Sonntag, 30. Dezember 2018

Jahres-Ausklang 2018

Ich denke über das auslaufende Jahr nach. Wie würde es meine Leistungen bewerten, wenn wir miteinander sprechen könnten? Was war das Schönste an ihm? Warum erlebte ich in den vergangenen Monaten oft schwierige Momente? Offenbar weil ich alt geworden bin.

Zufällig entdeckte ich in meiner Textsammlung «Das Gebet des älter werdenden Menschen». Ich weiss nicht mehr, wer mir dieses einmal zugespielt hat. Sehr alt dürfte dieser Text nicht sein. Er passt zum heutigen Denken und Leben.
Gebet des älter werdenden Menschen
O Herr, du weisst besser als ich,
dass ich von Tag zu Tag älter
und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung,
bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema
etwas sagen zu müssen.

Erlöse mich von der grossen Leidenschaft,
die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.
Lehre mich, nachdenklich –
aber nicht grüblerisch –,
hilfreich – aber nicht diktatorisch – zu sein.
Bei meiner ungeheuren Ansammlung
von Weisheit erscheint es mir ja schade,
sie nicht weiterzugeben – aber du verstehst, o Herr,
dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Bewahre mich
vor der Aufzählung endloser Einzelheiten
und verleihe mir schwingen,
zur Pointe zu gelangen.

Lehre mich schweigen
über meine Krankheiten und Beschwerden:
Sie nehmen zu – und die Lust, sie zu beschreiben,
wächst von Jahr zu Jahr.

Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen,
mir Krankheitsschilderungen anderer
mit Freude anzuhören, aber lehre mich,
sie geduldig zu ertragen.

Lehre mich die wunderbare Weisheit,
dass ich mich irren kann.

Erhalte mich so liebenswert wie möglich.
Ich möchte kein Heiliger sein –
Mit ihnen lebt es sich so schwer -,
aber ein alter Griesgram
ist das Krönungswerk des Teufels.

Lehre mich, an anderen Menschen
unerwartete Talente zu entdecken,
und verleihe mir, oh Herr, die schöne Gabe,
sie auch zu erwähnen.

Autorin: Teresa von Avila, 1515–1582
Wer glaubt das?
Nach dem Text müsste es sich um einen Mann handeln.
Siehe zweitletzter Abschnitt.
Trotzdem: originell, mit viel Wahrheit.

Montag, 17. Dezember 2018

Freude am Glockenklang von Zürich

Dass alle Kirchen der Stadt Zürich jeden Samstagabend um 19 Uhr gemeinsam den Sonntag einläuten, wusste ich lange nicht. Am Rande des Industriequartiers, wo ich aufgewachsen bin, hörten wir die gemeinsamen Klänge der katholischen und der protestantischen Kirche erst später, als die Katholiken die Samstags-Abendmesse einführten. Diese schenkte uns danach freie Zeit am Sonntag. Sie war sofort beliebt. Wie andere Kirchgänger aus unserem Umfeld ging auch meine Familie den halbstündigen Weg zu Fuss zur Kirche. Man traf sich zufällig unterwegs.

Auf dem Weg zur Messe am erwähnten Samstagabend machte uns der Vater eines Tages auf die gemeinsamen Glockenklänge aufmerksam. Wir seien jetzt zur rechten Zeit unterwegs, um das Zusammenspiel der katholischen und der reformierten Glocken von Zürich im gemeinsamen Spiel zu erleben. Hört gut hin, hiess es.

Kurz vor dem Escher Wyss Platz empfing uns dann das Geläute von St. Josef und einige Minuten später konnten wir auch die Klänge von der reformierten Johanneskirche erahnen. Die feierliche Stimmung, die Glocken auslösen können, bewegte mich damals und auch heute noch.

Als ich in Paris eine Französin kennen lernte, die kurz zuvor Zürich besucht hatte, sprach sie begeistert vom erlebten Samstagabendläuten in Zürich. Sie schilderte mir ihre Freude und wünschte sich, diese Klänge nochmals zu erleben. Und ich fühlte mich in diesem Moment unwissend, kulturlos. Ich war da schon 20 Jahre alt und noch nie zur rechten Zeit in der Innenstadt oder auf dem Lindenhof eingetroffen, um das Zusammenspiel aller Glocken zu hören.
Am vergangenen Samstag erlebten Primo und ich wieder einmal dieses Zusammenspiel verschiedenster Glockenklänge. Berührend heiter spielten die Töne. Anfänglich hell bis hinunter zu dumpfen, dominanten Klängen z.B. von der Peterskirche. Dieses Spiel dauerte nur 10 Minuten. Wir haben es voll ausgekostet. Es lag ein Zauber über uns. Die Nacht spielte mit, versteckte scheinbar ganze Orte, zeigte ihre Gassen nicht.
Und dann erwachten plötzlich weit zurückliegende Erinnerungen. Es meldete sich die Frage: Habe ich nicht vor Jahren einmal einen Beitrag zum Thema der Zürcher Glockenklänge geschrieben? — Ja! Stimmt! Nun füge ich den damaligen ausführlichen Bericht hier an. Er ist detailreicher als meine Worte von gestern.
23.7.2005: Ins Samstagabend-Läuten in Zürich eingetaucht

