichte mich wie ein Blitz. Zu Hause tippte ich sie in den Computer und druckte sie in grossen Lettern aus. Noch heute, beinahe 6 Jahre danach, unterstützt sie meinen Durchhaltewillen. Noch selten habe ich 2 Sätzen so viel Zuversicht entlocken können, wie diesen.
 
Und ich stelle fest, dass ich dieses jetzt schon etwas abgegriffene Papier nicht fortwerfen kann. Es ist pausenlos im Einsatz. Ein Problem löst das nächste ab. Jetzt gerade, weil wir die Kündigung unserer kleinen Werkstatt akzeptieren müssen. Das Haus wird abgebrochen.
 
Auch mein Velo, treuer Begleiter, und seit beinahe 15 Jahren Teil meiner selbst, musste ersetzt werden. Noch bin ich daran, mich mit dem neuen Gefährt anzufreunden. Muskeln und Knochengerüst sind darob irritiert und müssen sich arrangieren. Da geht es um kleinste Massdifferenzen, die mir zu schaffen und auch Angst machen. Oder meine Zähne, einst mein Stolz, sind nicht mehr fähig, sich selbst zu erhalten.
 
Was bleibt da Besseres übrig, als der inneren Zuversicht zu vertrauen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich tiefgreifend verunsichert werde. Immer gab es eine Lösung der Probleme, die einen neuen Weg, manchmal eine neue Richtung verlangten.
 
Der mich behandelnde Zahnarzt ist ein Meister seines Fachs und kennt auch Sensibilität. Ich fühlte mich aufgehoben, sicher und konnte alle Spannungen loslassen. Am Schluss sagte ich, das müsse eine grosse Koryphäe sein, die ihn behandeln dürfe. Er widersprach sofort. Ein beruflicher Rang sei nicht ausschlaggebend. Es brauche vor allem Vertrauen.

Montag, 17. November 2008

Erfahrungen, Aufgaben und Gedanken rund um den Tod

Jetzt gerade nachdem ich Wäsche aufgehängt habe, ist mir bewusst geworden, dass ich wieder in der Gegenwart angekommen bin. Ich war ganz bei der Sache, freute mich, wie sauber das Stück wieder war, das ich gerade in Händen hielt. Zeitweise war ich stehen geblieben, habe mich rückwärts gewandt und kurz darauf bin ich wieder vorausgeeilt, um dringende Aufgaben zu erfüllen. Die Folge: Ich verlegte Papiere, die Brille, die Schlüssel usw.
 
Der Grund: Celeste, die gelegentlich auch in Beiträgen im Blog-Atelier auftauchte, ist gestorben. Eine Erkältung minderte ihren Lebenswillen so stark, dass sie loslassen konnte. Als man ihr ein Spitalbett versprach, in dem sie besser gepflegt werden könne, gab sie auf. Ich freute mich über diese Art zu sterben. Sie war nicht allein. Pflegefachfrauen hielten sie beim Umbetten und gleichzeitigem Sterben in den Armen.
 
Ein Tod richtet sich nicht nach der Agenda der Betroffenen. Rücksichtslos wurde von mir gefordert, neben anderen Arbeitssträngen jetzt vor allem jenem für die Beerdigung zu folgen. Celeste hat mich zeitlebens als ihre „Seggredärin“ (Sekretärin) vorgestellt und mir rechtzeitig alle Vollmachten gegeben. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ihre letzten Wünsche zu erfüllen.
 
Ich habe schon für verschiedene Mitmenschen diese letzten Aufräumarbeiten übernommen und erfahre auch jetzt wieder, wie hilfreich es ist, wenn lange vorher darüber gesprochen wird. Was ist noch wichtig? Was soll gesagt und geschrieben werden? Wie soll das Leidmahl ausfallen usw. Was geschieht mit wertvollen Möbeln oder Andenken? Diese Fragen und die dazugehörigen Antworten sind enorm wichtig und erleichtern die Arbeit.
 
Celeste wünschte, dass ihre Asche in einer Nische bestattet werde. Der Verantwortliche vom Bestattungsdienst offerierte, selbst begeistert vom Urnenhain, einen Platz in der neu angelegten Nischenwand im Friedhof Sihlfeld. Ich dachte sofort an Kelten oder Römer, die solchen Orten viel Bedeutung gaben. Ideal auch nach den Vorstellungen der Verstorbenen und ideal für mich. Dieser Friedhof ist für mich gut erreichbar und er ist als friedliche Stätte schön. Von seiner Architektur her ein Ort der Geborgenheit.
 
Als wir den Tod im Bevölkerungsamt meldeten, wurden wir an allen Stellen sehr freundlich, mitfühlend und auf eine Art liebevoll begrüsst. Bevor wir an die Reihe kamen, trat eine Dame an den Schalter, die uns schon im Lift aufgefallen war. Sie konnte kaum mehr atmen. Und ihre Stimme versagte oft. Ein Tod, den sie betrifft, muss ihr arg zugesetzt haben. Da können wir uns gut vorstellen, dass das Personal dieses Amtes so geschult ist, dass es Mitgefühl signalisieren kann. Primo setzte für unseren Fall aber gleich ein Zeichen. Er informierte, wir würden einen Tod mitteilen, der als Erlöser gekommen sei. Wir seien nicht traurig.
 
Als Celeste vor 10 Jahren ins Heim eintrat, nannte sie mir Namen und Adressen von Verwandten und befreundeten Frauen. Ich listete sie auf. Ein A-4-Blatt wurde zu ¾ gefüllt, wohlgemerkt, jede Adresse ohne Leerschaltung an die nächste gerückt. Und jetzt, beim Tod, konnte ich nur noch 3 Personen mit der Todesanzeige erreichen. Wer über 90 Jahre alt wird, alleinstehend und kinderlos ist, wird zwangsläufig einsam.
 
Wo immer ihre Seele oder Persönlichkeit jetzt ist, wir wünschen ihr den Frieden. Letizia sagte ein paar Tage später, Celeste habe sich nicht mehr gemeldet (z. B. in einem Traum), und darum stelle sie sich vor, dass sie fadengerade, aber über ihr geliebtes Tal von Poschiavo, in ihre neue Heimat geflogen sei.

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Von Wänden, die besprayt oder beschrieben worden sind

Der „Rosengarten“, ein altes Gasthaus an der Kalkbreite in Zürich, ist auferstanden. 150 Jahre lang war es ein wichtiger Quartiertreffpunkt und die Beiz der Trämler. Nebenan befindet sich das alte Kalkbreite-Tramdepot. Dieses baufällig gewordene und verlassene Restaurant wäre abgebrochen worden, hätte sich nicht der Heimatschutz eingeschaltet und „eines der ältesten Beispiele für die Urbanisierung Zürichs“ gerettet.
 
Kürzlich fuhr ich dort mit dem Velo vorbei und sah dieses alte Haus mit seinen gemütlichen Proportionen in neuem Glanz. Es strahlte. Es erschien mir jetzt grösser. Ich freute mich. Ein paar Tage danach war ich wieder in seiner Nähe und erschrak. Über Nacht hatten schon wieder Sprayer ihre seltsamen und in meinen Augen widerlichen Signaturen angebracht. Eine Schande! Ich liess mir von jungen Leuten sagen, das seien Markierungen der Selbstdarstellung: Ich bin da gewesen.
 
Da frage ich mich dann schon, wie sie reagierten, wenn ich zum Beispiel in ihren persönlichen Wohnraum eindringen und ihre Wände und Decken mit Malereien meines Schönheitsempfindens verschmieren würde.
 
Fotos in den Tageszeitungen zeigen mir heute, dass die betroffene Fassade noch rechtzeitig vor der Einweihung gereinigt und vielleicht nochmals übertüncht werden konnte. Wer bezahlt das eigentlich?
 
„Ich bin da gewesen.“ Dieser Satz liess in mir sofort ein uraltes Erlebnis aufsteigen, das unsere Töchter bestätigen können. Mit ihnen befand ich mich in der Bahnhofhalle des Zürcher Hauptbahnhofs zur Zeit, als diese renoviert wurde. Bauabschrankungen aus Spanplattenmaterial grenzten die Baustelle ab. Auch sie waren beschrieben oder verschmiert, aber nicht im heutigen Sinn versprayt. Dort, wo sich früher die „Chüechliwirtschaft“ befunden hatte, warteten wir auf Primo. Es stand eine Ausstellungseröffnung seiner Arbeiten an. Wir wollten gemeinsam ins Zürcher Oberland reisen.
 
Wir warteten und warteten. Zu dritt im Gespräch, fiel mein Blick schräg auf die Holzwand. Eine unscheinbare Bleistiftnotiz zog mich an. Eine Schrift ähnlich jener von Primo. Ich las: „Ich bin da gewesen, habe etwas vergessen. Reise eine Stunde später nach.“ Eine Botschaft für uns drei. Obwohl nicht unterschrieben, wussten wir augenblicklich, dass sie uns galt.
 
Wie unterschiedlich doch eine gleichlautende Botschaft motiviert sein kann. Da der Platzhirsch, der sich ein Denkmal setzt. Und dort einer, noch nicht im Handy-Zeitalter angekommen, der versucht, eine Verspätung mitzuteilen.
 
Aber beide haben öffentliche Wände benützt.

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Deutsche in der Schweiz: Das Thema berührt auch mich

Schlagzeilen wirken weniger als Schläge, wenn sie von Karikaturen, zum Beispiel von Felix Schaad, begleitet sind. Seine träfen Beiträge im Tages-Anzeiger entspannen öfters mein Frühstück.
 
Schon bald eine Woche liegt Seite 21 vom 2. Oktober 2008 offen auf meinem Schreibtisch und amüsiert mich. Eine Bildgeschichte über 5 Sequenzen zu einem Artikel „Wie die neuen Ausländer die Schweiz verändern“.
 
Ein Mann mit locker umgebundener Krawatte, die Ärmel hochgekrempelt, überlegt: Er sei gewiss kein Rassist, aber sein Vorgesetzter sei ein Deutscher, sein Arzt ebenfalls und auch die Dozenten seiner Tochter. Und aus dem Fenster lehnend, sieht er bestätigt, dass es in seinem Quartier von ihnen nur so wimmle. Während dieser Aufzählung zeigte er sich von verschiedenen Seiten, mit der Hand im Hosensack, stehend und gehend. Dann sehen wir ihn bei sich zu Hause. Seine Frau sitzt auf dem Sofa und liest die FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Von ihr will er jetzt wissen: „Wofür sind wir eigentlich in die Schweiz gezogen?“
 
Es fällt mir auf, dass in den letzten Monaten das Thema „Die Deutschen kommen“ immer wieder aufgegriffen worden ist. Statistiken dazu belegen, dass die Einwanderung zunimmt.
 
