Dienstag, 28. November 2006

Zürich: Der Weihnachtsglanz und das Leben in Armut

Die Vorweihnachtszeit breitet sich aus. An den Adventskalendern werden ab 1. Dezember die Türen geöffnet. Heute sind es manchmal auch Fächer, die zum Vorschein kommen, denen ein kleines Geschenk entnommen werden kann.
Anders früher. Da war alles viel bescheidener und die geheimnisvolle Adventszeit noch ganz unter dem Thema Warten und Vorbereiten zu erleben. Heute, in einer Zeit grosser Beschleunigung, wird der Advent mit intensiver Lichterfülle und vielen verlockenden Veranstaltungen eingefahren, als wären wir schon am Ziel.
Es gibt wieder viel zu bewundern. Die Kreativität schlägt Purzelbäume. Manche umgesetzte Idee fasziniert mich. So auch die Schaufenster des Modehauses Grieder Les Boutiques (früher Seidengrieder) an der Zürcher Bahnhofstrasse. Wo normalerweise vornehme Kleider ausgestellt sind, türmen sich jetzt in allen Fenstern nur rosa und hellbau angestrahlte Glas- oder Plexiglaskugeln, die aus einem Märchenbuch vom Himmel gefallen sind. Aus diesem Kugelberg bewegen sich Symbole aus der Märchenwelt auf und ab. Das wird den Kindern gefallen. Das Spinnrad, der grosse Ring mit funkelndem Stein, die Siebenmeilenstiefel, das Königsschloss usw. Diese Traumwelt ist packend dargestellt. Träume und Schäume, dachte ich sofort, als ich das sah.
Können sich Menschen, die von grosser Armut betroffen sind, an solchen Darstellungen auch freuen? Diese sind ja eine Art Geschenk an die Passanten, eine Art Theater, eine kurze Entführung in die Märchenwelt. Oder macht ihnen das grosse Weihnachtsgeschäft noch schmerzlicher bewusst, wie sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter ausbreitet? Darüber sinniere ich jetzt, nachdem ich die Bild-Ausstellung im Sozialzentrum Albisriederhaus* angeschaut habe. Da ist die Armut das Thema. Die ausgestellten Linol- und Holzschnitte gehören später in eine Wanderausstellung der Bewegung „ATD Vierte Welt“ mit dem Titel „Armut – Leben in Würde, ein Menschenrecht.“
Die Bilder sind sehr ausdrucksstark und offensichtlich unter künstlerischer Anleitung entstanden. Sie liessen mich etwas schauen, das ich als tief weihnachtlich empfinde. Es ist ein Wissen um die wahre Mitmenschlichkeit, auf die die Betroffenen warten und hoffen. Zu einem Familienbild z. B. heisst es: „15 verschiedene Spezialisten wollten unsere Probleme regeln, obwohl sie uns kaum kennen. Jedesmal, wenn es läutet, hoffe ich, dass ein Freund vor der Tür steht.“ Die Familie, die hier gesprochen hat, ist im Bild in einem fahlen, gelben Licht gedruckt. Rund um diese Mitte sind richtungsweisende, also befehlende und farblich kontrastierende Hände eingekerbt.
Oder zu einem anderen Bild steht geschrieben: „Meine Nachbarin suchte einen Platz für einen hilfsbedürftigen Menschen. Ich schlug vor, dass er bei uns wohnen könne. Wir haben ja ein freies Zimmer. Aber da sagte man uns: Sie haben ja selber nicht genug Geld. Ich sagte, ich habe genug zum Leben. Es reicht. Man versteht nicht, dass auch jene, die wenig haben, helfen können.“
Zu den prägenden Eindrücken meiner Kinderzeit gehörten im Advent die Engel mit den Spruchbändern, auf denen vom „Frieden den Menschen auf Erden“ zu lesen war. Darum hat mich wohl die Definition des „Friedens“, aufgeschrieben von einer von Armut betroffenen Person, sofort angesprochen:
„Frieden bedeutet, dass die Familie trotz Armut zusammen bleibt, dass unsere Kinder zu essen haben und nicht bei den Nachbarn betteln müssen;
dass wir keinen Hass und keine Bitterkeit in unserem Herzen haben;
dass ich andern helfen kann;
und dass wir mit unseren Nachbarn und anderen Leuten gut auskommen.“

*Die Ausstellung im Sozialzentrum Albisriederhaus, Albisriederstrasse 330, 8047 Zürich
war bis zum 13. Dezember 2006 offen.