Freitag, 30. November 2018

Farben und Formen zum Herbstabschied

Bäume und Gingkoblätter am Boden
November, der in meinen Augen eher graue oder zumindest neblige Zeitabschnitt ist nicht nur düster. Wie jedes Jahr sorgt das Gingko-Baumpaar unweit von unserem Zuhause dafür, dass ihre gelben Blätter lange leuchten konnten. Zuerst am Baum selbst, dann auf der Wiese. Auch dort blieb den Blättern das leuchtende Gelb erhalten. Auch dort durften sie uns erfreuen. Ihr Fallen zerstörte ihr Wesen nicht. Auch am Boden durften sie leuchten und uns bezaubern. Ich habe viele der Blätter aufgehoben. Ihre Formen und Farben blieben ihnen erhalten. Für Abertausende solcher Blätter war der Fall auf die Wiese vielleicht ein grosser Spass. Ich habe etliche der Blätter aufgehoben. Keines war beschädigt. Ihr Leichtgewicht muss jeweils zur sanften Landung führen.
Bäume und ihr Umfeld
Der Gingko-Baum sei wahrscheinlich der älteste Baum der Erde. Schon Dinosaurier müssen von seinen Blättern gefressen haben. In China gelte er als Heilpflanze, seitdem er sich 1945 in Hiroshima als resistent gegen atomare Strahlung erwiesen habe, las ich in einem «Dokutipp» im «Tagesanzeiger.»
Von den Blättern von diesem Urbaum mit zusammengewachsenen Nadeln erzählte mir Primo schon früher. Wer diese Blätter betrachte, könne sich vorstellen, dass sich Nadeln und Blatt in Millionen von Jahren annäherten und sich nach und nach zum heutigen Baumblatt vereinten. Ich freue mich, dass ich die Nadeln im Baumblatt fotografieren konnte. Es liessen sich nicht alle gern abbilden.
verschieden zugefallene Blätter
Blätter einer Aspe
Blätter anderer Bäume in unserem Umfeld wirken auf den beiden Fotos abschiedlich. Sie verweisen auf den Zerfall und verweisen auf das menschliche Fallen, auf unseren Tod.
Auch wir verlieren vorher noch unsere Farben, unsere Schönheit und Vitalität.

Heute am 30.11. endet der November-Monat. Das Tor zum Dezember mit all seinen Lichtern, Liedern, Geschenken und Festfreuden öffnet sich.

Ich freue mich vor allem wieder auf die Weihnachtsbriefe mit den persönlichen Gedanken und der Verbundenheit mit Menschen, die mir nahestehen.

Samstag, 27. Oktober 2018

Der Marthaler Eichenhain

Im Marthaler Eichenhain aufgelesener Querschnitt-Schnipsel mit einem Teil der Jahrringe.
Aussen sieht man die Rinde. Der Radius im Kreisausschnitt lässt die Dicke des Baumes erahnen.
Wir waren in Ossingen angekommen. Das Postauto nach Andelfingen stand bereit, wie wenn es auf uns persönlich gewartet hätte.

Vorgesehen war eine Wanderung, doch als Primo das Postauto-Ziel entdeckte, wollte er sofort in diese Richtung reisen. Erstens sagte er dazu, der Name Marthalen erinnere an seine Mutter Martha und an diesem Ort hätten wir doch vor ungefähr 40 Jahren einen aussergewöhnlichen Eichenwald besucht. Den möchte er nochmals finden. Ja, ich konnte mich sofort daran erinnern und ging gerne mit.

Die Postautofahrt von Ossingen Richtung Andelfingen führte uns dann durch eine liebliche Landschaft, vorbei an gepflegten Orten. Eine Augenweide für unsereins aus der Stadt.

Marthalen empfing uns dann auf seiner modern verschobenen Bahnstation. Auf unserer Eichenwald-Suche kamen wir schlussendlich noch am alten Bahnhof vorbei. Ein Schuppen nur und ein altes Gebäude stehen verlassen da. Auch das Mehl-Silo gehörte zu vagen Erinnerungen. Beide Gebäude mögen dann mitgeholfen haben, dass wir plötzlich den gesuchten Waldeingang fanden.

