Montag, 31. März 2014

Lang Holz aa! Bäume und Holz: nicht nur Werkstoffe

Gerade als ich auf die Werkstatt zuging, fuhr ein Lastwagen hinter mir her. Er überholte mich. Die Fahrbahn zwischen Häuserzeilen und einer Hochhausbaustelle verlangt hier von jedem Chauffeur volle Konzentration. Er hielt sein Gefährt an. Ich erwartete schon etwas Ungeduld, weil vor dem Werkstatteingang ein fertig gestellter Esstisch stand. Primo wollte ihn noch fotografieren, bevor er abgeholt wurde. Der Chauffeur stieg aus seinem Gefährt, gab sich als „ursprünglich auch Schreiner“ zu erkennen. Er wollte den Tisch bewundern, rief schon, als er aus dem Auto stieg: „Eine solche Arbeit möchte ich auch einmal gemacht haben!“

Wir erlebten in diesem Augenblick sein Heimweh nach dem handwerklichen Beruf. Er strich über die Oberfläche, als wollte er das Material liebkosen. Diese Berührungen – Primo nennt sie gern haptisch – erlebten wir früher oft, als noch in der grossen Werkstatt gearbeitet wurde. Die Kunden fühlten sich angezogen einerseits von der Schönheit des Holzes, aber auch vom Duft im Umfeld der Hobelmaschine. Sie schauten, berührten das Holz, manchmal fast traumwandlerisch. Und wühlten in den Hobelspänen.
 
Von einer mit uns befreundeten Schreiner-Familie im Engadin (Kanton Graubünden) erhielten wir zu Weihnachten einen Stern und eine Packung Hobelspäne – beide aus Arvenholz. Diese Späne bestimmen auch nach 3 Monaten immer noch das Raumklima unserer Stube mit. In einer offenen Schale liegend, verströmen sie ihr unvergleichlich starkes Aroma. Manchmal halte ich die Schale vors Gesicht und atme den Duft genüsslich ein.
 
Dem Holz wird auch eine Schutzfunktion nachgesagt. Ich beobachte schon lange, dass im Holz eine geheime, ausgleichende Kraft leben muss. Es ist fähig, die Menschen friedlich zu stimmen und die Gesundheit zu unterstützen. Und es fängt, besonders wenn der Innenausbau oder Möbel aus Nadelholz geschaffen worden sind, Lärm auf. Es schluckt ihn. Es schwingt. Und andererseits ist ein Glaube mit dem Holz verbunden, dass es vor Unglück schützen könne. Einige mögen diese Aussage als Aberglaube schlecht machen. Wahr ist aber, dass immer noch viele Menschen in unserer Gegenwart rufen Lang Holz aa! (Berühre Holz!), wenn sie sich vor Unbill schützen wollen. Immer dann, wenn sie eine sehr gute Nachricht ausgesprochen haben und verhindern wollen, dass diese ins Gegenteil kippt.
 
Es freute mich darum, als ich in der Sonntagszeitung vom 23.03.2014 las, dass der CEO der Edelweiss Air (Schweizerische Fluggesellschaft) diesen Ausspruch verwendete, als er in einem Interview davon sprach, dass sie seit der Gründung 1995 keinen Unfall habe beklagen müssen. Auch er wollte offensichtlich das Schicksal nicht herausfordern und fügte an: Holz aalange! Solche Menschen sind mir sympathisch.
 
Gefreut habe ich mich dieser Tage auch, als ich eine Kolumne von Glennyce Eckersley las, einer Autorin, die spirituelle Geschichten verfasst. Dabei fand ich eine Erklärung zum obigen Thema. Sie berichtete, im Mittelalter sei es üblich gewesen, sich an die Naturgeister zu wenden, um Unglück abzuwehren. Dreimal auf den Stamm eines Baumes klopfen, bedeutete um Hilfe rufen. Wurde die Bitte erfüllt, kam man später zum Baum zurück und klopfte noch einmal auf den Stamm, um zu danken.
 
