Mittwoch, 28. September 2005

Von Köln in Richtung Aachen: Lebensräume, grüne Auen

In der Grossstadt angekommen und sogleich aus ihr herausgeführt, sehe ich zuerst lange nur grüne Busch- und Waldstreifen, welche die Autobahn von Köln Richtung Aachen begleiten. Manchmal winken einige der grossen Windräder. Das Land ist flach. Der Horizont tief. Die Landschaft erscheint, oberflächlich betrachtet, als etwas immer Gleiches. Erst als wir auf die Landstrasse abzweigen, um das Dorf Ameln zu erreichen, öffnen sich mir die Seelen der Orte. Bäume, die die Strassen säumen, stehen wie zu einer Perlenkette aufgereiht da und markieren Geborgenheit. Dörfer und Kirchtürme werden sichtbar. Die dunklen Backsteinbauten haben Stil und gehören seit langer Zeit hierher. Hier leben Menschen. Und wir werden aufmerksam auf den nun etwa 20 Jahre alten Berg, der die Landschaft verändert hat. Er wurde aus dem so genannten Abraummaterial, unter dem die Braunkohle hervorgeholt werden konnte, aufgebaut. Als mein Mann und ich vor 25 Jahren hier zum ersten Mal durchkamen, fanden wir nur flaches Land. Nun steht ein Berg in der Landschaft, wie wenn er schon immer da gewesen wäre. Grün. Auf vielen Wegen begehbar. Er sei zum beliebten Erholungsgebiet geworden, erfahren wir von unseren hier ansässigen Freunden. Hier könnten sie im Winter sogar rodeln (schlitteln).

Die Insel Hombroich (im Umfeld von Düsseldorf) lassen wir uns dann nicht nur beschreiben. Wir besuchen sie. Wir finden eine Auenlandschaft von grossem Ausmass. Ein Format, wie ich es noch nie gesehen habe. Unberührte Natur, wenn wir von den Bauten absehen, die, wie es heisst, „parallel zur Natur“ hier eingefügt worden sind. Kunst und Natur als 2 Welten, die nebeneinander bestehen. Bäume, wie sie die Auenlandschaft hervorbringt, aber auch Bäume von Menschenhand als gestaltete Flächen gepflanzt. Schlichte und strenge Architektur, die Kunst aufnimmt und Räume, in denen wir singen können und eine verblüffende Akustik erleben. Eine alte Parklandschaft gehört zu diesem Gelände, in dem wir uns während 6 Stunden aufhalten, ohne uns eine Minute zu langweilen. Viele gepflegte Wege und hinter jeder Wegbiegung ein anderer Kunstaspekt. Zum Beispiel auch Steinsetzungen. An der Wand des Steinhauerateliers lese ich „Kunst ist Seelsorge“.

In der Insel-Cafeteria können wir uns verköstigen. Erstaunt stellen wir fest, dass das Essen im Eintrittspreis inbegriffen ist. Wunderbar! Und die Menschen, die in der Schlange dafür anstehen, sind alle geduldig, freundlich und von der Stimmung auf dieser Insel wie verzaubert.

Als ich an der Theke, wo ich eine Tasse Tee holen kann, mit der jungen Frau, die dafür zuständig ist, ins Gespräch komme, erfahre ich, dass sie Innenarchitektin ist und hier eine Teilzeitstelle innehat. Es seien hier viele Persönlichkeiten aus unterschiedlichster Herkunft und Kulturen anwesend (Bildende Künstler, Sänger, Musiker, Dichter, Gärtner usw.) und ebenfalls an anfallenden Arbeiten und Visionen beteiligt. „Vielleicht ist die Insel nur zu erleben, nicht zu beschreiben“, heisst es im einführenden Bericht über Hombroich auf der Homepage.

Hombroich ist wirklich etwas Anderes. Etwas Spirituelles. Es liegt etwas Achtsames über allem. Ein Ort für den mündigen Menschen, scheint mir. Ohne Hinweise, ohne Beschilderungen. Alle Wege dürfen vorerst einmal Überraschungen sein. (Ein Faltblatt mit einem Plan der gesamten Anlage ist dann aber doch hilfreich.) Dieser natürliche Ort wirkt ausgleichend auf alle, die zu Besuch gekommen sind.

„Die Insel ist urweiblich.

Sie gebärt, hält zusammen, stützt, dient und lässt frei. Sie ist kein Muss, sondern ein Darf. Sie ist nicht entweder – oder, sondern sowohl – als auch.