Wenn Bäume mit uns sprechen könnten, hätten sie uns jetzt vielleicht angesprochen, denn damals vor vier Jahrzehnten war der Besuch in diesem Wald für Primo und mich eine Initiation, eine Zulassung zu den Baum-Mysterien. Ich sehe mich noch in jenem Waldteil, wie wir nach ihnen ausschauten und ihre gesunden, schnurgeraden Stämme bewunderten. Schon damals strebten sie nur himmelwärts.
Die Eiche aus Guggenbühls Werk «Unsere einheimischen Nutzhölzer»
Ein Bericht über dieses aussergewöhnliche Waldstück lockte uns damals dorthin. Es war Primos Gewerbelehrer, der in der Schweizerischen Schreinerzeitung im Bereich «Kunst und Handwerk» darüber schrieb. Paul Guggenbühl habe es verstanden, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch auf viele Details aufmerksam zu machen, an denen viele von uns achtlos vorbeigehen. So schrieb die Schreinerzeitung im Nachruf nach seinem Tod.

Primos Wesen trägt viel von diesem vermittelten Wissen weiter. Immer noch entdeckt er besondere Schönheiten aus der Innenwelt der Bäume. Er lebt mit ihnen. Sie faszinieren ihn. Denn keine sind sich gleich. Auch Querschnitte von kranken Bäumen können fantastische Bilder hervorbringen.

Den Wald betraten wir still, umschauend und nach Erinnerung prüfend und entdeckten dann als erstes am Wegrand liegende Eichenstämme. Da einer, dort einer, und so weiter. Alle gesund, stark, gross gewachsen, unversehrt ihre Rinden. Sie müssen mit viel Achtsamkeit gefällt worden sein. Da wo sie herkamen, entdeckten wir ihre Plätze, weil die Bäume offensichtlich so gefällt wurden, dass ein kurzes Stück Stamm im Erdreich zurückblieb und sich uns als eine Art Hocker präsentierte. Und dank diesen Reststücken konnten wir uns zurechtfinden. Da wussten wir plötzlich, dass wir im Marthaler Eichenhain angekommen waren.
  Ein Zweig Eichen-Herbstblätter Jahrgang 2018 aus diesem Wald 
Unsere Stimmung ist schwer zu beschreiben. Wir fühlten das Leben und auch den Tod. Aber ohne Trauer. Die daliegenden Stämme zeigten sich uns vollendet. Und bereit für eine neue Aufgabe. Primo sinnierte, sprach über die Aufgabe solcher Bäume, die für sich einen grossen Raum beanspruchen und dabei bewirken, dass um sie herum lichtdurchflutete Räume entstehen, in denen sich andere Gewächse auch wohlfühlen. Und auch Menschen, möchte ich dazu sagen, denn wir erlebten hier eine friedliche Atmosphäre, die uns von unserem Alltag und allen Sorgen abhob.

Berührt schlenderten wir weiter durch diesen Wald und trafen am Waldrand noch auf die älteste Eiche in diesem Hain. Ihr wurde eine Informations-Tafel umgehängt.
Höhe 34 Meter, Umfang 5,6 Meter, Inhalt ca. 30 m³, Alter ca. 360 Jahre
Dazu die Unterschrift Marthaler Eichen-Wald.

Das Schreinerherz meldete sich auf dem Heimweg dann auch noch. Primo dachte nach, welch grossartige Tischplatte entstehen könnte, wenn die älteste Eiche dazu verarbeitet würde. Er nannte gleich Zahlen: 1 Tischplatte 20 Meter lang und 1,5 Meter breit. Grossartig!

Und ich orientierte mich nach der Heimkehr noch an den Themen «Mensch und Baum» in Guggenbühls Werk «Unsere einheimischen Nutzhölzer». Dort schrieb er:

Die knorrige Eiche ist ein Sinnbild der Kraft und Unbeugsamkeit. Bei den Griechen und Römern galt sie als heiliger Baum, der Zeus oder Jupiter, dem höchsten Gotte, geweiht war. Die Germanen errichteten unter der Eiche oder in Eichen-Hainen die Opferstätten für Donar, den Donnergott. Kein Sterblicher durfte die Axt an diesen Baum legen.

Aus der Mystik der Menschheits-Geschichten seien alle Vorfahren durch die Jahrtausende staunend und verehrend mit solchen Eichenbäumen umgegangen, sagt Primo.

