Mittwoch, 24. Februar 2016

Lebensweg oder Lebensfaden, auch roter Faden genannt

Primo Lorenzetti «Der rote Faden» 2. Andruck


Diese Begriffe sind uralt und immer noch gültig. Und immer noch verständlich. Auf ein Leben zurückschauen, heisst die Wege erkennen, die wir gegangen sind.

Vor 20 Jahren gestaltete Primo einen solchen Lebensfaden auf einer 16 mm dicken Multiplexplatte. Ich war nicht zugegen, als er ihn aufzeichnete, stelle mir aber vor, wie schwungvoll er vorgegangen ist.

Dann schnitt er die ersten beiden Schichten der Sperrholzplatte ab, liess nur den aufgezeichneten Faden stehen. Er nennt diesen Prozess ausgrunden.

Das Sperrholz ist für eine solche Arbeit bestens geeignet. Massives Holz hingegen, das auf Temperaturen und Luftfeuchtigkeit sensibel reagiert, würde eine solche Arbeit zerstören.

Der Druckstock, wie er hier zu sehen ist, hängt neuerdings wie ein Bild in unserer Wohnung. Noch immer verbreitet diese Arbeit Freude. Je älter wir werden verstehen wir, dass die aufgezeichneten Wege darauf hinweisen, dass sie eines Tages zu Ende sind.

Unsere Enkelkinder haben diesen Faden nie gesehen. Vor 20 Jahren waren sie noch nicht auf der Welt. Und der Druckstock damals im Lager der Werkstatt gut versorgt.

Dieser Tage, als ich Zeichnungen und Briefe der beiden Mädchen ordnete, fand ich ein A4-Blatt mit einer Fadenzeichnung ähnlicher Art. Von Nora. Da war sie gerade 5-jährig und besuchte noch die Ecole Maternelle in Paris. Erstaunlich die Ähnlichkeit mit Grossvaters Werk. Wahrscheinlich haben wir uns schon damals darüber gewundert. Und diese Überraschung dann wieder vergessen.

Als Kind wusste ich noch nichts von sogenannten Lebenswegen. Und solche Zeichnungen, wie ich sie gerade vorstelle, habe ich keine gemacht. Ich erinnere mich aber, dass ich mich in der Schulzeit unfrei fühlte. Ich sah mich in einem Bahnwagen, war Teil von ihm, musste zwangsläufig immer auf seiner Schiene bleiben. Doch eines Tages träumte ich, dass ich angekommen sei. Der Zug hielt an. Ich stieg aus. Hier endete das Geleise. Was für eine grosse Erleichterung. Ich befand mich in einer Einöde, einer Art Pampa. Ganz allein. Aber erlöst und frei. Und auf eine bescheidene Art glücklich. Da begann mein persönlicher Weg. Er mag dem Bild meines Mannes und den Schwüngen von Nora heute sehr ähnlich sein.