Dienstag, 28. April 2009

Die Fahrt nach Fluntern – Mit dabei: Alltagskollege Stress

Ich fahre mit der S-Bahn weg. Heute steige ich schon auf der Station „Hardbrücke“ aus und will den Bus nach Fluntern benützen. Es ist 7 Uhr morgens, ungewöhnlich früh für mich. Für alltägliche Kommissionen zu früh. Es ist ein Arztbesuch fällig. Meine Ohren müssen schon wieder von Schmalzpfropfen befreit werden.
 
Darum bin ich heute mitten unter den Menschen, die zur Arbeit gehen und sich dem täglichen Stress unterziehen.
 
Dieser Lärm! Dieses Quitschen der Eisenbahnschienen und das Vibrieren der Fahrbahn, die über das aus Zürich hinausführende Schienennetz gespannt ist. Meine Ohren möchten aufschreien. Sie stechen mich. Und die Luft ist dreckig.
 
In solch einer Stimmung bedaure ich alle, die tagtäglich hier durchkommen und sich erschüttern lassen müssen. An der Busstation „Hardbrücke“ treffen sich zu viele Lärmquellen und stürmen auf uns ein. Täglich brausen 70 000 Autos über diese Fahrbahn. Unter ihr verkehren, ebenfalls täglich, 550 Züge der S-Bahnlinien.
 
Die Buslinie 33 zum Zürichberg führt oberhalb von Wipkingen an prächtigen Bauten aus der Jugendstilzeit, an noblen Familiensitzen und Villen vorbei. Bestandene Bäume scheinen diese etwas zu schützen, denn da, wo der Bus fährt, ist auch allgemeiner Verkehr. Und mit ihm Verschmutzung, Hektik und Abnützung. Da nützt die Adresse vom Zürichberg nicht mehr so viel. Von der einstigen Schönheit dieser Wohnlage ist einiges an Lack abgefallen.
 
Und erst dort, wo das Gasthaus „Vorderberg“ und ihm gegenüber die alte Kirche Fluntern stehen, fühle ich den Schmerz des Ortes beinahe körperlich. Störenfried ist eindeutig das Auto und die damit verbundenen Zwänge. In alter Zeit mögen Wege und Strassen, vermutlich 7 an der Zahl, von einem bedeutenden Mittelpunkt ausgegangen sein. Dieser ist aber nicht mehr zu finden. „Vorderberg“ und Kirche sind grundsätzlich Schmuckstücke, aber ihren Plätzen ist die Seele geraubt worden. Musste vielleicht schon dafür gekämpft werden, dass diese historischen Bauten überhaupt noch dastehen dürfen? Das weiss ich nicht.
 
Unter der Linde neben der alten Kirche stehend, überblicke ich den Ort. Am meisten beeindruckt mich die einfühlsame Schleife der Tramlinienführung. Als einzige vermag sie es, eine Insel zu schaffen und Fahrgäste zu beschützen. Wehmütig aufbegehrend, denke ich wieder einmal: Was doch dem Auto alles geopfert worden ist! Kein Wunder, dass man darüber nachdenkt, ob eine Seilbahn vom Bahnhof Stettbach zum nahe gelegenen Zoo gewisse Verkehrsprobleme lösen könnte.
 
Dann verabschiede ich mich von der Linde und mache mich auf den Weg zum Arzt. Eine halbe Stunde später sind meine Ohren gereinigt und ein anschliessender Hörtest gemacht. Mit einem Medikament, das mein Hörproblem heilen soll, bin ich wieder entlassen. Ich freue mich über den guten Bescheid und kehre sehr gern nach Altstetten, an den stillen Waldrand, zurück.
 
Am Abend dann, vor dem Einschlafen, wiederholt sich vieles. Kaum habe ich die Augen geschlossen, sehe ich Menschen auf mich zukommen, weitergehen und andere auftauchen. Wir schauen uns flüchtig in die Augen, erkennen uns aber nicht. Es bedroht mich niemand, aber ich befinde mich mit ihnen im Stress. Wir alle hasten vorbei. Glücklicherweise kann ich die Augen öffnen. Dann ist der Spuk vorbei. Schliesse ich sie wieder, bin ich gleich wieder unter Druck. Während die Menschen, denen ich am Morgen begegnet bin, vielleicht unter Zeitdruck litten, wurde mein Druck (vor allem auf der Brust) durch die verordnete Pille ausgelöst. Statt dass sie damit begann, mich zu heilen, löste sie bedrohliche Nebenwirkungen aus und zeigte mir diese in den am Morgen geschauten Bildern.
 
Um meiner grossen Unruhe auszuweichen, lasse ich dann ab Computer eine Tonsequenz meiner 2½-jährigen Enkelin Nora in der Endlosschlaufe ertönen. Der Sprache noch nicht ganz mächtig, versucht sie in dieser Aufnahme, ein französisches Kinderlied zu singen. Berührend sind ihre Ansätze, Wörter zu formen. Indem ich mich ganz auf sie konzentriere, kann ich meine Angst fahren lassen. Und später getraue ich mich sogar noch, den Blutdruck zu messen. Erschreckend hoch. Und ich war der Meinung, ich hätte mich beruhigt. Ich schon, doch der Körper muss mit Chemie fertig werden und kann weder auf mich noch auf die kleine Nora hören.
 
Das Schöne an der ganzen Sache: Ich habe wieder einmal erfahren, wie Bilder mein Denken und Fühlen unterstützen können. Interessant finde ich, dass die frisch eingespeisten Bilder von jenem Morgen gleich zur Belehrung eingesetzt worden sind.
 