Mittwoch, 10. Oktober 2018

Festtag für unser gemeinsames Leben

Ankunft vor dem Gasthaus Feld in Feusisberg
Kürzlich bin ich auf dem Trottoir umgefallen. Ich überquerte die Hauptstrasse, nachdem ich einen Brief in den Postbriefkasten geworfen hatte. Auf dem Rückweg störte mich einer der «lödeligen» Socken, der nach vorne gerutscht war. Ich nahm mir vor, diesen raschmöglichst zurück zu ziehen, sobald ich wieder bei meinem Velo angekommen sei.

Diesem Gedanken müssen meine schnellen Schritte widersprochen haben. Darum stolperte ich über die eigenen Füsse und fiel hin.

Ich muss mich beim Fallen leicht abgerollt haben. Wie das geschah, weiss ich nicht. Der Schlag hatte meine Knochen nicht angegriffen. Das spürte ich sofort. Fürs erste blieb ich eine Weile liegen und dachte: Was geschieht jetzt?

Da sprach mich eine Frau an, die ich im Alter etwa 10 Jahre jünger als ich es bin einschätzte.

Sie half mir aufstehen und begleitete mich einige wenige Schritte bis zur Sitzbank an der Bushaltestelle. Dann sprach sie sehr selbstsicher: Jetzt müssen Sie sich einen Rollator aneignen. Und ich dachte dazu: Wenn diese Frau wüsste, dass ich auf dem Velo vom Stadtrand herunter gefahren bin, dann würde sie gewiss die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Seltsam solche Befehle!

Ich liess mich nicht in weitere Gespräche ein. Wir verabschiedeten uns. Ich dankte für die Hilfe. Ich wurde nicht weiter beachtet oder angesprochen. Ich konnte normal gehen, machte danach noch kleine Kommissionen und ging dann heim. Immer ein Stück weit normal Velofahren, dann wieder ein Stück zu Fuss, das Rad vor mich herschiebend. Weder die eine noch die andere Variante signalisierte mir, dass ich Hilfe brauche.

Zu Hause wusste mein Ehemann, welche Salben jetzt aufzutragen seien. Es traten keine Schmerzen auf und auch keine Ängste.

Ich dachte dazu, dass dieser Sturz «Obacht» gerufen habe. «Du solltest ruhiger und gelassener gehen und handeln. Nicht mit einem ersten Gedanken davon eilen.» Mein Vater sagte jeweils in vergleichbaren Momenten: Das war eine Warnung.
 Feusisberg und Blick zum Zürichsee
Wenige Tage später konnte ich meinen Vorsatz anwenden. Primo hatte mich zum Mittagessen nach Feusisberg eingeladen. Das war der Ort, wo wir vor 57 Jahren Hochzeit feierten.

Wir fuhren nach Schindellegi und marschierten von dort aus nach Feusisberg, ins Restaurant Feld.

Erst bei der Bezahlung für das Mittagessen, das uns gemundet hat, wiesen wir kurz auf unsere Geschichte hin. Die Serviertochter informierte die Wirtin, die sich dann noch mit uns unterhielt. Als wir den Jahrgang unserer Hochzeit nannten, lachte sie. Da sei sie noch ein kleines Kind gewesen.
steil aufwärts
Es war ein heiterer Tag mit viel Weitsicht auf den See und in die Berge. Es lockte uns, immer höher zu steigen. Die Wirtin konnte uns den zeitlichen Rahmen für den Weg nach Einsiedeln nennen: 3½ bis 4 Stunden.

Wir fühlten uns aufgenommen von dieser hügeligen Welt, in der wir immer höher aufsteigen konnten. In der ersten sehr steilen Etappe wollte ich eins sein mit meinen Füssen und Schuhen. Auf sie aufpassen, auf sie hören. Sie spüren. So kam ich gut voran. Das Umfallen hat mich gelehrt, mit den Gedanken weniger voraus zu eilen. Da zu sein, wo ich jetzt gerade bin. So fühlte ich eine innere Ruhe, die Kraft und Ausdauern spenden kann.

Weitere Fotos zeigen Blickwinkel unserer Wanderung.
Blick auf den Zürichsee mit der Ufenau
Teufelsbrücke
Sankt Meinrad
Paracelsus Geburtshaus
Ankunft in Einsiedeln, Glocken läuteten gerade zum Gottesdienst
Krönender Abschluss: Vermicelles im Sternen Bistro Einsiedeln

Dienstag, 4. September 2018

Ansichtspostkarten graben Erinnerungen aus

Dieser Tage nun ist eine schöne Ansichtskarte von Langres in meinen Briefkasten gefallen. Madame Nelly brachte mit dieser Karte eine Art Schlüssel mit, um ein eingeschlafenes Ereignis aufzuwecken. Ohne es zu wissen.