Ich frage mich trotzdem, ob das sinnvoll ist. Wird da Angst geschürt? Ich weiss es nicht. Auf jeden Fall bin ich persönlich vorsichtig, denn meine Urgrosseltern kamen auch aus Deutschland und haben hier wertvolle Arbeit geleistet. Der Urgrossvater war ein Spezialist für den Bau hoher Fabrikkamine. Er und seine Frau stammten aus dem Gebiet der Donau-Versickerungen.
 
2 Tage später betrete ich die Sihlpost beim Zürcher Hauptbahnhof. Es herrscht ein reger Betrieb. Die Schalter von A bis M alle besetzt. Ich drücke die Taste am Automaten, der mir den Zettel mit der anstehenden Nummer ausspuckt. Die 487. Es nimmt mich wunder, wie lange ich warten muss und schaue nach einer Anzeigetafel aus. Am Leuchtkasten oberhalb des Nummernautomaten erscheint die 05. Sie irritiert mich. „Da stimmt etwas nicht!“ sage ich leise vor mich hin und überprüfe nochmals meinen Zettel. Das war vermutlich eine Alterserscheinung, dass ich redete, wo andere schweigen. Ein junger Mann hat mich beobachtet und sofort eingegriffen. Freundlich erklärt er mir das System. Er verweist auf die Anzeigetafel über den Schaltern. Ich müsse nur warten, bis dort meine Nummer erscheine. Zu ihr gehöre ein Buchstabe, der sei für den betreffenden Schalter wegweisend. Es war ein Deutscher!
 
Ich musste lachen. Einerseits über mich, dass ich die 05 am Kasten falsch deutete. Sie ist neu und zeigt die mutmassliche Wartezeit an. Ich kannte sie noch nicht. Andererseits passt es zum Thema, dass die Deutschen da und sogar sehr hilfsbereit sind.

Mittwoch, 1. Oktober 2008

Freundlichkeit gedeiht auf respektvollen Verhaltensregeln

Montagmorgen. Schon vor 8 Uhr beleben die Kinder den Schulhausplatz von nebenan und erinnern mich an ein schönes Erlebnis von gestern. Sie lachen und kreischen. Es tönt fröhlich, aktiv und lebenslustig.
 
Primo und ich gingen erstmals in Zürich-Altstetten abstimmen. Das Abstimmungslokal befindet sich zu unserer Überraschung gleich nebenan im Schulhaus Loogarten. Wir wurden herzlich willkommen geheissen. Ich habe schon mehrmals erwähnt, wie freundlich man sich in diesem Quartier begegnet. Man grüsst sich auf der Strasse, wie das in den Landgemeinden üblich ist. Je näher wir dem Stadtkern kommen, desto nüchterner gehen die Menschen aneinander vorbei. Verständlich. Zu viele sind unterwegs.
 
Als ich am Tisch der Stimmabgabe erwähnte, wie uns die Altstetter-Freundlichkeit auffalle, huschte ein Leuchten über die 3 Personen, die unsere Papiere in Empfang nahmen. Selbstbewusst und gar nicht erstaunt über unsere Beobachtung, sagte eine der Frauen sofort: „Das ist eine alte Tradition!“
 
Ja, eine echte und lebendige. Eine, die entspannt und auch Humor zulässt.
 
Beim Verlassen des Schulhauses wurde ich zufällig noch auf die Verhaltensregeln in der Schule Loogarten aufmerksam. Am Informationsbrett steht geschrieben: 
Wir grüssen alle freundlich.
Wir begegnen allen mit Respekt.
Wir reden und benehmen uns anständig.
Wir folgen den Anweisungen der Erwachsenen.
Wir schlagen und spucken nicht.
Wir tragen Sorge zum Material und halten Ordnung.
Das sind Werte der angesprochenen Tradition.
 
Von ihnen zu reden, war lange kein Thema mehr. Ich freue mich über diese klare Vorgabe, die gewiss auch in andern Schulkreisen wieder salonfähig wird oder schon geworden ist.
 
Ich selbst habe beim Einzug in eine neue Wohnung erlebt, wie klare Regeln eigene Sicherheit hervorbringen. In meinem ganzen Leben musste ich nie eine Waschküche mit anderen teilen. Davor war mir ein bisschen bange. Dank der vorgegebenen Ordnung fand ich mich rasch zurecht.
 
Gut schweizerisch empfinde ich jene Ecke, an deren Wand ein Besen, eine kleine Schaufel und der dazugehörige Wischer aufgehängt sind. Um jeden dieser Gegenstände wurde seine Kontur mit Filzstift an die Wand gemalt, damit ihnen ein immer gleicher Platz sicher ist. Jedesmal denke ich dazu: So klare Vorgaben, locker erfüllt, würden an vielen Orten viele Probleme verhindern.

Dienstag, 16. September 2008

Atmosphärisches aus unseren Bilderbuchferien im Tessin

Eindrücklich erlebte ich die Ankunft in Magadino TI, kurz vor der Schiffstation. Von Quartino herkommend, steigt die Uferstrasse ganz leicht an, bevor sie in geschwungener Linie nach links abbiegen muss. An diesem Punkt wird der See (Lago Maggiore) in seiner Weite sichtbar. Palmen wachsen am Strand. Hier überfliessen die Gefühle. Angekommen im Süden! Oder gar am Meer?
 
Ich dachte dazu: Wenn hier ein übermütiger Autofahrer mit übersetzter Geschwindigkeit daherbraust, landet er im Wasser. – Falsch! Ein kleiner Park mit den erwähnten Palmen und daneben ein grosser Autoabstellplatz sorgen schon für den schützenden Abstand.
 
Die Freude kann alles grösser machen als es ist. Nicht immer werden wir verstanden, wenn wir begeistert erzählen. Da heisst es dann manchmal, man rede das Blaue vom Himmel herunter. Und wer die Arbeit schwänzt, macht „Blauen“, ist auch eine Redensart, die auf eine verführerische Farbe hinweist.
 
Während der ganzen Ferienwoche sahen wir dieses heitere Lago-Maggiore-Blau. Täglich. Zauberhaft. Vom Himmel geschenkt, nicht mit den Händen fassbar und doch real da. So einflussreich, dass auch die Berge blau erschienen. Und sind doch alle von dichtem, grünen Wald ummantelt.
Ich will aber nicht verschweigen, dass es auch im Tessin regnen kann, sogar sehr stark regnen kann. Während unserer Ferien konnten wir aber das Klischee der südlichen Heiterkeit erfahren und bestätigen. Dazu beigetragen haben auch unsere Enkelkinder Mena und Nora. Ihretwegen sind wir nach Orgnana oberhalb von Magadino ins Reka-Dorf gekommen. Reka-Dörfer* sind Orte für familienfreundliche und kindergerechte Ferien (www.reka.ch).
 
Da gibt es viel Platz für bewegungshungrige Kinder, verschiedene Spielgeräte und in Orgnana manche Treppe, weil das Dorf an den Hang gebaut ist. Genau das Richtige für Kinder aus Paris. Kinderlärm gehört hier zur Selbstverständlichkeit und ist kein Problem. Hier konnte sich die 2-jährige Nora zum Wiesel entwickeln, kann jetzt rasch und eigenständig davonspringen.
 
Sie hatte sofort guten Kontakt zum Grossvater. Nachdem sie ihn kritisch musterte und sich vielleicht erinnerte, dass sie ihn kenne, trieb sie den Speichel in lustigen Blasen über die Lippen. Und er selbstverständlich noch eine Spur kräftiger zurück. Und sofort war die Freundschaft wieder gefestigt.
 
Im Reka-Dorf können sogar Grossmütter wieder zu Kindern werden. Ich wunderte mich selbst darüber, dass es noch möglich ist, mit bald 7 Jahrzehnten auf dem Buckel „Versteckis“ (Versteckspiel) zu spielen, um Hausecken zu flitzen und sich hinter Gebüschen ins Gras fallen zu lassen. Wären wir länger geblieben, hätten vielleicht andere Väter, Mütter oder Grosseltern noch mitgespielt. Sie beteiligten sich aber insofern daran, als sie darauf achteten, dass die Spielregeln eingehalten wurden. Mena hätte manchmal so gerne die Augen geöffnet, bevor die vereinbarte Zahl aufgerufen worden war. Es gab da strenge Beobachter.
 
In diesem Feriendorf beobachtete auch ich die Anwesenden, ihre Spiele, ihr Dasein. Und wir plauderten miteinander. Man hatte Zeit. Ich freute mich an den geduldigen Vätern und Müttern, die ihre 1- oder 2-jährigen Sprösslinge schaukelten, mit ihnen erste Schritte übten, sie auf die Rutschbahn setzten und dafür sorgten, dass sie unten wohlbehalten ankamen. Wir alle gaben aufeinander Acht, und Mena sogar noch im sprachlichen Bereich.
 
Schon vor Monaten, als sie bei uns in Zürich in den Ferien war, sagte sie auf einmal:„Grosy, du sagst immer wieder ,Ja was!’“ Wiederholungen stören sie. Mena muss man etwas nur einmal sagen, dann sitzt es. Trotzdem sie mich damals rügte, beantwortete ich das, was mich erstaunte erneut mit „Ja was!“ Tönt doch sicher besser als beispielsweise „Das gits ja nöd.“ (Das gibt es nicht.) Dies ist auch so eine Redensart. Diese stört aber mich.
 
Damals in Zürich notierte sie mit Strichen, wie oft sie mich beim Wiederholen erwischt hatte. So sind Kinder. Sie beobachten und sagen unverblümt, was sie entdeckt haben. Und wir Erwachsene können unser Tun und Reden reflektieren und falls nötig und überhaupt möglich ändern.
 
Wenn Mena im Tessin vorwurfsvoll „Grosy!! Ja Was!“ rief und dabei die Augen rollte, war ich selber erstaunt, wie oft mir dieser Ausspruch herausrutschte. Also suchte ich nach einer neuen Variante, denn vieles, was mir erzählt wird, ist doch erstaunlich. Ich rief dann nach einer Rüge von ihr „LAGO MIO“, auch so ein Wort, das Erstaunen ausdrückt. Hier besonders passend, weil wir uns über dem Lago Maggiore befanden und gerne nach ihm ausschauten. In solchen Momenten war er mein oder unser See, wie es der Ausspruch meint. Der schöne See, der zauberhaft blaue See.
*
*Wie ich auf der Homepage von www.reka.ch entdeckte, ist das Feriendorf in Orgnana ob Magadino-Vira nicht mehr aufgeführt. Schon im Winterschlaf. Es bietet keine Herbst- oder Winterferien an.
 
