Samstag, 10. August 2013

Zürich wird manchmal als Sündenbabel wahrgenommen

Eine Verkäuferin in einer Bäckerei hatte mich gefragt, wo ich heute lebe. Ich hatte ihr erzählt, dass ich hier in Wald ZH geboren worden und wieder einmal zurückgekommen sei. Ich sei in Zürich zu Hause. „Ui!“ rief sie und wollte wissen: „Und dort können Sie leben?“ Ich erzählte ihr vom Wohnen an der Limmat und jetzt am Stadtrand und beinahe am Waldrand. Sie staunte.
Als ich den Artikel im Tagblatt der Stadt Zürich vom 07.08.2013 zum Thema Aidsgefahr an der Technoparty gelesen hatte, konnte ich ihre Frage plötzlich besser verstehen. Wenn die Medien mehrheitlich die Sensationen und die Kriminalität in der Stadt abbilden, muss ein Zerrbild entstehen. Zum erwähnten Artikel gehört auch eine Foto, ein Ausschnitt aus der Menschenmasse einer früheren Parade. Ein Bild ohne Übersicht, wie man sich diesem Gerangel entziehen könnte. Die Menschen stehen so dicht an dicht, dass sie eingepfercht sind.
 
Aber man soll auch wissen: Für die Street-Parade kommen jeweils viele Menschen aus anderen Kantonen und ebenso aus dem Ausland in unsere Stadt. Nicht die Zürcher Bevölkerung repräsentiert die Parade. Es flüchten übrigens manche Zürcher Familien und hier wohnhafte Menschen aus anderen Ländern am Street-Parade-Wochenende aufs Land oder in die Berge.
 
Und ja: Zürich lässt diesen Anlass der narzisstischen Menschen zu. In einer solchen Veranstaltung geht aber das Individuum in der Masse unter. Man verliert sich. Die Exzesse sind bekannt (Alkohol, Drogen, Sex-Abenteuer).
 
Ich kann aber auch von einem gegenteiligen Erlebnis erzählen. Street-Parade 2004. Von jungen Leuten, die sich selber treu blieben. Ich versah den Präsenzdienst in der Predigerkirche in der Altstadt. Die Tür stand offen, den ganzen Nachmittag lang. Es kamen Menschen, die sich hier ausruhen und vom Lärm absetzen wollten. Auch junge Leute, die anfänglich nur auf den Treppenstufen sassen und das Dröhnen aus dem Umzug etwas abseits noch erträglich empfanden.
 
Eine gute Viertelstunde bevor ich die Kirche schliessen musste, begann ich meine Kontrollgänge und löschte vorn im Chor die Kerze aus. Als ich aus dem Untergeschoss zurückkam, sah ich, dass diese immer noch – oder vielleicht schon wieder? – brannte. Ich stutzte und erinnerte mich, dass das auch schon vorgekommen ist, dass sich ein scheinbar gelöschter Docht nochmals entflammte. Ich ging erneut nach vorn und löschte das Kerzenlicht.
 
Auf der vordersten Kirchenbank sassen 4 junge Männer. Einer, der seinen entblössten Oberkörper mit einem gelben Frottiertuch abdeckte, kam auf mich zu und informierte, dass sie die Kerze nochmals angezündet hätten. Es habe ihnen hier bei diesem Licht so gut gefallen.
 
Ich musste sie aber darüber ins Bild setzen, dass ich auf dem Kontrollgang sei und dass die Kirche in etwa 10 Minuten geschlossen werde. Sie verstanden das und gingen bald lautlos weg.
 
Als auch ich die Kirche verlassen hatte und die Tür abschloss, traf ich sie wieder. Jetzt sassen sie auf der Treppe, hatten Getränke bei sich. Und wieder signalisierten sie, dass es ihnen hier gefalle. Ich wünschte ihnen einen schönen Abend, ohne Gehörschaden, und wies noch auf den jetzt grösser gewordenen Platz hin, weil niemand mehr die Kirche betreten konnte. Sie riefen mir zu, sie gäben sich Mühe, und ich solle unbesorgt sein. Sie würden alles wegräumen, was von ihnen jetzt noch herumliege.
 