Dienstag, 21. November 2006

Stille und laute Gäste im Altersheim-Café Limmat, Zürich

Eigentlich wollte ich in diesem Blog von Menschen erzählen, die mir im Café Limmat in Zürich 5 begegnet sind. Nach einem Versuch habe ich das wieder verworfen. Es ging da um einen Mann und eine Frau, die ihre Mutter und Schwiegermutter (so vermute ich) im Altersheim besuchten. Sie führten sie im Rollstuhl ins Café, kontrollierten ihr Äusseres, fragten nach, wann und ob ein Coiffeur-Besuch vorgesehen sei. Die Frau zupfte noch ein paar Haare von der Schulter der alten Mutter, nachdem sie in deren Haare gegriffen und sich überzeugt hatte, dass ein Haarschnitt zwingend sei.
Ich wartete auf Frauen, die ich hier treffen wollte, und mein Sitzplatz befand sich diesen Menschen unmittelbar gegenüber. So wurde ich ins Geschehen einbezogen. Ich wunderte mich, wie alle so genannte Zuwendung nur den Äusserlichkeiten galt. Keine Herzlichkeit, keine Nachrichten von draussen, kein Humor, keine Geschichte, kein Familienklatsch. Wie kalt! Da kann ich die Südländer verstehen, die uns Schweizern den Familiensinn oft absprechen.
Und die alte Mutter gab wie ein Schulkind Antwort auf die oben erwähnten Fragen. Sie hörte also gut, trug ein Hörgerät. Auf sie kann die Kommunikationsschwäche nicht abgebucht werden.
Wie traurig, wenn eine Mutter nicht auch im Herzen besucht wird.
Die alte Frau war trotzdem heiter und aufmerksam anwesend. Ich vermute, dass sie auf eine kleine Überraschung wartete, die aber nicht eintraf. Gleichwohl ging von ihr ein Friede aus. Ihr Gesicht leuchtete. Mir fielen auch die schönen Linien in ihrer Stirne auf.
Das zu beschreiben, habe ich vorhin versucht. Der Entwurf hat mir aber nicht gefallen. Meine Töchter hätten dazu sicher gesagt, er sei oberlehrerhaft. Also habe ich nochmals begonnen und das Thema anders aufgerollt. Ohne Schlussfolgerung.
Aber etwas möchte ich doch noch anfügen: Als die Frauen, mit denen ich mich verabredet hatte, hier ankamen, entwickelte sich das Gegenteil der stummen Kommunikation. Jetzt waren vier ehemalige Mitschülerinnen aus verschiedenen Ausbildungsstufen nach Jahren wieder einmal beisammen und hatten viel zu erzählen. Unsere Lebensgeschichten erwiesen sich als unerschöpflich. Gut vorzustellen, dass jemand, der uns zuhörte, denken konnte: Reichlich Stoff für ein Blog im Textatelier.com.

Montag, 13. November 2006

Handgemachte Räbenlichter für die dunkle Jahreszeit

Der Zug mit den Lichtern wird jedes Jahr grösser. Junge Familien schätzen die Räbenlichter-Umzüge mehr und mehr. Es ist eine besinnliche Manifestation, die in Zürich im November in vielen Quartieren ihre Tradition hat.

Da werden dann die Strassenlichter für die Dauer des Umzuges gelöscht. Verantwortliche aus den Quartiervereinen gehen mit Fackeln voran. Kinder in Begleitung der Eltern tragen die ausgehöhlten und mit Schnitzereien dekorierten, an Schnüren hängenden Räben (eine Sorte von Futterrüben) durchs Quartier. In ihnen brennt ein Licht. Die Feuerwehr ist dabei, und was uns allen immer ganz gut gefällt, sind jene Passagen auf sonst stark befahrenen Hauptstrassen, die für die Umzugsdauer nur den Fussgängern gehören dürfen.
Diesmal waren die Enkelkinder aus Paris angereist. Mena, die 4-Jährige, durfte ihre mitgestalteten Lichter tragen. Der Grossvater schnitzte nach ihren Vorgaben die Motive in die Räbenhaut. Einige der Dekorationen nannte Mena „artifices“, Kunstgebilde. Es gehörten wie immer Sonne, Mond und Namen dazu, aber auch Häuser, Bäume, Blumen. Mit einem Bleistift stupfte Mena winzig kleine Löcher in die Haut und brachte zu unserem Erstaunen einen strahlenden Sternenhimmel hervor. Letizia faszinierte uns mit einem Schneestern, den sie mit Hilfe einer Guetzliform (Gebäck-Ausstechform) auf die Räbe zauberte. Der Kinderwagen der kleinen Nora wurde auch mit Räbenlichtern dekoriert.
DieTee-Lichter in den ausgehöhlten Räben brachten ganz allgemein wieder viele Kunstwerke zum Leuchten. Da immer auch Mütter und Väter aus fernsten Ländern mitmachen, kommen neue Ideen dazu. Räbenlichter können nicht fertig gekauft werden. Sie müssen selber geschaffen werden. Gemeinschaftszentren bieten Hilfe an. Auch in Jugendgruppen werden Kinder angeleitet. Wir bewunderten auch diesmal wieder viele Techniken und sammelten Ideen fürs nächste Jahr. Die Räbenlichter-Tradition ist wirklich ein kulturelles Ereignis und mobilisiert die Phantasie.