Holz wird von Primo täglich berührt, ohne dass er um Hilfe ruft. Vielleicht spüren Bäume und Holz seine Faszination ihnen gegenüber. Manchmal denke ich, es sei eine echte Liebesbeziehung mit viel Verständnis für einander. Er bewundert sie, spielt mit ihren Farben und Formen, und sie machen mit, weil er ihre Schönheit ans Licht bringt.

Mittwoch, 19. März 2014

Regie führte die Natur: Spässchen in der Blumenkiste

Irgendwann im Herbst 2012 stellte jemand eine mit Erde gefüllte Eternitblumenkiste auf die Holzbeige neben dem Werkstatteingang. Wahrscheinlich wurde sie lange nicht beachtet, denn rund um diesen Ort wird gebaut. Und oft werden ausgediente Dinge einfach irgendwo entsorgt.
 
Im Mai 2013 entdeckte Primo darin eine heranwachsende Pflanze. Er hatte sie weder gesät noch gesetzt. Er wusste nicht, wer sie war. Sofort freundete er sich mit ihr an und sorgte dafür, dass sie genügend Wasser bekam. Der Ort war günstig für sie. Sie profitierte von der Mittagssonne und von der abstrahlenden Wärme der Hausfront.
 
Dann berichtete er eines Tages, dass ein kleines, weiss-gelbes Stiefmütterchen erblüht sei. Er freute sich enorm. Und bemühte sich wahrscheinlich, noch zuverlässiger für ein feuchtes Erdreich zu sorgen. Und bald danach berichtete er wieder überrascht, dass nun insgesamt 12 Stiefmütterchen zu bewundern seien. Zuerst dachte ich, die Zahl sei wohl übertrieben. Ich müsse in die Werkstatt kommen, um diese Pracht zu sehen. Da war ich dann auch ergriffen.
Unsere Freude hiess sie willkommen. Sie müssen diese gespürt haben. Sie entfalteten sich grossartig und wurden dementsprechend auch von Passanten und Kunden wahrgenommen. Es fehlte ihnen nichts. Waren die Sonntage sommerlich heiss, besuchten wir unsere Blumengäste am Abend und wässerten sie. Was sie an Kraftnahrung brauchten, holten sie sich selber aus dem Erdreich in der Kiste. Erstaunlich ihre Leistung!
 
Anfangs Oktober fotografierte ich sie für eine Abschiedsbild. Viel zu früh. Andere Grünpflanzen, die sich ebenfalls in dieser Kiste eingenistet hatten, waren schon verdorrt. Und beeinflussten das Bild unserer Freunde. Auch ihr Absterben schien nahe.

Und wieder sorgten sie für eine Überraschung. Ein paar Wochen später meldete Primo, jetzt sei ihr Ende gekommen. „Sie sind vertröchnet“, meldete er. Und anderntags musste er diese Nachricht widerrufen. Die Blumen hatten ihre Blätter nur eingerollt, waren noch am Leben. Anderntags begrüssten sie Primo, der bei Tagesanbruch an ihnen vorbeikam. Sie schienen zu lachen. Sie hatten sich erneut geöffnet. Und Mitte Dezember blinzelte uns nochmals ein einzelnes Stiefmütterchen zu. Wir sind eben stark, schien es zu sagen. Auch winterhart, nennt man uns. Ihr werdet noch von uns hören. Einstweilen nur so viel: Wir sind nicht identisch mit den bösen Stiefmüttern in den Märchen.
 
Dann verdorrte auch dieses, schloss die Augen und ihre Ferienwohnung in der Blumenkiste wurde zum Friedhof.
 
Nun März 2014: Sie sind wieder da!

Mittwoch, 5. März 2014

Reisefüdli wird genannt, wer gern und oft unterwegs ist

Das Dialektwort Füdli steht für das schriftdeutsche Gesäss. In meiner Jugend wurde es vielfältig gebraucht. Trödelten wir bei einer Arbeit, hiess es manchmal: Lupf emal s Füdli!
Steh auf, mach vorwärts! Das Füdli wurde aber auch als eine Art Gefäss verstanden, in dem die Schulden versenkt oder unübersehbar viel Arbeit auf Erledigung wartete. Da hiess es dann: S Füdli voll Schulde oder s Füdli voll Arbet.
 