Ich denke immer wieder einmal an diese jungen Leute, die sich vielleicht zum ersten Mal der Stadt und ihren Attraktionen näherten, etwas scheu und doch hellwach. Und vor allem hatten sie es nicht nötig, ihren Anstand abzulegen.

Donnerstag, 1. August 2013

Erinnerungen an leise Töne in den Feiern zum 1. August

Die Schweiz feiert ihren Bundesstaat – die Schweizerische Eidgenossenschaft – jeweils am 1. August.
 
Als ich Kind war, fiel das Fest bescheiden aus. Man feierte nur am Abend. Und gemütvoll wurde es erst, als es dunkel geworden war.
Meine ersten Eindrücke von diesem Festtag sind stille Berührungen. Höhenfeuer, flatternde Schweizerfahnen, Dorfmusik und vor allem Licht in der Dunkelheit. Wir Kinder trugen unsere Lampions mit dem Schweizerkreuz in die Nacht hinaus. Sie erhellten unsere Wege.
 
Am 01.08. im Jahr 1947 wanderte die Grossfamilie noch vor dem Eindunkeln auf den Bachtel (von 617 auf 1115 m ü. M.), wenn ich mich richtig erinnere. Mein Vater liebte es, seinen Lebensraum aus der Höhe zu überblicken und erklärte uns Kindern von oben herab das Dorf, seine Strassen und Wege und wo wir zu Hause seien. Mich begeisterte vor allem die Sicht auf den Zürichsee.
 
Ich nehme an, dass wir Kinder, Geschwister und Cousins, oben im Restaurant auf dem Bachtelkulm einen Süssmost bekommen haben. Aber mehr faszinierte uns Kinder der brennende Holzstoss und die Hinweise auf andere, weit entlegene Höhenfeuer, die dann im Nachtdunkel gut sichtbar wurden. Dann der Heimweg durch den gespenstischen Wald. Die Vorsicht beim Gehen. Noch sehe ich Baumwurzeln auf dem geschlängelten, schmalen Pfad. Da galt es aufzupassen. Die Kerzen in den Lampions waren schon längst abgebrannt. Wir fanden unseren Weg trotzdem, weil sich die Augen auf die Dunkelheit einstellen können. Diese Erfahrung kann man heute nicht mehr überall machen. Für mich war sie prägend. Zu diesen inneren Bildern gehört auch eine fröhliche Stimmung, für uns Kinder, dass wir so lange aufbleiben und miteinander durch die Nacht gehen konnten. Und dass wir die Angst vor der Nacht ablegen konnten, weil wir gemeinsam unterwegs waren.
 
Gewiss haben uns die Eltern erklärt, was wir feierten. Aber erst später verstand ich ihre stille Freude an diesem 1. August, denn der kurz vorher beendete 2. Weltkrieg lastete noch auf ihnen, und die bessere Zukunft zeigte sich vorerst noch nicht.
 
Seitdem dann die Hochkonjunktur die ganze Bevölkerung erfasste, gehören Raketen und dominante Feuerwerke und in den letzten Jahren die teuren Fleischstücke auf dem Grill zum 1. August. Seither ist dieses schweizerische Fest laut geworden und hat Besinnliches verdrängt.
 
Mit Primo feierte ich den 1. August einmal auf der Halbinsel Au (Zürichsee). Dabei sahen wir viele kleine, auf dem Wasser torkelnde Lichter. Es war eine Aktion von Swissaid und kam diesem Hilfswerk zugute. Auch wir konnten Kerzenbecher kaufen und sie in ein bereitgestelltes Gitter stellen. Wenn es gefüllt war, trug es ein Froschmann weg. Er setzte sie im See aus, indem er ihnen im Wasser das Drahtgitter von unten her entzog. Da waren sie dann frei für ihre persönliche Reise. Sie schwankten je nach Strömung, manchmal leicht und dann wieder stark. Wir konnten zuschauen, wohin das Wasser sie trieb. Eine Weile lang Richtung Zürich. Dann kamen sie zurück. Später zogen sie Richtung Meilen ein Stück über den See. Und trafen zu unserer Überraschung gegen 23 Uhr im Hafen der Halbinsel wieder ein. Seltsam schön. Von niemandem gesteuert.
 