Von einer Tessin-Kennerin habe ich erfahren, dass die Magadino-Seeseite „Pfnüselküste“ (Die Küste, wo man sich eine Erkältung holt) genannt werde, weil hier im Winter die Sonne lange Zeit zu tief stehe, um sie zu beleuchten und erwärmen. Dafür ist sie im Sommer wunderschön.

Samstag, 6. September 2008

SBB-Versprechen: „So leicht kommt Verlorenes zurück.“

Ich sah die SBB-Angestellte vom Schalter aus, als sie mit meinem gelben Rucksack durch den Korridor daher kam. Sie hob ihn in die Höhe, und ich konnte sofort zustimmen: „Ja, er sei es!“ Da waren wir erleichtert. Primo hatte ihn auf der Reise in der S-Bahn auf der Strecke Luino–Bellinzona liegen gelassen. Heute denke ich dazu: Der Sinn der Aufregung sei vielleicht dieser Beitrag im Blogatelier, damit viele Reisende über den neuen Fundservice der SBB informiert werden.
 
Der Schwiegersohn hatte sofort eine entschuldigende Erklärung. Primo hätte sich eben so sehr um seine kleine Tochter Nora gekümmert. Das habe ihn abgelenkt.
 
Primo trug an jenem Mittwoch den leichten Rucksack auf dem Spaziergang durch den Markt in Luino am Rücken, legte ihn dann für die Rückfahrt in der S-Bahn ins Gepäckfach über unseren Sitzen und plauderte spassend mit Mitreisenden. Die Enkelin Nora, deren Kinderwagen er während des Ausfluges chauffierte, war eingeschlafen, der Wagen gesichert. Er war frei und wie immer in Italien von diesem Land seiner Vorväter bewegt. Licht, Lebensweise, Kunst und Architektur beflügeln ihn hier mehr als anderswo. Und die Lebensfreude drückt sich dann in allerlei verbalen Spässen aus.
 
Unser Schwiegersohn hatte wohlweislich sein Auto schon in Maccagno abgestellt. In Luino darf am Markttag (jeden Mittwoch von 9 bis 16.30 Uhr) nicht mit freien Parkplätzen gerechnet werden. Wir fuhren deshalb die letzten beiden Streckenabschnitte mit der S3 und erreichten den international bekannten und für mich legendären Markt auf kurzem Weg vom Bahnhof her zu Fuss.
 
In Luino werden sowohl Textilien aller Art wie auch Lebensmittel-Spezialitäten und allerlei Haushaltartikel angeboten. Wir liessen uns treiben, kauften dies und das. Nicht wirklich Nötiges, aber Dinge, die uns an einen schönen Ausflug erinnern werden. Wir schleckten Gelati und hörten den indianischen Musikern zu. Wir beobachteten die Polizei, wie sie die Papiere der Musikanten prüfte. Die 6-jährige Mena hat diesen Auftritt ganz genau beobachtet. Die attraktiven Uniformen der Carabinieri imponierten ihr. Dann setzten wir uns wieder in die Bahn und fuhren dem tiefblauen Lago Maggiore entlang nach Maccagno zurück.
 
Kaum waren wir wieder beim Auto angelangt, bemerkten wir, dass der Rucksack fehlte, also alleine weiter reiste. Sofort begann ein Wettlauf nach ihm. Fahrt nach dem schweizerischen Magadino-Vira, wo wir den Verlust melden wollten. Der Bahnbeamte konnte uns verstehen, aber nur mühsam auf Deutsch antworten. Er schickte uns nach Bellinzona. Frauen und Kinder wurden in die Ferienwohnung zurückgefahren und die Männer reisten sofort dorthin.
 
Zu spät. Alle im Zug liegen gelassenen Gegenstände würden jeweils an der Endstation sofort eingesammelt und nach Bern weitergeleitet. Die Männer erhielten einen Prospekt mit der Internetadresse www.sbb.ch/fundservice und die Aufforderung, den Verlust dort anzumelden. Mehr konnte der Mann nicht für sie tun. Primo kam etwas zerknirscht nach Hause. Wir hatten nicht nur persönliche Dinge verloren, sondern auch eine wertvolle Jacke unserer Tochter und ebensolche von den Kindern. Von einer Sammelstelle in Bern und wie diese funktioniere, wussten wir in jenem Augenblick noch nichts. Die Abwicklung erschien uns umständlich.
 
Unserem Schwiegersohn, einem Sprachwissenschaftler, hatte aber das Gespräch am Schalter gefallen. Die Mischung von gutem Deutsch und italienischem Sprachklang.
 
Am Abend dann, als Ruhe ins Haus eingekehrt war, füllte unsere Tochter Felicitas das Computer-Formular aus. Wir beantworteten alle von den SBB gestellten Fragen und beschrieben die Gegenstände, die sich im Rucksack befanden. Wir konnten im SBB-Fahrplan im Internet auch die Zugs-Nummer ausfindig machen und korrekt bekanntgeben. Dann liessen wir das Suchformular los.
 
In der Nacht fiel mir ein, dass ich auf dem Markt doch noch 2 Küchenschürzen gekauft habe, die in unserer Verlust-Liste fehlten. Anderseits fand ich einen kleinen Küchenartikel in meiner Handtasche, den ich dem Rucksack-Inhalt zugeordnet hatte. Felicitas machte mich aufmerksam, dass das eingereichte Protokoll ergänzt werden dürfe. Ich war erleichtert, dass man mit etwas Aufregung rechnete und einen Nachtrag ermöglichte.
 
Kaum hatte sie diesen abgeschickt, bekamen wir die Antwort, es sei nicht mehr möglich, das Protokoll zu ändern, denn der verlorene Gegenstand sei bereits gefunden worden. Da freuten wir uns wieder und tauten auf.
 
Ich rief später noch die aufgeführte Telefon-Nummer an und erkundigte mich nach dem weiteren Vorgehen. Nach der Rückkehr nach Zürich würde ich in meinem Computer eine Bestätigung vorfinden, mit der ich den Rucksack im Bahnhof Altstetten auslösen könne.
 
Ich dankte und äusserte mich erfreut über die bisher unbekannte und für uns im ersten Moment undurchsichtige Abwicklungs-Methode. Die freundliche Sachbearbeiterin sagte: Eine solche Lösung habe sich aufgedrängt. Die SBB würden täglich Tausende von Fundgegenständen einsammeln. Unglaublich.
 
Primo hängte den Rucksack gleich wieder an seinen Rücken, nachdem er uns am Bahnschalter von Zürich-Altstetten ausgehändigt worden war. Auf der Heimfahrt mit den Velos wurde ich unruhig. Der Rucksack war nicht mehr prall gefüllt. Es schien etwas zu fehlen. Und so war es dann auch. In Luino kauften wir an einem Marktstand ein sehr grosses Stück Brot. Es wurden dort Brote von der rechteckigen Fläche eines normalen Küchentisches angeboten. Dieses Brot haben wir nicht mehr erhalten. Ich vermute, dass alle Lebensmittel rigoros aussortiert werden, um Fäulnis zu verhindern. Mit hartem Brot hätte ich zwar noch etwas anfangen können. Ein roher Fisch, Frischkäse, rohes Fleisch oder mit Vanillesauce gefüllte Gebäcke aber würden Probleme verursachen. Die Abwicklung also optimal.
 
Innert 5 Tagen hatten wir unseren Rucksack zurück erhalten. Unkosten Fr. 5.— für Inhaber eines Halbtaxabos. Ohne einen solchen Ausweis kostet die Aktion Fr. 10.—.
 
An jedem Bahnschalter liegen jetzt Flyers auf, die zusätzlich zu den beschriebenen Erfahrungen das neue „easyfind“–System der Bahn erläutern. Dieses wirkt vorbeugend, damit Verlorenes zurückkommt wie ein Bumerang. 
 
Jetzt habe ich nur noch eine Frage: Was machen ältere Leute ohne Computer, wenn sie etwas liegen gelassen haben? Können sie ihre Anfrage per Telefon aufgeben? Die Rail Service Nummer, die ich bekommen habe, lautet 0900 300 300 (CHF 1.19/Min). Mit ihr traf ich sofort ins Fund-Verarbeitungszentrum.

Samstag, 23. August 2008

Celeste befürchtet bei jedem Adieu, es sei nun das letzte

Ich treffe Celeste in versteinertem Zustand in ihrem Fauteuil sitzend an. Ich wurde nicht erwartet, darum schaut sie mich kritisch, beinahe grimmig an. Ihr Augenlicht hat nachgelassen. Es braucht eine gewisse Zeit, bis sie mich erkennen kann. Daran bin ich schon gewöhnt. Heute ist sie extrem grau im Gesicht, obwohl ihre Haut immer noch fleckenlos ist und dank einer Gesichtscreme weich und elastisch erscheint. Aber die Ausstrahlung ist dumpf. Es geht ihr wieder nicht gut. Heute Morgen sei sie wieder umgefallen. Nächsten Monat wird sie 92. Ein Arzt hatte ihr schon vor 20 Jahren prophezeiht, sie könne gut 100 Jahre alt werden. Darauf möchte sie gerne verzichten. Seit Jahren will sie sterben und hält das Heft doch immer noch in ihrer Hand. Sie steht jeden Tag um 5 Uhr auf, wäscht sich, pflegt sich, kleidet sich selbständig an. Sie lüftet auch das Bett aus und macht es noch vor dem Frühstück zurecht. Perfekt.
 
Von Tag zu Tag aber spürt sie, wie die Kräfte schwinden. Wenn sie deprimiert ist, fragt sie manchmal, warum er (Gott) sie nicht haben wolle? Diese Frage berührt mich immer. Celeste hat kein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, aber ein Gen, das sie zum General befähigen würde.
 
Die Probleme häufen sich. Die Organe spielen nicht mehr unbekümmert miteinander. Es hapert an vielen Orten. Sie braucht viel Chemie, um Schmerzen und das Rumoren im Kopf zu ertragen. Zudem hört sie nicht mehr gut. Da sind Missverständnisse vorprogrammiert. Heute sagt sie zum Beispiel: „Meine Stimme ist verloren gegangen. Ich kann mich kaum mehr hören.“ Und vom Speisesaal, das sei das Krematorium. Alle würden nur noch lispeln und tuscheln. Man vernehme keinen Laut.
 