Da sind die Bilder:
Meine Karte, die ich in Langres mit anderen Sujets zusammen gekaufte habe, spricht von Langres als Stadt der Kunst und Geschichte, jene von Madame Nelly weist auf den in Langres geborenen Philosophen und Schriftsteller Denis Diderot hin.
Wie im vorherigen Blog berichtet, kam ich letzthin in Frankreich erstmals in die Stadt Langres. Dort lernte ich die hochbetagte Madame Nelly kennen, die am Place Diderot immer noch eine Baby-Boutique betreibt. Unsere Freunde sind mit ihr bekannt. Wir wurden einander vorgesestellt und Ich konnte mit ihr unter der Eingangstür parlieren. Und danach auch noch ihr Ladenlokal anschauen. Ohne es zu bemerken, wurden wir fotografiert. Die Bilder machen uns Freude.
Auf beiden Ansichtskarten sehen wir Teile hoher Stadtmauern, Türme und Tore einer stolzer Festung. Sie besitzt 12 Türme, 7 Tore und zahlreiche Glockentürme.

Auf meiner Karte ist der eine Baum rechtsseitig und auf Madame Nellys Karte linksseitig zu sehen. Diese beiden Karten nebeneinander signalisieren mir die Eingänge und Ausgänge aus oder in die Stadt. Der jeweils einzelne Baum rechts oder links auf den Karten weist darauf hin.

Und jetzt zur Hintergrundgeschichte: Vor 60 Jahren
Nach der kaufmännischen Lehrabschluss-Prüfung konnte ich nach Abschluss der Lehre in der Filiale desselben Buch-Verlages in Paris als Stagiaire arbeiten und französisch lernen. Da der Schweizerische Direktor monatlich einmal nach Paris fuhr um die Geschäfte dieser Filiale zu prüfen, konnte ich in seinem Auto von Zürich nach Paris mitreisen. Da tat sich für mich erstmals weites Land auf, aber ich sah auch eine Art Armut in kriegsgeschädigten Dörfern.

Genau kann ich mich nur an einen Blickfang richtig erinnern: Wir fuhren im Auto in einen prächtigen Torbogen hinein, um die Stadt zu durchfahren. Sie beeindruckte mich weniger als der mächtige Eingang selbst. Das Bild dieser Einfahrt ist tief in mir drinnen wach geblieben. Trotzdem konnte ich den Ort bisher nicht finden. Ich habe immer wieder nach ihm gefragt. Und jetzt: Ich hatte meine in Langres gekaufte Ansichts-Karte im Büchergestell vor die Bücherreihe gestellt und jetzt, ein paar Wochen später, jene von Madame Nelly als eine Verwandte dazu. Und wieder ein paar Tage später wurde das Rätsel dann gelöst. Diese beiden Karten, denen ich beim Vorbeigehen manchmal einen Blick schenkte, überraschten mich plötzlich. Alles klar! Damals auf der Reise nach Paris im Auto des Direktors durfte ich eines dieser grossartigen Tore und die Stadt durchfahren. An sie selbst aber erinnere ich mich nicht.
Eine weitere Geschichte gehört noch dazu:
Bevor ich abreiste, wurde mir aus der Filiale Paris mitgeteilt, man hätte für mich eine gute Unterkunft gefunden. Ein Zimmer bei einer alten Dame. Ich sei angehalten, Leintücher und Bettinhalte mitzubringen. In Paris müssten alle Mieter die Leintücher mitbringen. Damit ich nicht frieren müsse, kaufte mir meine Mutter Barchent-Leintücher (Barchent: beidseitiger aufgerauter Baumwollstoff).

Diese Aussteuer und meine Winterkleider konnte ich dem Chauffeur abgeben, der in den nächsten Tagen Bücher nach Paris liefern musste.

Es war für alles gut gesorgt. Aber leider verunfallte der Bücher-Chauffeur, der nach Paris fahren musste. Bücher, Leintücher, Kleider und Schuhe durften nicht ausgeladen werden. Alle Gegenstände wurden zurückbehalten. Der französische Chef der Filiale brachte mir Leintücher von seiner Familie, die ich ein paar Wochen lang benützen konnte.

Ich wurde gut behandelt und die 18 Monate in Paris gehören bis heute zu einem Lebensabschnitt, den ich nicht vermissen möchte.