Als ich heute Abend wieder am Röschibachplatz vorbei kam, war es dort ganz still, unwirtlich und dunkel. Es regnete. Hier stand der Umzug letzte Woche still. Eine Jazz-Band steigerte die Festfreude. Die Kinder staunten. Es war ein Zauber auszumachen.

Die Räben wurden selbstverständlich nach Gebrauch nicht fortgeworfen. Jetzt hängen sie am Balkon von Letizias Wohnung, wo der Umzug jedes Jahr durchkommt. Zwei sind in unserem Garten an Ästen der Kiefer aufgehängt und werden jeden Abend mit neuen Lichtern gefüllt. Obwohl bereits etwas geschrumpft, erfüllen sie weiterhin ihren Auftrag, Licht in die dunkle Jahreszeit zu bringen.

Freitag, 10. November 2006

La goutte d’or: Soziotope urbaner Kultur Zürich – Paris

Das Wort „Soziotope“ gefällt mir, und wo ich es erstmals gelesen und gleichzeitig umgesetzt erlebt habe, zeigte es mir seinen Inhalt.
Es besteht eine Stadtteilpartnerschaft zwischen Paris 18 („La goutte d’or“) und dem Zürcher Aussersihl-Quartier. Und aus ihr resultieren gegenseitige Ausstellungen und kürzlich ein Konzertabend mit Kindern aus den beiden Städten. Kinder aus über 20 Nationen sangen Lieder und musizierten, denn beide Quartiere sind multikulturelle Orte. Aus Paris unter der Leitung von Patrick und Louise Marty, aus Zürich von Sacha Rüegg.
Das Programm umfasste sogar einen „Blues de la goutte d’or“, die von den Pariser Kindern selbst kreiert worden sei. Zürich eröffnete das Konzert mit einem eigenen Rap und demonstrierte gleich zu Beginn das für die französischen Ohren vermutlich wie Kauderwelsch anzuhörende Schweizerdeutsch. So ging es hin und her. Zuerst die Chöre nach ihrer Herkunft einzeln, im zweiten Teil dann gemeinsam. Auch Joe Dassins „Oh Champs Elysées“ war zu hören und riss das Publikum mit. Packend dann alte Kinderlieder aus der Schweiz mit Jodel-Refrains und ganz eindrücklich der über 65 Jahre alte und an diesem Abend auferstandene, durchlüftete Schlager „Nach em Räge schiint d Sunne“ (Nach dem Regen scheint die Sonne). Da zeigte es sich, dass auch Weltstadtkinder begeistert jodeln können.
Auch das Konzert jener Kinder, die in der „Goutte d’or“ Musikunterricht erhalten, beeindruckte. Einen Riesenapplaus bekam der junge Trompeter, dessen unverfälschte, starke Töne weit ausstrahlten und über unsere Rücken rieseln liess.
Pfarrer Anselm Burr, der die Gäste in seiner Citykirche, dem „Offenen Sankt Jakob“ auftreten liess, steuerte noch eine Geschichte zu den Darbietungen bei. Er erzählte den Kindern, dass in dieser über 100 Jahre alten Kirche eine Persönlichkeit ganz zurückgezogen lebe und eine wichtige Aufgabe erfülle. Sie sei aber scheu, ängstlich und verletzbar und er wisse nicht, ob sie ihm den Wunsch erfülle, sich den Gästen kurz zu zeigen. Er bat uns, die Augen zu schliessen und nach einem Zeichen diese langsam und blinzelnd wieder zu öffnen. Da war dann eine Kerze entzündet und Burr lüftete das Geheimnis. Es sei die Stille, die hier lebe und vor der wir uns und unsere Darbietungen hören können. Sie ermögliche uns aber auch, in der Stille die Stille zu hören.
So habe ich das verstanden. Den französisch sprechenden Kindern wurde das Geheimnis in ihre Sprache übersetzt.
Aus der eigenen Jugend weiss ich, dass solche Erfahrungen prägend sein können. Musik als Mittelpunkt, Treffpunkt von Kindern und jungen Menschen verschiedenster sozialer Herkunft. Gemeinsame Erlebnisse. Gemeinsame Anstrengungen. Gemeinsames Unterwegssein. Das alles ist Horizont erweiternd, Gemeinschaft fördernd und offensichtlich Bestandteil der sozitopischen Kultur.
Ich danke allen, die solches ermöglichen. Den an diesem Abend Sichtbaren und offensichtlich von einem Charisma Begleiteten, aber auch jenen wichtigen Mitarbeitenden, die im Hintergrund wirken, wie es die Stille tut.