In Wahrheit hört sie bald gar nichts mehr. Ich kann schon lange nicht mehr mit ihr telefonieren. Sie antwortet auf keine Frage, hört sie gar nicht. Telefonkontakt funktioniert nur noch, wenn sie anruft und ein Ja oder ein Nein zu einer Problemlösung haben will.
 
Heute wollte ich ihr erzählen, dass ich nächste Woche in den Ferien sei. Vorsichtshalber habe ich dazu einen Brief verfasst und ihn in grosser Schrift ausgedruckt. Das ist jetzt die uns verbliebene Kommunikationsform, wenn etwas ganz Neues auf sie zukommen soll. Auch wenn ich neben ihr sitze und schlichte Sätze ins Umfeld ihres linken Ohrs spreche, kann ich nicht mehr damit rechnen, dass sie alles erfasst.
 
Stelle ich eine Frage und versteht sie diese nicht, spürt sie der Sache angestrengt nach und erzählt dann einfach etwas, was im besten Fall einen Teilbereich anspricht. Ihre Antworten sind aber meistens daneben. Ich spüre, sie will nicht aufgeben und mir den Eindruck vermitteln, sie sei noch da und zu einem Gespräch fähig.
 
Als sie die ersten Sätze in meinen mitgebrachten Brief liest, zuckt sie zusammen. Ich erwartete schon einen Aufschrei, aber er blieb aus. Tapfer sagt sie dann: „Ihr habt Recht, dass ihr Euch ein paar schöne Tage gönnt.“ Mich betrachtend, stellt sie fest, meine Haare seien grau geworden. Ich hätte viel geleistet und viel getragen. „Ja, Ferien werden dir gut tun.“
 
Da staune ich. Das ist neu. Früher hätte sie meiner Familie gerne verboten, in die Ferien zu reisen. Sie konnte jammern, wenn ein Abschied bevorstand. Ganz südländische Schauspielerin. Da hiess es dann im Befehlston: „Komm wieder zurück. Ich brauche dich!“ Diesen Satz hörte ich jahrzehntelang mindestens einmal pro Jahr. Er gehörte zu jeder Geburtstagstorte, die sie mir schenkte. „Ich brauche dich noch.“
 
Erst als ich diese Anklammerung nicht mehr als eine Last empfand und einmal beim Abschied sagte: „Ich weiss, dass du auf mich wartest, bevor du dich zum Sterben hinlegst“, atmete sie auf, lachte herzlich, obwohl sie sich ertappt fühlte oder gerade deshalb. Und diese Zuversicht, die sich damals ergab, hat sich offensichtlich erhalten. Dem Humor sei Dank.

Sonntag, 10. August 2008

Die Faszination Gewitter ist oft auch von der Angst begleitet

Ich staune immer wieder, wie mir die Gefühlswelt ihre Erfahrungen aufzeigen kann.
 
In den ersten Tagen hier am neuen Wohnort in Zürich-Altstetten wurde ich früh morgens von Blitzen geweckt und von einem wuchtigen Donner erschreckt. Es war ungewöhnlich für mich, und ich begriff sofort, dass das Haus, in dem ich jetzt lebe, ganz andere Eigenschaften besitzt. Das Bernoulli-Reihenhaus fing einen Donnerknall schwingend auf. Das wusste ich aber erst in diesem Moment, weil es sich am neuen Ort wie ein Erdbeben anfühlte. Die ganze Schwere der Betonmasse grollte, bewegte sich nur leicht hin und her. Es war etwas Dumpfes dabei, und ich sah vor den inneren Augen einen unendlich starren Block.
 
Wochen später bescherte uns ein aussergewöhnliches Gewitter wieder ganz andere Erfahrungen.
 
Es war Ende Mai 2008. Bei Sonnenuntergang baute sich das Gewitter auf. Ich sass in der Stube und schaute durch einen angrenzenden Raum zum Himmel. Dort zuckte es unaufhörlich. Primo beobachtete das Schauspiel anfänglich vom Balkon aus. Ich schaltete alle möglichen elektrischen Anschlüsse aus, und wir kamen überein, auch das Licht zu löschen, um alle Facetten des aufziehenden Natur-Schauspiels einzufangen.
 
In diesem Halbdunkel sahen wir die Zuckungen des Gewitters. Lichtfäden leuchteten nicht nur am Himmel auf. Sie schossen auch durch unsere Stube. Von Norden nach Süden verlaufend. Der dazugehörige grollende Donner, den wir wie den Lärm startender Flugzeuge wahrnahmen, dauerte eine ganze Stunde an. Aber nie folgte diesem Brummen der erlösende Knall.
 
Dann begann es zu regnen. Der Wind peitschte eine Wasserwand wellenartig an der Balkonfront vorbei. Es goss in Strömen. In der Toilette rumorte das Meteorwasser. Es windete und stürmte. Wir liessen die Rolläden herunter und verharrten, schon etwas besorgt, im Dunkeln.
 
Als es ruhiger wurde, öffneten wir die Fenster wieder und sogen die entspannte und gereinigte Luft ein. Es hatte eine Verwandlung stattgefunden. Wir atmeten auf. Den Blitzen gleich, verflüchtigten sich unsere bangen Gefühle. Nun war der Himmel Richtung Osten in ein türkisfarbenes Blau getaucht. Wunderschön klar. Richtung Schlieren allerdings war noch bedrohliches Grau auszumachen.
 
Ein solches Gewitter hatten wir beide noch nie erlebt. Seither messe ich alle nachkommenden an diesem grandiosen, aber auch Angst machenden Energiespektakel.
 
Jetzt bin ich gespannt, wie und wann sich meine Gefühlswelt in ähnlicher Situation wieder meldet und mir das beschriebene Erlebnis als Vergleich darstellt.

Mittwoch, 6. August 2008

Liebenswürdige Feier für liebenswürdige Persönlichkeit

Die Schulanlage Chriesiweg (Chriesi ist der Dialektausdruck für Kirschen) in CH-8048 Zürich habe ich immer nur flüchtig angeschaut, obwohl sie zu meinem nächsten Umfeld gehört. Wohl bewunderte ich die vielen, locker verstreuten alten Bäume, aber eine Beziehung zu diesem Areal hatte sich noch nicht ergeben. Bis zum 4. Juli 2008. Da gehörte ich plötzlich dazu.
 
An diesem Morgen wollte ich am Suteracher einkaufen. Ich stieg aufs Velo, fuhr los und hielt gleich wieder an, sah sofort, dass hier Feierlichkeiten anstehen. Ein roter Teppich war ausgelegt, viele Meter lang und seitlich mit Steinen befestigt. Ich lehnte mein Rad an einen Baumstamm und staunte wie ein Kind durch das hohe Gitter, das die Schulanlage abschirmt. Entlang dem Teppich standen Musikerinnen mit ihren Instrumenten, ein ganzes Orchester. Eine Frau filmte die erwartungsvolle Stimmung. Ich solle doch hereinkommen, sagte sie unter dem Eingangstor, dann könne ich alles mitverfolgen. Sie würden eine Handarbeitslehrerin in die Pension verabschieden.
 
Ich folgte der Einladung gern, stellte mich hinter die grosse Schar von Schülerinnen und Schülern aus der Unterstufe. Ich habe sie nicht gezählt, vermute, dass es etwa 200 Kinder waren, die im Halbrund am Boden sassen.
 
Eine freundliche Frau hiess mich willkommen und gab sich als die Ehefrau eines Lehrers zu erkennen. Sie rapportierte mir alle Einzelheiten. Man erwarte jetzt eine Pferdekutsche. Die Jubilarin und eine sie begleitende Freundin seien in Albisrieden abgeholt worden und würden in den nächsten Minuten hier eintreffen. Und so geschah es. Als das Pferd sichtbar wurde, tönte es im Sprechchor: „Frau Müller, Frau Müller, Frau Müller!“ Für sie war ein Thron vorbereitet, und ein dazu passender Stuhl stand auch für ihre Begleiterin bereit.
 
Die Damen (alles Lehrpersonen), die das Orchester darstellten, begaben sich dann unter die Eichen und suggerierten uns eine Opernpartie, die ab Band gespielt wurde. Ein Lehrer mimte den Sänger, ein zweiter den Dirigenten. Wenn der Sänger sentimentale Partien mit emotionalen Gesten unterstrich, lachten die Kinder. Und am Schluss riefen sie: „Zugabe, Zugabe, Zugabe!“
 
Frau Müller, eine grosse Opernfreundin, wurde mit einem prächtigen Blumenstrauss geehrt. Der „Sänger“ überreichte ihr diesen mit einem Autogramm ihres realen Lieblingssängers. An alles wurde gedacht. Jedes kleinste Detail war getreu und liebenswürdig nachgezeichnet. Auch ich als Aussenstehende spürte, dass Frau Müller eine aussergewöhnlich beliebte und geschätzte Persönlichkeit sein muss.
 
In Altstetten bin ich schon mancher Freundlichkeit begegnet, doch diese Feier im Chriesi-Schulareal ist wohl kaum mehr zu übertreffen.

Freitag, 1. August 2008

Ganz unverhofft durfte ich die Maismutter kennen lernen

Die Geschichte vom „Geheimnis der Maismutter“ hat mich bestimmt schon vor 17 Jahren berührt, sonst hätte ich den Text aus dem „Brückenbauer“ vom 25.09.1991 nicht aufbewahrt. Er ruhte im grossen Märchenbuch, das ich kürzlich hervorholte. Als ich es öffnete, fiel die „Junior“-Seite dieser Zeitung gleich zu Boden und machte mich neugierig.
 
Es handelt sich um eine Geschichte aus der indianischen Mythologie. Sie spielt in einer Zeit des Hungers, als Nahrung mühsam gesucht werden musste.

Sie ist mir zum richtigen Zeitpunkt zugefallen. Ich beobachte doch seit ein paar Wochen, wie sich das Maisfeld auf dem Weg zum Pestalozzi-Hof entwickelt. Mittlerweile sind mir die Pflanzen schon über den Kopf gewachsen und bilden eine Front zur Strasse hin. Da schaue ich dann in ihre Räume und den inneren Wegen entlang.
 