Montag, 20. August 2018

Träume, die sich im Schlaf zeigen und Erlebnisse, die wir als Träume verstehen

Die Fenster öffnen und die Bettdecken schütteln und dabei an Frau Holle aus der Märchenwelt denken, ist öfters mit besonderen Träumen verbunden. Es sind Träume, die nicht so schnell verschwinden und manchmal im Lauf des Tages ihre Bilder nochmals zeigen.
Ein paar Tage nachdem wir aus Frankreich heimgekommen sind, sah ich im Traum nochmals die Weite der französischen Landschaft, die Felder mit ihren Farben und über ihnen der offene Himmel. Keine Berge, die den Raum abgrenzten. Es fehlte nur die Treppe, um die beiden Welten zu verbinden: Die Erde, auf der wir stehen und der Himmel mit seiner noch unbekannten Unendlichkeit.

Freunde aus der Schweiz, die zeitweise in Frankreich leben, haben Primo und mich eingeladen, ihre französische Seite zu erleben. Was für ein Geschenk!

Auf der Reise ab Zürich mit Umsteigen in Mulhouse kamen wir an einem Buschbrand vorbei. Erstmals sah ich ein solches Feuer. Es störte das Bahngeleise glücklicherweise nicht. Die vielen Windungen, die der Bahn vorgegeben sind, liessen wir uns von den Wolkenbildern erklären. Wir erkannten ihre Formen am Himmel, sahen sie einmal links, einmal rechts, dann wieder verschwunden. Die Reise verlief darum angenehm ruhig und für uns interessant.
Nach ungefähr 4 Stunden trafen wir in Culmont Chalindrey ein. Dort wurden wir von den Freunden herzlich empfangen und in 2 Autos in ihr Paradies chauffiert. Ein Auto für die Frauen, ein zweites für die Männer. Als Spass. Gleichzeitig wollte der Hausherr herausfinden, welche Strecke von der Bahnstation nach Hause weniger Zeit beanspruche. Er und seine Frau benützten dann nicht dieselbe Strasse. Wir Frauen waren zuerst am Ort. Und die Frage somit beantwortet. Vom Dachstock her grüsste die Schweizerfahne. Primo und ich fühlten uns sofort wohl bei Maria-Lina und Hubert in diesem alten, gepflegten, ehemaligen Pfarrhaus. Unkompliziert, herzlich und von ihrer Seite mit Freude, uns Noidant und Umgebung zu zeigen. Das Haus ein Schmuckstück und die Gegenstände wie in einem Museum.
Ich zeige einige Fotos von diesem Ort und seiner Umgebung. Dazu sage ich gern «Vive la France».

Hatte ich anfänglich Bedenken, dass mir mein Französisch, das aus der Stagiaire-Zeit in Paris stammt, nicht mehr behilflich sein könne, erwachte es doch noch. Zu hören war es wieder sehr schön und zum persönlichen Sprechen so-so-la-la. Lang ist’s her.

Und Hubert, der Gastgeber, schmunzelte, als ich mich in Langres mit einer alten Dame unterhielt. Das Gespräch konnte sich nur so locker entwickeln, weil mich diese Person nicht kannte und keine Menschen dabei waren, die feststellten, wie schwach mein Französisch geworden ist. Das war für mich eine ganz besondere Erfahrung. Und das Wissen dazu: Immer wenn man allein zurecht kommen muss, geschehen noch Wunder.
Ich füge nun noch Fotos bei, die Umwelt, Atmosphäre und das Milieu dieses wunderschönen Ortes überhaupt zeigen können. Und wer diese gesehen hat, kann gewiss feststellen, dass die Tage an diesem Ort und die Ausflüge, die auch noch geschenkt wurden, zu einem unvergesslichen Erlebnis geworden sind.
Diese Freunde denken aber nicht nur für sich. Sie sorgen sich um den Ort, um seine Schätze und bauen ein Museum auf. Menschen vor Ort bringen ihnen alte, wertvolle Werkzeuge, die nicht verloren gehen sollen. Und sie sorgen sich um ihre Häuser.
Der Kirche schenkte Hubert offenbar schon vor längerer Zeit eine kleine Orgel. Dort begann er, der Musiker, sofort altbekannte Lieder zu spielen. Ich hätte ihm noch lange zugehört. Er erzählte uns, dass die Kirche in einem desolaten Zustand sei und dass hier nur 2 x im Jahr eine Messe gefeiert werde. Kürzlich auch wieder. Er nannte, wenn ich mich recht erinnere, 200 Personen, die zur Feier gekommen seien. Es muss in solchen Momenten eine Zusammengehörigkeit in diesem Ort entstehen, die den Anwohnern gefällt. Ich vermute, dass er und seine Frau mit solchen Ideen immer gut ankommen. Imponiert hat mir der Glockenschlag dieser Kirche. Die Stunden- und Halbstundenschläge ertönen innerhalb einer Minute 2 x . Das erste Mal als exakte Zeit, nach einer Minute der 2. Schlag für den Fall, wer den 1. nicht gehört hat. Gefällt mir ausserordentlich.