Ich beschränke mich in diesem Beitrag nun auf das Thema Reisefüdli. Dieses Wort ist gut verständlich, sitzen wir doch auf Reisen manche Stunde in der Eisenbahn, im Auto oder im Bus. Uf em Füdli.
 
Ich stecke gerade in einer neuen Vorfreude. Die Reise ins Gebiet der oberitalienischen Seen steht bevor. Immer wieder träumte ich davon, einmal dorthin zu kommen. Erster Anlass zu diesem Traum war Johanna Spyris Buch Heimatlos. Als wir 1971 ins Bernoullihaus in Zürich übersiedelten, fanden wir es auf dem sauberen Estrichboden. Die Hausbesitzer hatten es als Willkommgruss zurückgelassen und so signalisiert, dass hier unsere neue Heimat sei.
Es ist eine sehr alte Geschichte, 1878 im Verlag A. Weichert in Berlin erschienen. Der Text wurde noch in Frakturschrift gedruckt. Unsere Mädchen konnten ihn damals noch nicht selber lesen.
 
Er liess und lässt sich gut erzählen. Ricos Geschichte bewegte uns und bewegt mich immer noch. Wir litten mit dem Buben, der die Mutter und später auch den Vater verloren hat. Wir fühlten sein Heimweh, und wir fieberten mit, als er den weiten Weg von Sils Maria im Kanton Graubünden nach Peschiera am Gardasee in Italien antrat.
 
Seit 43 Jahren sitzt dieser Wunsch in mir fest, ebenfalls nach Peschiera zu kommen und das südliche Licht aufzunehmen. Blumen und Bäume zu bewundern, die nur im Süden gedeihen. Ich bin alt geworden, aber der Traum von dieser Reise lebt noch in mir, regt sich und signalisiert, er möchte endlich erfüllt werden.
 
In Ricos Leben spielte eine Geige eine grosse Rolle. Auf seiner Reise nach Hause, konnte er Mitreisende in der Postkutsche unterhalten und etwas Geld gewinnen. Nach der Schriftstellerei war ihm das fotografische, eidetische Gedächtnis angeboren. Wenn er zuschauen konnte, wie jemand geigte, konnte er das Stück gleich nachspielen. So will es die Geschichte, und so hörte ich es auch schon von zeitgenössischen Musikern. Das sind die wahren Talente.
 
Und gestern kam mir unerwartet ein altes Gesangbuch in die Hände. Ein Erbstück einer verstorbenen Tante, die viel mit uns gesungen hat. Ich blätterte darin und staunte. Da war mir, als würde mir Rico sein Lied singen. Ich kannte es nicht. Es wurde vermerkt, dass es gefühlvoll gesungen werden müsse. Und so empfand ich es, auch wenn ich nur den Text las.
 
Das arme Geigerlein, Komponist J. Gungl
 
Ich bin ein armer Musikant, wie ihrer viele sind, ich hab kein Haus, kein Heimatland, ich hab nicht Weib und Kind.
Ich sing und spiel vor mancher Tür wohl um mein täglich Brot, und reicht man eine Gabe mir, dann sag ich: Lohn es Gott!
 
Die einz'ge Freundin, die ich hab, ist hier die Geige mein, die zieht mit mir Welt auf, Welt ab in Sturm und Sonnenschein.
Und was mich quält und was mich freut, all' das vertrau ich ihr, und sie versteht mich jederzeit, sie lacht, sie weint mit mir!
 
Und wenn einst vor der letzten Tür' mein letztes Lied erklang, und wenn an meiner Geige mir die letzte Saite sprang:
Ach nur ein Plätzchen gönnt mir dann an stiller Friedhofswand, wo von der Wand'rung ruhen kann der arme Musikant!
 
Was kann ich da dazu noch sagen?
Dass ich mich darüber freue und es als gutes Omen für unsere Reise nach Peschiera verstehe. Aber ganz besonders auch darüber, was ich aus der Geschichte weiss, dass Rico die Schulfreundin und Nachbarin aus Sils Maria heiratete und sie nach Peschiera mitnahm.