Als ich die Geschichte gelesen hatte, waren die Maispflanzen noch nicht so weit entwickelt, dass ich die Ansätze der Kolben und die Haarbüschel hätte finden können. Ich suchte täglich nach ihnen und freute mich riesig, als ich sie endlich fand.
*
Nun will ich das Märchen nacherzählen: Da soll eines Abends eine armselige Alte mit weissen Haaren in einem Lager angekommen sein. Sie war niemandem bekannt und wurde kaltherzig abgewiesen. „Verschwinde!“ hiess es. „Hier ist kein Platz für dich.“ Auch in anderen Siedlungen war sie unerwünscht. Man jagte sie unwirsch davon. Erst bei den sehr armen und bedürftigen Menschen des Alligator-Clans wurde sie freundlich aufgenommen. Sie durfte ausruhen, sich stärken und neben dem Feuer schlafen.
 
Anderntags gingen die Männer des Clans auf die Jagd, und die Frauen suchten nach Beeren und Wurzeln. Die Alte betreute in dieser Zeit die Kinder und kochte für sie. Einer der Knaben konnte die köstliche Speise, die sie ihnen vorsetzte, nie mehr vergessen, auch als die Alte nach einer gewissen Zeit so geheimnisvoll verschwand, wie sie vorher erschienen war. Eine Zeit lang suchten Männer und Frauen noch intensiv nach dieser geheimnisvollen Nahrung. Sie fanden aber nicht die geringste Spur. Darum wurde sie wieder vergessen.
 
Nach Jahren, als aus dem Knaben ein Krieger geworden war, machte er sich auf die Suche nach der Alten, die bei ihnen eingekehrt war. Als einziger hatte er sie nie vergessen. Obwohl er nicht wusste, dass es die Maismutter selbst war, die in armseliger Gestalt auf die Welt gekommen war, suchte er unentwegt nach ihr. Und eines Tages erschien sie ihm, um ihn den Maisanbau zu lehren.
 
„Brenne das Gras ab, bis nur noch die Asche übrig bleibt. Dann nimm mich bei den Haaren und schleife mich kreuz und quer über die verbrannte Erde!“ befahl sie. Sie prophezeite, dass danach neues Gras aus dem Boden spriessen und er zwischen deren Blättern ihr Haar finden werde.
 
Sofort machte er sich an die Arbeit. Er schleifte die Alte über die ganze Lichtung. Überall, wo sie die Erde berührt hatte, wuchs bald das seltsame Gras. Es wurde so hoch, dass es ihn überragte. Und zwischen den Blättern sah er tatsächlich Büschel von weissen Haaren. Er konnte ihr offenbar gar nicht danken, denn es heisst, als er die vorgeschriebene Arbeit getan hätte, sei die Frau aus seinen Händen entschwunden.
Seitdem ich diese Geschichte kenne, ist das Maisfeld für mich beseelt. Ehrfürchtig stehe ich jetzt da und betrachte die Veränderungen, die täglich zu beobachten sind.
 
Im Text von der Maismutter wird von weissen Haaren geredet. „Meine“ Maispflanzen tragen entweder leicht grünliche Haare, entsprechend der Farbe des Stengels, viele aber rote Haare. Im Anfangsstadium waren sie so rot, wie natürlich rote Menschenhaare. Jetzt sind sie bereits dunkelrot. Ob die grünlichen auch rot werden, weiss ich noch nicht.
 
Als ich die ersten Haarbüschel entdeckte, waren sie alle noch jung und zart und zwischen Stengel und Blatt geborgen. Wie junge Liebe, empfand ich dieses Stadium.
 
Die Pflanzen halten sich mit starken Krallen, Fingern oder Zehen ähnlich. Nicht wie die üblichen Wurzeln, bleiben sie oberhalb der Erde und sorgen für das Gleichgewicht. Ungewöhnlich schön ist ihr Auftritt. Ganz nahe am Stengel weisen diese Halterungen einen oder zwei dunkelrote Farbkränze auf.
 
Wenn ich in die Räume dieses Pflanzenwaldes schaue und dort die Haarbüschel finde, wirken sie auf mich wie Figuren eines Puppentheaters. Könnte ich doch ihre Sprache verstehen!
 
Gerne wüsste ich dann von ihnen oder noch besser von der Maismutter selbst, wie sie den gentechnisch veränderten Mais erlebt. Wurde sie durch deren Eingriffe amputiert? Kann sie überhaupt noch zu uns sprechen? Besitzen Menschen, die den Pflanzen solche Eingriffe verpassen, keine Ehrfurcht vor dem Leben? Ich befürchte es.

Montag, 21. Juli 2008

Nacht am Stadtrand: Seltsame Schreie, die mich verwirrten

Es war etwas nach 3 Uhr in der Morgenfrühe, als ich erwachte. Schrille Laute hatten mich geweckt. Schreie eines Tieres? Sofort dachte ich an den Fuchs, den ich vor wenigen Wochen, ebenfalls in der Nacht, erspäht hatte.
 
Wenn ich auf der Bettkante sitze, sehe ich auf die Grünfläche hinaus, von der ich in einem früheren Beitrag einmal vom Flugplatz für die Rabenkrähen und Elstern berichtet habe. Hier kam er durch, schritt lautlos am gegenüberliegenden Haus vorbei, seinem Instinkt folgend.
 
Wie alle Häuser der Umgebung, wird auch das unsere vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang beleuchtet, ist also beschützt. Bekanntlich haben sich die Füchse daran gewöhnt und betrachten die Wohngebiete an den Stadträndern ganz selbstverständlich auch als ihr Revier. Und vor dem Licht scheinen sie sich nicht zu fürchten.
 
Ich schaue hier gern ins leicht beleuchtete Dunkel hinaus, auch wegen der Bäume und des Winds. In der besagten Nacht aber bewegte sich nichts. Weder die Blätter der alten Hagebuche noch die portugiesische Flagge am gegenüberliegenden Balkon. Alles schien zu schlafen.
 
Und doch schrie eine mir unbekannte Kreatur. War sie in Not? Der Fuchs vielleicht? Wie hören sich überhaupt seine Schreie an? Keine Ahnung. Ich stand auf, schaute in der Küche und am Essplatz durch die Fenster. Nichts, gar nichts bewegte sich. Auch in der Stube und im Balkonbereich wurde ich nicht fündig. Im Korridor, nahe meinem Büro, dröhnten die Schreie extrem schrill. Ich war ratlos.
 
Dann ging ich ins offene Schlafzimmer zurück und fand des Rätsels Lösung. Es war Primo, der auf seltsame Art schnarchte. Noch nie gehört. Seine Atemzüge waren gekraust. Und die neue Wohnung, immer noch ein Hohlkörper mit viel zu grosser Resonanz, vervielfachte seine Atemgeräusche und verwandelte sie in Schreie. Ich schaute eine Weile zu. Dann bewegte er sich, ohne zu erwachen. Und sofort war das verwirrende Spiel aus.
 
Eine eindrückliche Lektion. Wir müssen uns um Materialien kümmern, die den Schall schlucken. Grundsätzlich mögen wir schlichte Räume, Fenster ohne Vorhänge, Böden ohne Teppiche. Jetzt wurden wir eines Besseren belehrt. Die Kreativität ist gefordert. Wie sie uns führt, weiss ich im Augenblick noch nicht. Aber wohin sie uns führen soll, das steht fest. Wir wollen uns nicht weiter von vermeintlichen Tieren narren lassen.

Mittwoch, 9. Juli 2008

Waldsofa und Ausstellung über das Krähenvolk gefunden

Auf dem Weg, der von Zürich-Altstetten auf den Üetliberg führt, haben wir ein so genanntes „Waldsofa“ entdeckt. Primo erspähte es durch das Baumgefieder. Ein ansehnliches Rund, aus Baumästen zusammengefügt, ähnlich einem Vogelnest, aber auf die Grösse von Menschen zugeschnitten. Eine auf den Waldboden gesetzte Umfriedung. Ein Sofa im herkömmlichen Sinn ist es nicht, wohl aber ein geschützter Ort, um sich wohlzufühlen, zum Träumen, Lauschen, Beobachten.
 
Wir näherten uns langsam, still und etwas ehrfürchtig. Wir schauten uns um, waren alleine da.
 
Links vom Torbogen, der ins Innere und zu einer Feuerstelle führt, lasen wir die Erklärung zu diesem „Waldsofa“. Es sei der gemeinsame Platz von Kindern aus dem Kindergarten Hohlstrasse 437 und Kappeli 1 aus dem Schulkreis Letzi in Zürich. Sie kämen jede Woche einen Tag lang in diesen Wald. Auch wir dürften diesen Raum benützen. Es seien aber Regeln einzuhalten: Keinen Abfall hinterlassen, nichts kaputt machen, kein Holz aus dem kunstvoll geflochtenen Rund herausziehen, um Feuer zu machen. Voraussetzung sei auch, dass die Feuerstelle sauber hinterlassen werde. Und: Die Kiste dürfe nicht mehr aufgebrochen werden.
 
Ausserhalb dieses Baus waren einige aneinander gereihte, kleine Felder zu entdecken, in deren hölzernen Umrandungen Blätter, Gras, Steine, Tannzapfen usw. ausgelegt worden sind. Wie Felder in der Landwirtschaft. Alles mit Liebe und Sorgfalt gestaltet und auf Masse der Kinder zugeschnitten.
 
An Bäumen aus der nahen Umgebung wurden eine aufgehängte Flöte und ebenso Föhrenzapfen bemerkt. Vielleicht entdecken Wespen diesen Ort und nisten sich da ein. Eine Vermutung von Primo. Ebenso flattern farbige Wimpel im Wind und spiegeln die Freude der Kinder. So stelle ich mir das vor.
 
Auch für mich war der Wald im Vorschulalter ein Ort der Geborgenheit und auch der Geheimnisse. Die Beerensuche mit der Grosstante Rosa ein Abenteuer für sich. Ich kann mich gut an Licht und Dunkel und ihr gemeinsames Spiel erinnern. Viele Geschichten, die ich später hörte oder las, wurden durch die damaligen Eindrücke lebendig, farbig und auf ihre Art realistisch. Und solche sind besonders für die Stadtkinder wichtig. Ich freue mich für sie.
 
Die Natur zu entdecken, ist ein endloser Prozess. Ich denke manchmal, dass ein Menschenleben gar nicht ausreicht, alle Lebens-Zusammenhänge zu begreifen. Ein Glück, dass uns Fachleute und Museen behilflich sind. Und ein Glück für die Kinder, wenn ihnen Eltern oder Lehrpersonen die Ehrfurcht vor dem Leben wecken.
 