Und das Medikament habe ich abgesetzt. Die beschriebenen Nebenwirkungen waren nicht die einzigen.

Freitag, 10. April 2009

Die Schüler von heute und das Klassenfoto von einst

Es wird wieder geschrien. Die Kinder spüren den Frühling. Sie rennen, spielen und kämpfen. Jedes ringt um einen eigenen guten Platz, will jemand sein, will im Spiel gewinnen.
 
Schüler gehen jetzt oft an meinem Bürofenster vorbei. Die wandelnden Farben lenken mich jeweils von der Arbeit ab. Seitdem die Sträucher radikal geschnitten worden sind, ist ein Durchschlupf zwischen 2 Zäunen sichtbar geworden. Jetzt sind Wege über die grosse Wiese beliebt. Die Kinder schätzen die Abkürzung zum Schulhaus. Ein schöner Weg, weich und grün. Völlig neu ist diese Situation auch für uns Anwohner, weil jetzt vermehrt Papierfötzel herumfliegen und herumliegen.
 
Auch heute Morgen war ich gar nicht begeistert, als ich, schwer beladen, auf dem Heimweg am Pausenplatz des Schulhauses Chriesiweg vorbei kam und aufgerufen wurde, einen Ball, der über den hohen Maschenzaun geflogen war, zurückzuwerfen. Nein! Dazu war ich gar nicht in der Lage. Der Rücken jaulte schon seit Minuten wegen meiner Lasten. Ich hatte Mühe, die Taschen und Säcke auszubalancieren und heimzutragen. Mit Buhrufen übergossen, ging ich weiter. Aber ein schlechtes Gewissen konnten mir die Primarschüler nicht anhängen. Darf man der Jugend nicht mehr zutrauen, einem verlorenen Ball selber nachzurennen? Eine Strecke von 20 Metern ist meiner Meinung nach zumutbar. Oder dürfen die Schüler den Pausenplatz vielleicht nicht verlassen? Noch als ich darüber nachdachte, kam ein junger Mann daher und erfüllte den Wunsch.
 
Vor ein paar Tagen wieder eine ganz andere Situation: Wieder Pause. Wieder Fussball spielende Buben. Und ganz vorne am Zaun, ein Schüler der betete. Mit gefalteten Händen stand er da. Der Blick ins Leere gerichtet. Ganz still, ganz versunken. Erfüllte er eine Pflicht? Oder brauchte er Hilfe? An wen wandte er sich? Mit dem Rücken zu seinen Kollegen, war er von ihnen getrennt. Aber nichts deutete darauf hin, dass er ausgegrenzt worden wäre. Er muss sich diese stille Ecke ausgesucht haben. Als sich unsere Blicke trafen, kam er in die Welt und zu seinen Kollegen zurück.
 
Und ich verreise seit einigen Tagen öfters in meine eigene, weit zurückliegende Kinderwelt. Ich hatte unserer Tochter davon erzählt, dass im Internet unter www.klassenfotoarchiv.ch eine Sammlung von rund 50 000 Schulklassen-Fotografien aus der Zeit von 1927‒1995 aufgerufen werden könne. Sie setzte sich sofort an den Computer und durchforstete die Schulhäuser aus dem Zürcher Industriequartier. Wir fanden 4 von 5 Geschwistern meiner Herkunftsfamilie.
 
Eine Foto von 1948 mit mir als Drittklässlerin bewegte mich ganz besonders. Ich wusste, dass es diese gab. Meine Eltern konnten sie sich aber nicht leisten, weil der damalige Umzug vom Zürcher Oberland in die Stadt Zürich zu viel Geld verschluckt hatte. Mutter erklärte mir, dass es noch mehrere Gelegenheiten für eine Klassenfoto geben werde. Wenn ich mich auf diesem Bild anschaue, erinnere ich mich augenblicklich an die finanziellen Sorgen, die mir als Kind nicht verborgen blieben. Wie wohl hätte ich mich gefühlt, wenn ich den Eltern unter diesen Umständen überhaupt keine Auslagen verursacht hätte.
 
Aber ich sehe auch anderes. Frau Anna Huber, die Lehrerin, die mich als Zuzügerin im Schulhaus Kornhaus in ihrer Klasse liebenswürdig willkommen hiess. Diese Foto habe ich bestellt. Sie liegt jetzt auf meinem Schreibtisch und zieht mich immer wieder in ihren Bann. In dieser Klasse habe ich als 39. Schülerin die Stadtkinder und das Leben in Zürich kennen gelernt. Mein Platz ist am Rande dieser Foto. Der besorgte, ins Leere gerichtete Blick ähnelt dem betenden Buben aus dem Schulhof Chriesiweg. Nach und nach erinnere ich mich an viele Namen. Geschichten steigen auf.
 
Diese Fotosammlung verdankt der Lehrmittelverlag des Kantons Zürich dem Fotografen Walter Haagmans und seinem Vater Hubert Haagmans. Die Aufnahmen stammen aus der Zeit von 1927‒1995. Die Originale befinden sich heute im Staatsarchiv. Das im Internet abrufbare Klassenfoto-Archiv wurde zum Jubiläum von 175 Jahre Volksschule Kanton Zürich aufgebaut. Ein Rundgang durch diese Zeiträume ist spannend. Allein das Aussehen der Kinder, ihre Kleider, Frisuren, ihre Schuhe lassen den Wandel verfolgen. Die grossen Klassen wurden zunehmend kleiner und die Gesichter der Lehrer und Lehrerinnen verloren die Strenge.
 
Ich frage mich jetzt: Was ist aus allen geworden? Nur von wenigen weiss ich es.