Zu Beginn ihrer Reise konnte ich unsere beiden Becher im Auge behalten. Aber auf einmal waren sie im grossen Ganzen unterwegs. Dieses „Eigene im Ganzen“ hat mich an diesem Abend bewegt. Es passt zu mir und zu meiner Heimat.

Letztes Jahr, am 1. August 2012, besuchten wir das Bundeshaus in Bern, den Sitz von Regierung und Parlament der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
 
Wie sich herausstellte, steht jeweils am Bundesfeiertag das Bundeshaus für Besucher offen. Diese „Offene Tür“ benützten wir erstmals, können sie empfehlen.
 
Wir durften uns frei bewegen und in den Sälen und Gängen aufhalten.
 
Wir waren zu einem guten Zeitpunkt angekommen. Die Warteschlange draussen vor dem Eingang war nicht erschreckend lang. Es fühlte sich gut an, langsam unter den schweizerischen Kantonsflaggen vorwärts zu kommen. Diese waren wie Wäsche hintereinander aufgereiht.
 
Vor uns ging eine Gruppe Compatriotes, also Miteidgenossen aus der welschen Schweiz, und hinter uns einige Gäste aus Japan. Der Eintritt vollzog sich wie beim Einchecken im Flughafen. Man wurde durchleuchtet und auf metallene Gegenstände überprüft. Bei Primo strahlten verschiedene Lampen auf. Seinen Hosentaschen entnahm er Druckbleistift, Brille im Blechetui und den kleinen Schreinermeter, der ebenfalls Metallteile an sich trägt. Ich erzeugte kein Licht, konnte sofort eintreten.
 
Im Nationalratssaal richtete sich um 9:40 h gerade die „Hackbrettformation Andersch“ ein. Wir fanden rechtzeitig einen Sitzplatz und konnten das Konzert geniessen, welches eine ¾-Stunde dauerte. Es stimmte uns heiter und aufmerksam für die dann folgende Fragestunde mit dem Ständerats- und dem Nationalratspräsidenten.
 
Die positive Haltung der beiden Politiker konnte wohl niemand übersehen. Ihre Liebe zur Schweiz war spürbar, auch ihr Wille, dem Land und Volk zu dienen.
 
Ein Kind wollte wissen, wie alt die Schweiz sei. Da stellte es sich heraus, dass es kein ewig gültiges Geburtstagsdatum gibt. Die letzte Anpassung sei mit dem Eintritt des Kantons Jura 1979 nötig geworden.
 
Eine junge Frau sprach die von ihr empfundene Steuerungerechtigkeit an. Es stimme, wurde ihr geantwortet, dass Paare mit Kindern Steuerabzüge machen können. Man solle bedenken, dass solche Eltern auch mehr finanzielle Verpflichtungen hätten und darum etwas Ausgleich erhielten.
 
Auch ausländische Gäste stellten Fragen von ihren Standpunkten aus. Alle wurden klar und freundlich beantwortet.
Abschliessend besuchten wir den Ständeratssaal, die Wandelhalle und im 3. Stock auch den neu eingerichtete Ratssaal mit den heute erforderlichen technischen Installationen. Ein schlichter, zweckdienlicher Raum. Ohne Dekoration. Auf seine nüchterne Art auch schön.
 
Ansprechende Bilder sah ich im Ständeratssaal. Speziell die dargestellte Landsgemeinde, ein 5-teiliges Gemälde von Albert Welti, begann Geschichten zu erzählen. Auch vom Leben, vom Handeln und Verhandeln, von Lösungen, die errungen werden müssen. Ebenso erzählte die Darstellung von Pflichten, Idealen und Hingabe.
Auf der Haupttreppe oben vor dem 1. Stock präsentierte die Schweizerische Schokolade-Vereinigung eine Auslage aller Schweizer Schokolademarken. Gegen den Coupon, der am Eingang verteilt worden war, konnte die Lieblingsschokolade bezogen werden. Ich staunte über Namen und Produkte, die ich nicht kannte.
 
Die gewählte Schokolade nahm ich gern entgegen. Danke schön!