Gegenwärtig sind es die schwarzen, gefiederten Freunde in meiner Umgebung, die ich besser kennen lernen will. Im Blog vom 09.06.2008 erwähnte ich, dass ich gerne wüsste, ob es Raben oder Krähen seien, die das Lebensumfeld mit uns teilen. Die Ausstellung im Naturmuseum Solothurn, die noch bis zum 5. Oktober 2008 zu besichtigen ist, hat mir die Antwort zweifelsfrei geben können. Es sind Rabenkrähen (corvus corone).
 
Die Masse der Rabenkrähe unterscheiden sich stark von jenen der viel grösseren Kolkraben. Rabenkrähen verfügen über eine Flügelspannweite von ca. 76 cm und ihre Länge Schnabel-Schwanz beträgt 47 cm. Ihnen im Museum gegenüber zu stehen, beeindruckte mich stark. Nun habe ich diesen Vogel verinnerlichen können. Er ist mein Nachbar. Wenn ich am Fenster stehe und unsere Leintücher ausschüttle, fliegt keiner von ihnen auf. Sie werden mich schon kennen. Raben seien gute Beobachter, intelligent und wüssten sich immer wieder neuen Situationen anzupassen, hört man.
 
In der Revue SCHWEIZ, wo ich den Hinweis auf die Ausstellung in Solothurn gefunden habe, werden die Raben als schlaue Biester mit schlechtem Ruf bezeichnet. „Als kluger Vogel bewundert, als Galgenvogel verschrien, als Göttervogel verehrt und als Schädling verfolgt.“
 
Die Ausstellung ist klein, vielfältig und fein. Sie lädt zum Verweilen ein. Auch die Verwandten der Rabenkrähen sind da zu bewundern (Elstern, Eichelhäher, Tannenhäher, Dohlen). Und hier ist es möglich, die seltene Alpenkrähe mit dem roten und die Alpendohle mit dem gelben Schnabel von einander zu unterscheiden. Die ganze Krähengesellschaft ist versammelt und ihre Rufe und Schreie ab Band zu hören.
 
Ich habe wieder einmal erlebt, wie ergiebig ein Ausstellungsbesuch ist, wenn konkrete Fragen auf Antworten warten. Und wie das Verständnis wachsen kann, wenn wir uns in ein Thema einlassen. Es wird in der Ausstellung auch auf die Gründe für die Konflikte mit diesen Vögeln hingewiesen. Die vom Zürcher Tierschutz herausgegebene Broschüre „Krähenvolk. Eine Lanze für Verfemte“ weist schon im Titel darauf hin, dass ein Umdenken von uns Menschen nötig ist.
 
Die Ausstellung im Naturmuseum in Solothurn ist bis 5. Oktober 2008 zu sehen.
Öffnungszeiten Dienstag bis Samstag 14‒17 Uhr, Sonntag 10‒17 Uhr.

Donnerstag, 3. Juli 2008

Die Natur als Lehrmeisterin: Risse im Holz, Risse im Leben

Letzte Woche traf ich zufällig auf einen ehemaligen Nachbarn von Zürich-West. Wir plauderten, und beim Adiö-Sagen fragte er mich, welche Blumen ich am meisten liebe. Er möchte mir an den neuen Wohnort Blumen schicken. „Natürliche Blumen, nichts Pompöses, nichts Künstliches!“ Da seufzte er. Er sagte dann, es könne schon eine Weile dauern, bis ich sie erhalte.
 
Gestern besuchten uns Freunde und brachten die Symbole Brot und Salz in die neue Wohnung, damit uns diese Grundnahrungsmittel nie ausgehen würden. Und dazu gehörte auch ein kleines Blumenarrangement putziger Art. Geschniegelt und zu einer Kuppe gebunden und aus der Mitte herausragend eine stramme Kornähre.
 
Solche Gebinde erwecken mein Mitleid. Die individuellen Naturen der Blumen werden nicht berücksichtigt. Sie sind in ein enges Korsett gebunden und müssen am Platz bleiben, weil sonst die Gesamtform zerfallen würde. Meist lasse ich ein solches Geschenk einen Tag und eine Nacht so stehen. Dann aber löse ich die Schnur oder die Stengel aus dem Kunststoffmaterial, in das sie gesteckt worden sind. Und ich stelle die Blumen in eine Vase, gerade so, wie ich es als Kind mit den Blumen aus der Wiese gemacht habe. Da kann ich dann rasch feststellen, wie sie sich ganz persönlich entfalten. Von der Kuppe ist sofort nichts mehr zu sehen. Die Natur darf sich zeigen, wie sie ist. Das Zusammenspiel von Blumen verschiedenster Art und Herkunft wird zur Augenweide. Der Bezug zu uns Menschen ist naheliegend. Auch wir brauchen einen persönlichen Freiraum, um die Talente einzubringen, die in uns stecken.
 
Floristinnen und Floristen mögen mir verzeihen, dass ich ihrer Blumenbindekunst kritisch gegenüberstehe.
 
Ähnliche Erfahrungen machte ich vor Jahren mit Holz. Primo brauchte für einen grossen Auftrag Akazienholz. Wir konnten es in Norditalien finden. Seine Freude war gross. Farbe und Struktur für ihn eine Entdeckung. Sobald dieses im Süden gewachsene Holz in Zürich eintraf, wurde es aufgeschnitten und gehobelt. In seiner Begeisterung wollte es Primo sofort mit anderen Hölzern kombinieren. Er fügte einen Akazien-Abschnitt von 5 x 7 cm mit 2 anderen, etwa gleich grossen Hölzern zusammen und umfasste das Gebilde mit einem 7 mm breiten Rahmen aus Birnbaumholz. Die Akazie durfte Mittelpunkt sein. Links und rechts je ein Obstbaumholz, abgetrennt mit einem dunklen Nussbaum-Furnier, der das südliche Holz noch mehr herausheben sollte. Dieses dreiteilige Objekt schenkte er mir als schöne Erinnerung an eine spannende Holzsuche im südlichen Nachbarland. Ich freute mich.
Die Signatur im Rahmen und das Datum 15-7-81 informiert über das derzeitige Alter dieses Objekts. Beinahe 27 Jahre. Schon bald nach der Herstellung zeigte sich ein Riss im Bereich des dünnen Nussbaum-Furniers, und wir verstanden den Wink. Es waren da drei verschiedene Hölzer, an verschiedensten Orten aufgewachsen, verschieden lange gelagert, verschieden ihre innere Feuchtigkeit, rücksichtslos zusammengefügt worden. Der Birnbaum-Rahmen, der sich bis heute als unverrückbar erweist, wurde für die Hölzer zu einem Gefängnis, die Spannung so gross, dass sie das Holz zerriss. Durch den Spalt kann mittlerweile ein 10-Rappenstück mühelos durchgeschoben werden. Es war eine Lehre fürs Berufsleben. Der Schreiner muss darauf achten, dass er in seinen Konstruktionen dem Holz immer einen gewissen Bewegungsraum zugesteht, damit es schwinden und wachsen kann.
 
Dieses kleine Objekt zeigte ich Mitte Juni in der Gruppe „60 plus“  im Kreis 5 der Stadt Zürich, als Primo und ich eingeladen waren, einen so genannten „kleinen Kulturtag“ zum Thema „Holz und Papier“ zu gestalten.
 
Dass Spannungen zu Rissen führen, verstanden die Anwesenden, als ich mein hölzernes Schaustück zeigte. Als ich dann auf den Rahmen als eine strenge Ordnung verwies, ging ein Raunen durch die Zuhörenden, wie man es nicht oft erlebt.
 
Spannungen aushalten müssen wir alle. Wenn aber das Mass die innere Flexibilität übersteigt, dann gibt es Risse. Dort wo wir am schwächsten sind. Unsere Ordnungen sollten so eingerichtet sein, dass sie einen minimalen Bewegungsraum ermöglichen. Auch Menschen wachsen und schwinden.
 
So erteilt die Natur ihre Lehren. Alles Lebendige braucht einen gewissen Spielraum. Auch wir Menschen in unseren Beziehungen, im Staat, am Arbeitsplatz, auch innerhalb der Religion, aber ganz speziell im eigenen Denken.

Sonntag, 22. Juni 2008

Velomechaniker und Coiffeur: Unverzichtbare Dienstleister

Vorgestern habe ich mein Velo zur Revision zu „meinem“ Velomechaniker nach Zürich-Wipkingen gefahren und mich dabei gefragt, wo ich es einmal flicken lasse, wenn es nicht mehr fahrtüchtig sei. Von der Bernoulli-Siedlung in Zürich-West aus konnte ich das Rad problemlos in seinen Herstellungs-Stall bringen. Zu Fuss. Von Zürich-Altstetten her wäre das anstrengender. Der Weg würde gewiss eine Stunde beanspruchen. Im Notfall nähme ich ihn selbstverständlich in Kauf. Ich wurde immer sehr gut bedient. Solche Beziehungen sind viel Wert, können aber nach einem Wohnungswechsel plötzlich unerreichbar werden.
 
Besser sind die Aussichten, dem Coiffeur treu zu bleiben. Auch auf diese langjährigen Dienste möchte ich nicht verzichten. Im beinahe spartanisch eingerichteten Geschäft von Herrn S. fühle ich mich wohl. Hier ist alles echt. Es wird keine Glamourwelt vorgetäuscht. Und der Mann, der Haare schneidet oder solche färbt, ist ein Künstler. Trotzdem kann er gut auf Wünsche eingehen, will nicht nur seine Vorstellungen umsetzen. Bewundert wird er auch, wie er sich kleidet. Farben und Formen sind ihm wichtig, und er setzt voraus, dass sie es auch für die Kunden sind. Bevor er zu schneiden beginnt, hält er einem eine Beige verschieden farbige Umhänge hin. Die Kunden dürfen wählen, wie sie sich 3/4 Stunden lang im Spiegel anschauen wollen.
 
Gestern habe ich einen cremefarbenen Stoff mit einem eingewobenen Streifenmuster gewünscht. S. kommentiert die Wahl manchmal. Diesmal nicht. Er schien mir aussergewöhnlich schweigsam, schon als er mich begrüsste. Da beschloss ich, auch stille zu sein. Sonst lachen wir gerne miteinander. Er hatte gerade 2 Schnitte in mein Haar gemacht, als sich die Tür öffnete und eine Frau eintrat. S. ging zum Kalender, kehrte zurück, schnitt weiter. Ich fragte sofort, ob etwas nicht in Ordnung sei. Er schien irritiert. Ja! Stimmen die Termine nicht? Ja! Der meine vielleicht? Ja! War er darum schon bei meinem Eintritt beunruhigt, weil er eine andere Person erwartete?
 
