Es wird wieder geschrien. Die Kinder spüren den Frühling. Sie
rennen, spielen und kämpfen. Jedes ringt um einen eigenen guten Platz,
will jemand sein, will im Spiel gewinnen.
Schüler gehen jetzt oft an meinem Bürofenster vorbei. Die
wandelnden Farben lenken mich jeweils von der Arbeit ab. Seitdem die
Sträucher radikal geschnitten worden sind, ist ein Durchschlupf zwischen
2 Zäunen sichtbar geworden. Jetzt sind Wege über die grosse Wiese
beliebt. Die Kinder schätzen die Abkürzung zum Schulhaus. Ein schöner
Weg, weich und grün. Völlig neu ist diese Situation auch für uns
Anwohner, weil jetzt vermehrt Papierfötzel herumfliegen und herumliegen.
Auch heute Morgen war ich gar nicht begeistert, als ich, schwer
beladen, auf dem Heimweg am Pausenplatz des Schulhauses Chriesiweg
vorbei kam und aufgerufen wurde, einen Ball, der über den hohen
Maschenzaun geflogen war, zurückzuwerfen. Nein! Dazu war ich gar nicht
in der Lage. Der Rücken jaulte schon seit Minuten wegen meiner Lasten.
Ich hatte Mühe, die Taschen und Säcke auszubalancieren und heimzutragen.
Mit Buhrufen übergossen, ging ich weiter. Aber ein schlechtes Gewissen
konnten mir die Primarschüler nicht anhängen. Darf man der Jugend nicht
mehr zutrauen, einem verlorenen Ball selber nachzurennen? Eine Strecke
von 20 Metern ist meiner Meinung nach zumutbar. Oder dürfen die Schüler
den Pausenplatz vielleicht nicht verlassen? Noch als ich darüber
nachdachte, kam ein junger Mann daher und erfüllte den Wunsch.
Vor ein paar Tagen wieder eine ganz andere Situation: Wieder Pause.
Wieder Fussball spielende Buben. Und ganz vorne am Zaun, ein Schüler
der betete. Mit gefalteten Händen stand er da. Der Blick ins Leere
gerichtet. Ganz still, ganz versunken. Erfüllte er eine Pflicht? Oder
brauchte er Hilfe? An wen wandte er sich? Mit dem Rücken zu seinen
Kollegen, war er von ihnen getrennt. Aber nichts deutete darauf hin,
dass er ausgegrenzt worden wäre. Er muss sich diese stille Ecke
ausgesucht haben. Als sich unsere Blicke trafen, kam er in die Welt und
zu seinen Kollegen zurück.
Und ich verreise seit einigen Tagen öfters in meine eigene, weit
zurückliegende Kinderwelt. Ich hatte unserer Tochter davon erzählt, dass
im Internet unter www.klassenfotoarchiv.ch eine Sammlung von rund
50 000 Schulklassen-Fotografien aus der Zeit von 1927‒1995 aufgerufen
werden könne. Sie setzte sich sofort an den Computer und durchforstete
die Schulhäuser aus dem Zürcher Industriequartier. Wir fanden 4 von 5
Geschwistern meiner Herkunftsfamilie.
Eine Foto von 1948 mit mir als Drittklässlerin bewegte mich ganz
besonders. Ich wusste, dass es diese gab. Meine Eltern konnten sie sich
aber nicht leisten, weil der damalige Umzug vom Zürcher Oberland in die
Stadt Zürich zu viel Geld verschluckt hatte. Mutter erklärte mir, dass
es noch mehrere Gelegenheiten für eine Klassenfoto geben werde. Wenn ich
mich auf diesem Bild anschaue, erinnere ich mich augenblicklich an die
finanziellen Sorgen, die mir als Kind nicht verborgen blieben. Wie wohl
hätte ich mich gefühlt, wenn ich den Eltern unter diesen Umständen
überhaupt keine Auslagen verursacht hätte.
Aber ich sehe auch anderes. Frau Anna Huber, die Lehrerin,
die mich als Zuzügerin im Schulhaus Kornhaus in ihrer Klasse
liebenswürdig willkommen hiess. Diese Foto habe ich bestellt. Sie liegt
jetzt auf meinem Schreibtisch und zieht mich immer wieder in ihren Bann.
In dieser Klasse habe ich als 39. Schülerin die Stadtkinder und das
Leben in Zürich kennen gelernt. Mein Platz ist am Rande dieser Foto. Der
besorgte, ins Leere gerichtete Blick ähnelt dem betenden Buben aus dem
Schulhof Chriesiweg. Nach und nach erinnere ich mich an viele Namen.
Geschichten steigen auf.
Diese Fotosammlung verdankt der Lehrmittelverlag des Kantons Zürich dem Fotografen Walter Haagmans und seinem Vater Hubert Haagmans.
Die Aufnahmen stammen aus der Zeit von 1927‒1995. Die Originale
befinden sich heute im Staatsarchiv. Das im Internet abrufbare
Klassenfoto-Archiv wurde zum Jubiläum von 175 Jahre Volksschule Kanton
Zürich aufgebaut. Ein Rundgang durch diese Zeiträume ist spannend.
Allein das Aussehen der Kinder, ihre Kleider, Frisuren, ihre Schuhe
lassen den Wandel verfolgen. Die grossen Klassen wurden zunehmend
kleiner und die Gesichter der Lehrer und Lehrerinnen verloren die
Strenge.
Ich frage mich jetzt: Was ist aus allen geworden? Nur von wenigen weiss ich es.
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