Maria-Lina sorgte sich täglich um gute Nahrung, um feine Speisen und was mir besonders gefallen hat: Das Essen wurde immer wieder an einem anderen Platz im Garten aufgetragen.

Unvergessliche Tage.

Mittwoch, 11. Juli 2018

Brieffreundschaft Schweiz–Norwegen und zurück

Von Primo gemalt: Die fliegenden Briefe
Ich konnte meine norwegische Brieffreundin Brit wieder einmal in Zürich begrüssen. Nach Ferien im Wallis wollte sie uns vor der Heimreise noch sehen und mit uns sprechen.

Wir kennen uns schon lange. Sehr lange. Und dieses «Kennen lernen» entwickelte sich nach und nach. Jahre lang, immer auf Papier. Als wir jung waren, gab es noch keine Computer. Wir schrieben Briefe, schickten einander Drucksachen und Fotos, wenn wir unser Land, unser Zuhause und unsere Geschichten vorstellen wollten.

Im letzten Ausbildungsjahr in der «Handelsschule des kaufmännischen Vereins Zürich» (Frühjahr 1958) führte uns der Klassenlehrer in verschiedene Firmen. Er wies darauf hin, dass wir nicht nur an der kaufmännischen Seite eines Betriebs interessiert sein sollen. Zu jeder Firma gehöre ein Fachgebiet, eine Branche, und speziell für sie sollte ebenfalls eine Vorliebe vorhanden sein.

Er besuchte dann mit unserer Klasse die Firma PUBLICITAS in Zürich. Dort wurde uns der Betrieb gezeigt. Noch heute «höre» ich wie der Gastgeber uns die Dienste seiner Firma beschrieb. Er sagte: Sollte jemand von Ihnen einmal ein Inserat in eine ausländische Zeitung oder Zeitschrift aufgeben wollen, dann sind Sie bei uns am richtigen Ort. Die PUBLICITAS verfüge weltweit Zugang zu Zeitungs-Verlagen und zu entsprechenden Fachleuten für Übersetzungen. Da dachte ich sofort: Diesen Dienst werde ich einmal nützen, obwohl ich noch nicht wusste, wofür.

Es dauerte dann einige Jahre bis sich mein Versprechen erfüllte. Langsam war ein Interesse am Norden und seinen Menschen gewachsen. Inzwischen war ich verheiratet und Mutter geworden. Mit kleinen Kindern wollte ich damals nicht ins Ausland reisen. Darum wünschte ich mir Brief-Kontakte mit ebenfalls einer Familienfrau, um das Leben aus ihrem Land kennen zu lernen.

Eines Tages erinnerte ich mich an PUBLICITAS und gab ein kleines Inserat in der norwegischen Tageszeitung AFTENPOSTEN auf. Ich wollte Menschen aus Norwegen kennen lernen. Am liebsten auch eine Familienmutter oder überhaupt eine Familie. Mein Inserat wurde offensichtlich perfekt übersetzt. Es meldeten sich bald 3 Frauen.
Mit Brit in Basel
Schiffsreise zu Annedore
Unicef-Karte, Stickbild von Elna Knudsen
Brit: Norwegerin, Volksschullehrerin, Annedore: Buchhändlerin, eine Frau aus Ostberlin, die mit einem Norweger verheiratet war, Elna: Künstlerin, siehe Stickbild, Finnländerin, mit einem Norweger verheiratet. Sie lebte nicht mehr als wir endlich nach Norwegen kamen. Aber ihre Töchter erzählten, dass es immer besondere Momente gewesen seien, wenn Post aus der Schweiz eingetroffen sei und Mama in den Lehnstuhl sass und ihnen erzählte, was ich berichtete.

Brit wurde von ihrer Nachbarin auf das Inserat aufmerksam gemacht. Diese hatte es im Hausfrauenblatt von AFTENPOSTEN entdeckt und ihr geraten, mir zu schreiben. Und bald einmal reiste sie sogar mit einem ihrer Kinder zu uns nach Zürich. Wir verstanden uns sofort und fühlen uns bis heute freundschaftlich verwandt.

Unsere Korrespondenz entwickelte sich für uns alle als eine Art Lebens-Elixier.