Hoppla. Ich sei auf 16 h eingetragen. Ich könne den Sessel sofort räumen und in einer Stunde wieder kommen, offerierte ich. Da war er erleichtert und die eben erschienene Kundin auch. Ich erinnerte mich, dass es schwierig war, einen Termin zu bekommen. Aber wo der Fehler lag, war jetzt nicht wichtig. Wir vergeudeten keine Zeit, um das herauszufinden. Ich wusste schon, wie ich diese Zwischenstunde verbringen konnte und räumte den Platz. Herr S. versicherte mir noch, dass die paar Schnitte im Haar nicht ersichtlich seien.
 
Punkt 16 h war ich zurück und erlebte gerade mit, wie sich die Kundin erhob und die Dienste bezahlte. Als sie mich sah, fischte sie aus der Tiefe ihrer Einkaufstasche ein Stück Lavendel-Seife „Saponet Natura“ aus Indemini im Tessin und dankte mir, dass ihr Coiffeur-Termin eingehalten werden konnte. Damit bewies sie mir, dass sich in Herr S. Geschäft vornehmlich Kunden einfinden, die wie er alles Naturbelassene lieben. Da gehöre ich ja auch dazu.
 
Dann konnte ich mich setzen. Erstaunlicherweise wurden mir die Stoffumhänge jetzt nicht zur Auswahl präsentiert. Er wählte. Rot! Galt es ihm oder mir? Ich vermute: Uns beiden!
 
Informationen über die Seifen-Herstellung in Indemini: www.seifen-handwerk.ch

Montag, 16. Juni 2008

Zufallsgeschichten vom Stadtrand Altstetten-Schlieren ZH

Samstagmorgen. Ich verlasse das Haus etwas nach 8 Uhr. Es ist erstaunlich still. Wohltuend. Wieder einmal fühle ich mich in Zürich-Altstetten in den Ferien. Heute ist es besonders ruhig. Die Festfreudigen der Fussball-Euro2008 können ausschlafen. An vielen Häusern hängen locker verstreut Flaggen europäischer Nationen. Es ist windstill. Es bewegt sich nichts. Auch die Bäume stehen stoisch da. Am Himmel hängen flockige Wolken, die sich noch auflösen werden. Ein Flugzeug überfliegt, angenehm hoch, unser Wohngebiet. Ich bin allein unterwegs.
 
Ich fahre mit dem Velo zum Bauernhof am Pestalozziweg und hole Milch. Wenn ich die Stadtgrenze erreicht habe, denke ich jedesmal an Lisbeth. Sie wohnt in Schlieren, unten im Limmattal. Sie spricht vom „erlösenden Moment“, wenn sie hier oben angekommen ist und die Hektik der Stadt zurücklassen kann. Hier atmet das Leben anders. Die Luft ist frisch. Und das Land gehört der Landwirtschaft. Keine Architektur stört das Landschaftsbild. Hier darf die Erde Lebensnotwendiges hervorbringen.
 
Kurz bevor ich zum Pestalozzi-Hof abbiege, werde ich auf einen Mann aufmerksam. Er schläft am Rand des Kornfelds auf jener Bank, die schon manche Wanderer ausruhen liess. Zusammengekauert liegt er da, atmet ruhig, wird vom Erlebten träumen und die Emotionen verarbeiten. Auch er war mit dem Rad unterwegs. Dieses ist gesichert, an der Bank gut angebunden. Die um die aufrechte Sattelstange am Velorahmen befestigte Flagge weist ihn als Franzosen oder Fan der französischen Nationalmannschaft aus.
 
Tief versunken schläft er. Daunenjacke, Sonnenbrille und Filzhut und seine Eigenwärme schützen ihn. Und doch ist er in meinen Augen schutzlos und ausgeliefert, solange er schläft. Woher kam er? Wohin muss er noch zurückkehren? Hatte er den Match Frankreich gegen Holland miterleben wollen, der im Stade de Suisse Wankdorf Bern ausgetragen worden ist? Meine Fragen bleiben unbeantwortet. Ich fahre heim, mache mir keine Sorgen um ihn.
 
Auf dem Rückweg erledige ich noch Einkäufe bei Coop am Suteracher. Als ich diese nach der Kasse einpacke, bemerke ich eine Frau meines Alters, die meldet, seit sie hier gewesen sei, fehle ihr das Portemonnaie. Sie zeigt 2 Tafeln Schokoladen, die sie vor wenigen Minuten hier bezahlt habe. Die kleine Tasche für den Hausschlüssel und das Portemonnaie hält sie in Händen. Der Geldbeutel fehlt.
 
Das Personal kann ihr nicht helfen. Das Fach, wo die Funde aufbewahrt werden, ist leer. Diebstahl? In solchen Augenblicken ist das immer die nächstliegende Frage.
 
Zusammen verlassen wir den Laden. Plötzlich fällt mir auf, wie sich der Stoff im Umfeld ihrer Manteltasche wölbt, und ich frage sie, ob das Portemonnaie vielleicht da drinnen sei. Oh ja! Nun ist die Ordnung wieder hergestellt. Alle Verdächtigten sind entlastet. Und das Personal ist über den Fund erfreut.
 
Ich bin über mich selbst erstaunt, dass ich so etwas bemerkt habe, weiss aber, dass die Frau auch ohne mich, spätestens dann zu Hause, ihr Portemonnaie wieder gefunden hätte.
 
Und jetzt hoffe ich noch, dass der Franzose ausgeruht aufgewacht ist, alle seine Habseligkeiten vorgefunden, und die Heimreise frisch gestärkt angetreten hat und hoffentlich unversehrt bei sich zu Hause angekommen ist.
 
Dann sind wir alle wieder an unseren Plätzen. Die Dinge und die Menschen auch.

Montag, 9. Juni 2008

Woher kommen die Inspirationen die Blogatelier-Beiträge?

Was inspiriert zu Blogs? So werde ich öfters gefragt. Eine einheitliche Antwort gibt es selbstverständlich nicht. Am 5. Juni 2008 verlief das so: Ich verabschiedete mich für eine kleine Reise nach St. Gallen. Da wünschte mir Letizia lustige Erlebnisse in der Bahn, damit ich darüber schreiben könne.
 
Ich fuhr in Zürich weg, als die Pendler schon an ihren Arbeitsplätzen eingetroffen waren. Es war still im Bahnwagen, in dem ich meinem Ziel entgegenfuhr. Es regnete. Die Landschaft trank das frische Wasser, und darum strahlten die Wiesen trotz dunklem Himmel frisch grün. Weder sah ich etwas aufregend Schönes noch ergaben sich Gespräche. Es war „nur“ eine meditative Zeit für mich. Auch das Säntis-Massiv durfte ich heute nicht entdecken.
 
In St. Gallen erwartete mich Rosmarie, die ich in jungen Jahren in Paris kennen gelernt hatte. Wir hatten uns viele Jahre aus den Augen verloren. Nur dank der Zeitschrift „Natürlich“, damals noch von Walter Hess redigiert, fand sie mich wieder. Sie hatte ein Foto von mir entdeckt und meldete sich sofort. Seither ist der Kontakt wieder da, und ich bin dankbar dafür. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass wir einander nach langer Zeit erzählen können, wie gemeinsame Erlebnisse in der Fremde wirkten und bis heute als kostbare Erinnerungen gehütet werden.
 
Rosmarie informierte mich gleich nach der Ankunft, heute sei ein besonderer Tag. Der 5. Juni 2008? Am 05.06.1958 sei sie in Paris eingetroffen. Auch sie fand eine Anstellung in einem kaufmännischen Betrieb, wo sie ebenfalls als Stagiaire angestellt wurde. Der heutige Tag also eine Art Jubiläum. Vor 50 Jahren lernten wir uns im „Schweizerischen Kaufmännischen Verein“ in Paris kennen. Wir besuchten die gleichen Sprachkurse, die dort von französischen Lehrpersonen erteilt wurden.
 
Hier in St. Gallen gab es wieder viel zu erzählen. Auch ihr humorvoller Ehemann beteiligte sich daran. Zum Abschluss entführte mich Rosmarie noch auf die Anhöhe, wo sich die Dreilinden-Weiher befinden, die zu den schönsten Naturbädern der Schweiz gehören. Und von dort aus konnte ich erstmals die Ausmasse der Stadt St. Gallen überblicken. Eine echte Horizonterweiterung.
 
Auf der Rückfahrt, kurz vor Zürich, dachte ich, Letizias Wunsch habe sich nicht erfüllt. Auch auf dieser Fahrt fing ich nichts auf, worüber es sich zu berichten lohnen würde.
 
Dann, in der S-Bahn ab Zürich-Hauptbahnhof nach Zürich-Altstetten, sass mir ein verliebtes junges Paar schräg gegenüber, das ich nicht übersehen konnte. Die beiden strahlten. Es gab nur ihre Welt. Es sah aus, als ob sie von einer einzigen goldenen Aura umgeben wären. Da hörte ich die junge Frau fragen: „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Rabe und Krähe?“ Der Mann überlegte nicht lange und sagte: „Krähe nennen wir den Raben im Dialekt. Rabe heisst der Vogel in der Schriftsprache.“
 
Die Stirn der Frau runzelte sich. Sie fragte weiter, warum wir denn nur von Raben- und nicht auch von Krähenmüttern sprächen. Der Mann fühlte sich ertappt, hatte zu schnell einen Schluss gezogen, aber er lachte und war offensichtlich fasziniert, wie die Frau einer Sache auf den Grund ging. Leider war ich da schon in Altstetten angekommen und konnte ihren Gedanken nicht mehr weiter folgen. Ich nahm mir aber vor, zu Hause in einem dafür zuständigen Lexikon nach einer sanktionierten Antwort zu forschen. Dort wurde ich fündig. Krähen seien „mittelgrosse Raben“ heisst es im „Deutschen Wörterbuch“ von Gerhard Wahrig.
 
Anderntags wartete Primo mit einer Rabengeschichte auf. Er erzählte, dass er früh morgens vom Küchenfenster aus einen Raben beobachtet habe, der ein kleines, seltsames Gefährt auf der Wiese vor unserer Wohnung vor sich herschob. Es war aber ein Igel, den er verscheuchen wollte. Auf ihn einhackend, aber ihn doch nicht berührend, schickte er ihn heim. Primo schaute lange zu und weiss jetzt, wo der Igel wohnt.
 
Und ich möchte jetzt noch wissen, ob es sich bei den Vögeln, die sich täglich vor unseren Augen tummeln, auch wirklich um Raben handelt und nicht um Krähen. Danke der jungen Frau für ihre Anregung, Antworten immer noch zu überprüfen. Auch ich ziehe manchmal zu schnell einen Schluss.