Sie fordert jeden zur täglichen Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie ist kein männliches Feld für Organisation, Hetzjagd, Anhäufung, Macht und Demonstration.“

(Von einem Mann geschrieben: Karl-Heinrich Müller)

Beim Verlassen des Geländes am Abend empfinde ich die Parallel-Welten Kunst und Natur als nicht nebeneinander stehend. Für mich ist hier die Natur die grosse Gastgeberin, die die Versuche der Menschen, das Leben zu verstehen und es mitzugestalten, aufnimmt, unterstützt und begleitet.

Hinweise
Ich verweise zudem auf meinen Beitrag „Die Aue“, der im Textatelier.com unter „Glanzpunkte“ (Nr. 79) aufgeführt ist.

Donnerstag, 8. September 2005

Brüche: Aufbruch, Abbruch, Durchbruch, Zusammenbruch

Sommer ade! Die Zwetschgen sind geerntet. Die Rosskastanien haben sich aus ihren stacheligen Hüllen befreit. Die Nachtkerzen bringen nur noch vereinzelt Blüten hervor. Die Abende dunkeln rascher ein. Wir kommen zurück ins eigene Haus. Die Schulferien sind beendet. Die Rückkehr ins Schulhaus hat stattgefunden. Für einige Kinder war es der Eintritt in den Kindergarten oder in die Primarschule, also ein Aufbruch.

In Frankreich nennt man diese Zeit „rentrée“. Rückkehr aus der Entspannung, von Reisen, vom Haus am Meer. Die unbeschwerte Zeit ist beendet, abgebrochen. Auch dort beginnt das neue Schuljahr nach den Sommerferien. Dazu habe ich Fotos aus Paris erhalten, aus dem Schulhaus Orsel, wo letzte Woche auch meine Enkelin in die École maternelle eingetreten ist. In ihrer Klasse hätten alle 22 neu angekommenen Mädchen und Buben geweint, als sich Mütter und Väter verabschieden mussten. Sie sind auch erst 3-jährig. Für diese Kinder, die sich im Laufe des Tages von ihrer Traurigkeit erholt haben sollen, ist es ein Durchbruch in die Zukunft, die Vorbereitung auf die Eingliederung in eine leistungsorientierte Gesellschaft. Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von einer Mutter aus Paris.

„Der Zürcher Sommer ist besser als sein Ruf“ titelte der „Tages-Anzeiger“ vom 1. September 2005 und lieferte auch die Begründung dazu. Zahlen und Vergleiche mit Vorjahren rechtfertigen die Aussage. Juli aussergewöhnlich trocken, Juli im Schnitt von früher und August zu feucht, zitiere ich die erschienene Bilanz etwas knapp. Es hiess da auch, dass der Juni 2005 2 bis 3 Grad °C zu warm gewesen sei. Und es wurde selbstverständlich auch auf die katastrophalen Regenfälle zwischen dem 21. und dem 23. August hingewiesen.

Eine Schlagzeile, die positiv stimmte, aber nicht für alle stimmen kann. Wetter-Statistiken geben nur einen Rahmen, in dem unser Leben stattgefunden hat. Für einige war es ein wundervoller Sommer, für andere nur ein nasser. Für einige eine Zeit voller Entdeckungen, weil sie dem Leben nicht vorschreiben, wie es sich abwickeln muss. Andere hadern, weil sich Wünsche nicht erfüllten usw. Sicher beschwingt uns ein heiterer Himmel, und die Wärme der Sonne entspannt uns. Doch ist das nicht alles. Auch Regen kann schön sein. Es kommt auf die Einstellung, den Regenmantel und das gute Schuhwerk an.

Ganz und gar ausserhalb des obigen Titels stehen die Betroffenen der Klima-Katastrophe. Der Zusammenbruch ihrer Heime und Existenzgrundlagen ist unvorstellbar grausam und hat hoffentlich manches Gewissen erschüttert. Unsere wirkliche Hilfe neben der materiellen Aufbauhilfe kann nur das Umdenken sein. Die Fakten sind bekannt. Wir verhalten uns in keiner Weise als faire Partner von Natur und Umwelt. In der vorpatriarchalen Kultur wurde die lebensspendende Mutter Erde noch mit Festen geehrt und ihr für Wachstum und Fruchtbarkeit gedankt. Wir aber beuten die Lebensgrundlagen nur noch aus.

Was wird in 20 Jahren sein, wenn die eben eingeschulten Kinder erwachsen geworden sind? Werden sie noch an Gewinnmaximierungen als Lebensinhalt glauben? Ist ihr Leben immer noch so laut, wie das der 20- bis 25-Jährigen von heute? Oder läuten sie dann ein neues Paradigma ein? Ich wünsche mir, dass sie die leisen und feinen Töne entdecken und auf das Leben hören lernen. Das wäre dann ein wirklicher Aufbruch in ein neues Zeitalter.