Im Jahr 1996 wurde es dann für Primo und mich möglich, die nordischen Freundinnen zu besuchen. Die Frauen und ihre Familien hatten sich inzwischen untereinander auch kennen gelernt. So kam es, dass wir von Familie zu Familie weitergereicht wurden. Alle zeigten gern ihre Welt und erzählten von ihren Aufgaben. Brit hatte es verstanden, sie miteinander bekannt zu machen.
Mit Brit in Trondheim
Wieder zu Hause, schrieb ich ins Tagebuch, in Norwegen hätte ich mich immer beschützt und wohlgefühlt.

Zwei der Brieffreundinnen sind seither schon gestorben. Brit konnte uns dieser Tage, wie schon erwähnt, zusammen mit der einen Tochter nochmals in Zürich besuchen. Wir erinnerten uns an das damalige Inserat von mir. Sie konnte den Text (nach ungefähr 36 Jahren) auswendig zitieren. Auch für sie ist die Freundschaft Norwegen—Schweiz ein Geschenk des Lebens.

Im vergangenen Mai hat uns in Zürich PUBLICITAS überrascht. Wir lasen in der Tageszeitung eine traurige Mitteilung: 11.5.2018 — Eine uralte Institution der Schweizer Presse steht vor ihrem Ende. Am Freitag hat die Publicitas beim Bezirksgericht ihren Konkurs angemeldet.

Donnerstag, 28. Juni 2018

Erschreckender Strukturwandel

Es öffnete sich mir plötzlich eine grandiose Bühne, als ich die Hardturmstrasse auf dem Velo verliess und in der Förrlibuckstrasse weiterfuhr. Nichts ahnend, was mich auf dieser Strecke erwartete. Einige wenige Blicke schenkte ich den renovierten Familienhäusern, die ich seit meiner Kindheit kenne. Der Arbeitgeber «Schaffhauser Wolle» stellte sie seinen Arbeitern zur Verfügung. Eine Mitschülerin aus der Primarschule wohnte hier. Ich durfte sie dort besuchen und bewunderte diesen damals idyllischen Ort mit seinen Gärten und der grossen Wiese. Besonders auch die Rosen am Eingangstor.

Später, als ich mit der Familie in einem Bernoullihaus an der Hardturmstrasse wohnte und ich für Einkäufe zur Pfingstweidstrasse fuhr, kam ich ebenfalls an diesen Häusern vorbei. Da musste ich aus der Geraden in eine schmale S-Kurve abzweigen. Die Pedalen durften ruhen. Das Rad führte weiter. Und in diesen wenigen Momenten erlebte ich auch inneres Loslassen. Da meldeten sich Antworten und Einsichten, nach denen ich lange Zeit vorher gesucht habe. Seltsam schön. Solche Momente gab es mehrmals. Jedesmal unerwartet. Diesmal einfach als Erinnerung an damals. Ich meinte die innere Stimme zu hören: «Weisst Du noch?»

Diese Rückschau dauerte nur Sekunden lang, denn rechtsseitig öffnete sich mir eine gigantische Abbruch-Bühne. Ich stellte das Velo ab, schlenderte eine Weile umher, dachte an alte Zeiten, überlegte mir, wo genau der Bauernhof der Familie Buob untergegangen sein muss. Und sofort wünschte ich mir, dass ich mit Primo zusammen diesen Ort noch genauer anschauen könne.

Der Wunsch wurde sofort erfüllt. Nach dem Mittagessen fuhren wir dorthin. Der Fotoapparat war dabei. Die Aufnahmen können nun für sich selbst sprechen. Besser als meine Worte.

Obwohl schon Wochen zuvor über den vorgesehenen Abbruch eines nur ungefähr 30 Jahre alten Gebäudes gesprochen und geschrieben wurde, erschraken wir beide. Zu sehen, wie ein gesundes Gebäude umgebracht wird, erschüttert einen. Begründet wird diese Form von Totschlag mit «Strukturwandel».

Ich bin in diesem Umfeld aufgewachsen. Darum versuchte ich wieder einmal, das Zuhause aus der Kindheit an den überbauten Orten im Stadtkreis Zürich 5 zu platzieren. Einen Überblick spendete die alte Aufnahme mit dem Fussballstadion Förrlibuck aus dem Buch «Zürich – im Flug gesehen» (Orell Füssli-Verlag). Im linken Bereich oben der Bauernhof der Familie Johann und Marie Buob und rechts oben im Bild mein Zuhause in der Glas- und Spiegel-Manufaktur Müller-Quendoz an der Hardturmstrasse.

Förrlibuck, was bedeutet dieser Name?
Erst seit gestern weiss ich es. Im Internet wurde die Antwort gefunden: Das immaterielle Wesen, auf den die universelle Schuld abgewälzt wird. Ein Förrlibuck sei eine Steigerungsform vom Sündenbock. Stimmt offenbar mit der erwähnten Situation überein.