Samstag, 31. Mai 2008

Vor 100 Jahren gab es noch keine Zahnpflege-Anleitungen

Besuch beim Zahnarzt, ganz genau gesagt bei seiner Dentalhygienikerin. Wie üblich, gehe ich mit gemischten Gefühlen an diesen Ort und bin dann jeweils erleichtert, wenn ich ohne zahnärztliche Zusatzbehandlung wieder entlassen werde.
 
Diese Reinigungs-Prozedur, die jeweils gute ¾-Stunden dauert, bringt mir jetzt sogar eine gewisse Entspannung. Das war nicht immer so. Weil mich aber immer die gleiche Angestellte behandeln kann, gewöhnten wir uns aneinander. Es entwickelte sich Vertrauen.
 
So lag ich vorgestern einigermassen entspannt auf dem Behandlungsbett, und während Frau V. nach Anzeichen von Zahnzerfall forschte, erinnerte ich mich plötzlich an meine Mutter. Sie wuchs mit 8 Geschwistern im Zürcher Oberland auf. Die Verhältnisse waren bescheiden. Zahnpflege war da kein Thema. So konnte sich die Karies unbeobachtet ausbreiten, und als Mutter 20-jährig war, wurde ein Gebiss fällig. Damals nichts Aussergewöhnliches. Man schrieb das Jahr 1932. Es soll sich in jenen Jahren sogar die Gewohnheit entwickelt haben, den jungen Frauen vor der Hochzeit die Zähne zu ziehen, damit der Ehemann keine Kosten für zukünftig anfallende Zahnbehandlungen befürchten musste. Im Elternhaus meiner Mutter dachte man aber nicht so. Die Zähne waren einfach schon alle angegriffen. Und das leidige Zahnweh sollte unterbunden werden.
 
Mit einigen anderen jungen Frauen fuhr Mutter dann von Wald ZH über Rüti ZH und Rapperswil SG ins glarnerische Mollis, wo ihr alle oberen Zähne, einer nach dem andern und ohne die geringste Betäubung, gezogen wurden. Mutter fiel in Ohnmacht, wie andere auch. Im Laufe des Tages, nachdem alle behandelt worden waren, kehrten sie dann in ihr Dorf zurück.
 
Immer wenn uns Mutter diese Ohnmachtsgeschichte erzählte, fühlte ich ihre Ängste mit und hoffte, dass ich so etwas nie erleben müsse. Heute hätte ich dazu noch einige Fragen, die mir damals nicht in den Sinn gekommen sind: Wer organisierte solche Reisen nach Mollis? Wie stärkten sich die jungen Frauen unterwegs? Was konnten sie nach der „Rosskur“ noch essen? Wer bezahlte die Kosten der Bahn und die Rechnungen des Zahnarzts? Was hatte das überhaupt gekostet? Das müssen Riesenauslagen gewesen sein. Konnten sie einen Kredit aufnehmen? Aber, wer lieh solch Minderbemittelten überhaupt Geld ohne Garantie, dass dieses je zurückbezahlt werde?
 
Mutter arbeitete damals als Weberin in einer Fabrik. Ich vermute, dass sie sich diese grosse Auslage selber erspart hatte. Sie konnte gut mit Geld umgehen, auch sparen, ohne geizig zu sein. Aber kurz vor der Heirat, als sie das Geld für eine Wäsche-Aussteuer, es waren 600 Schweizer Franken, beisammen hatte, ging ihre Bank in Konkurs. Alles war verloren.
 
Auch das Gebiss hatte noch seine Geschichte. Es war von tadelloser Qualität, hielt viele Jahre, doch eines Tages brach es entzwei. Mutter kaufte sich den Alleskleber „Cementit“ und flickte es. Lange hielt ihr Werk aber nicht. Erneut brach es auseinander. Ich beobachtete, wie bekümmert sie war. Ich weiss nicht, wie sie es dann anstellte, um doch noch ein neues Gebiss zu bekommen.
 
Bevor mich Frau V. aus der Zahnpflege entliess, erzählte ich ihr noch die hier eben beschriebenen Gedanken. Sie ist jünger als ich, konnte den Beruf als Dentalhygienikerin erlernen, als er neu geschaffen wurde. Sie dachte sofort an die vielen Präzisions-Werkzeuge und Hilfsmittel, die ihr heute zur Verfügung stehen und die es damals noch nicht gegeben hat. Unvorstellbar für sie, wie grob die Menschen damals behandelt worden sein müssen. Und ohne Betäubung, dünkt mich, muss eine solche eine Art Vergewaltigung gewesen sein. Sie mussten viel mehr aushalten als wir heute, war unsere abschliessende Meinung zu diesem Thema. Und waren darum auch stärker als wir es heute sind.
 
Aber Mutters Ohnmacht drückt noch etwas anderes aus. Sie war „ohn Macht“, musste einfach alles geschehen lassen.

Samstag, 24. Mai 2008

Schon spüre ich, wie am neuen Ort die Wurzeln wachsen

Eine Bekannte bemerkte, ich hätte mich offensichtlich schon gut umgestellt und eingelebt. Diese beiden Worte gefallen mir. Besonders das Wort „umgestellt“ bezeichnet meine Situation sehr präzis. Es beinhaltet sowohl den Umzug als auch die Gestaltung eines neuen Zuhauses, und dazu noch innere Umstellungen, die mein neues Umfeld bedingen.
 
Dazu gehören auch neue Geräusche und Klänge, die mir anfänglich ganz stark aufgefallen sind. Da war zum Beispiel das Morgenläuten der kleinen evangelischen Kirche am Suteracher ein Novum für mich. Punkt 7 Uhr läutet die kleine Glocke und manchmal Sekunden genau ertönen Hammerschläge, die den Arbeitstag auf ihre Weise einläuten. Es wird ein grosses Nachbarhaus renoviert. Noch ist es ausgehöhlt. Alle Geräusche, die Stimmen und der Lärm von Hammer, Bohrer und Säge klingen wie aus einem Instrument heraus und sind auf ihre Art Melodie. Ich weiss es schon jetzt: Dieses Zusammenklingen von Befehlen und Arbeitslärm wird mir fehlen, wenn das Haus umgebaut ist. Es sind keine Maschinengeräusche, die ich wohlwollend wahrnehme. Hier sind starke Männer am Werk. Ihren Stimmen und Namen nach Menschen aus dem Süden.
 
Manchmal zwinge ich mich jetzt richtig, den 7-Uhr-Augenblick bewusst zu erleben, um ihn nicht zu verpassen. Ich bin schon daran gewöhnt.
 
Eine andere Umstellung betrifft den Garten, der nun auf Souvenirs reduziert worden ist.
 
Nachdem uns die neue Wohnung zugesprochen worden war, bemühten wir uns als erstes um Blumenkisten für den langen Balkon. Dann gruben wir aus dem bisherigen Garten Pflanzen aus, ebenso etwas Erde und führten diese an unseren neuen Wohnort. Ich erinnerte mich dabei an Königstöchter aus früherer Zeit. Wenn sie in ein fremdes Land verheiratet wurden, sollen sie unter dem Brautkleid ein Säcklein Heimaterde mitgebracht haben.
 
In diesem Sinne pflanzten wir allerlei, unter anderem 2 Nachtkerzen, Farn, Akelei, roter Mohn, Maierisli (Maiglöckchen), Löwenmaul, auch Schöllkraut. Dominant präsentiert sich heute die Hexenblume, so der Name, den wir ihr vor langer Zeit verpasst haben. Sie wanderte aus dem uns gegenüber liegenden Bernoulli-Garten ein und breitete sich selbstbewusst aus. Wir kennen ihren Namen nicht, haben es verpasst, danach zu fragen, als Herr Senn noch lebte. Oft habe ich bemerkt, dass sich Blumen an ihrem selbst gefundenen Platz besser entwickeln als an Orten, die wir Menschen ihnen zuweisen. Diese erwähnte Hexenblume verbreitete sich rasch, aber nicht rücksichtslos. In freundschaftlicher Art durfte das Schöllkraut die Abgrenzung zur Wiese hin gestalten. Es entstand ein liebliches, natürliches Feld, zu dem auch drei Büsche gehören. Blumenfeen habe ich noch nie gesehen, aber hier konnte ich sie spüren. Ich habe meine Nachbewohnerin darauf aufmerksam gemacht. Ich glaube, sie hat mich verstanden. Sie wird diesem Platz Sorge tragen. Der Ort strahlt etwas Liebenswürdiges aus und strotzt vor Lebensenergie.
 
Es schlummerten auch andere Samen in der mitgebrachten Erde, wie es sich jetzt zeigt. Es blühen z. B. schon Monatserdbeeren, ein paar Grashalme haben sich entwickelt und heute habe ich Weideröschen entdeckt.
 
Alle diese Gewächse haben eine lebhafte Silhouette geschaffen, die wir beim Eintritt in die Stube sofort wahrnehmen. Sie nehmen sich ihren Platz und Raum und zeigen uns, dass sich das Lebendige nie um die gerade Linie kümmert. Im Augenblick verzaubert uns die Akelei-Gruppe mit einem 85 cm hohen Anführer. Im Grunde sind unsere Blumenkisten eine ganz bescheidene Anlage und doch auch eine sich ständig verändernde Pracht.
 
Innerhalb des Hauses habe ich mich in meinen Vorstellungen eine Zeit lang ganz anders verhalten und mich von Publikationen verführen lassen. In meinen Gedanken gestaltete ich Bad und Toilette farblich wie nach einem gerade aktuellen Einrichtungskatalog. Ich meinte, jetzt wäre es günstig, diesen Räumen eine einheitliche Farbe zu verpassen. Wie langweilig! denke ich heute. Ich dachte schon daran, alle vorhandenen Textilien zu ignorieren und neu eine bestimmte Farbe einzuführen. Da hätte ich allerlei fortwerfen müssen. Und das wollte ich dann doch nicht. Glücklicherweise, sage ich jetzt. Jedes Stück hat doch seine Geschichte, ist im Laufe des Lebens zu uns gekommen und immer noch nützlich. Und es hat Farbe in unser Leben gebracht. Farbe, die auch immer wieder wechselt. Oft, wenn ich ein Hand- oder Badetuch benütze, kommt mir die Geschichte dazu in den Sinn.
 
Daran freue ich mich noch. Aber mit Mass. Ich kenne jetzt die Leichtigkeit nach dem Umzug. Diese möchte ich mir bewahren und nichts mehr anhäufen.