Montag, 24. September 2007

Eine Bratwurst regt zum Nachdenken über das Leben an

Kurz vor der Abfahrt setzte sich eine Frau zu mir ins Abteil. Wir reisten in der S-Bahn dem linken Zürichseeufer entlang. Genussvoll ass sie eine Bratwurst und schmunzelte. Sie habe Hunger gehabt, sei zufällig am Wurststand vorbeigekommen. Den würzigen Düften konnte sie nicht widerstehen. Wie wenn sie sich entschuldigen wollte, sagte sie noch: „So etwas macht man ja eigentlich nicht. Essen im Gehen, Essen in der Eisenbahn, das war für uns doch tabu.“ Diese Aussage verrät unser Grossmutter-Alter. Sie hatte mich ganz selbstverständlich auch in diese Erfahrungen einbezogen.
 
Sie sinnierte weiter: Alles sei heute einfach anders. Aber sie bewertete die Umwälzungen nicht. Das hat mir gefallen. Ich empfinde das Leben auch als eine fortwährende Entwicklung. Manchmal denke ich, zum Leben gehöre ein uns alle umfassendes Kaleidoskop, das sich in gewissen Zeitabständen bewege und uns neue Muster hinhalte. Darum finde jede Generation ihre eigenen, neuen Themen und Lebensmodelle, mit denen sie dem Paradies näherzukommen versucht. Zugegeben, Veränderungen sind auch Verunsicherungen und können mühsam und schmerzhaft sein.
 
Einmal alt geworden, können wir der irrigen Ansicht verfallen, jetzt seien dann alle Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten, erschöpft.
 
Aber nur darum, weil wir viele Modelle aufblühen und verwelken sahen, wird die Welt sicher nicht sofort untergehen.

Samstag, 15. September 2007

Opfikerpark ZH: Wenn die Prärie zum urbanen Raum wird

Die Willkomm-Tafel beim Eintritt in den Park erleichterte mir die Orientierung. Sie wies darauf hin, dass ich ausserhalb der Stadt Zürich stehe. Es stand da geschrieben: „Willkommen im Opfiker-Park. Baden im See erfolgt auf eigene Verantwortung. Stadt Opfikon.“ Ich hatte also eine Grenze, oder wie heute gesagt wird, eine Nahtstelle überschritten. Hier dehnt sich der Grossraum Zürich aus. In fernen Jahren, so vermute ich, wird Opfikon ein Stadtteil sein. An diesem Tag aber wusste ich nicht einmal, dass Opfikon selber schon eine Stadt geworden ist. Das verlandete Gebiet, das hier noch sichtbar ist, deutet aber darauf hin, dass hier einmal Landwirtschaft betrieben worden ist.
 
Ich bin erstmals hier. Einerseits wollte ich endlich die seit ein paar Monaten verlängerte Tram-Linie Nummer 11 bis zur neuen Endstation Auzelg kennen lernen. Im Vorbeifahren entdeckte ich die in Einerreihe angepflanzten Bäume, die auf eine Promenade hinwiesen. Also: Nach der Endstation-Schlaufe im Tram sitzen bleiben und zur Station Orionstrasse zurückfahren. Dann Eintauchen in die aus dem Nichts geborene urbane Parkanlage. Im Rücken das Leutschenbachquartier mit den Gebäuden des Schweizer Fernsehens.
Dieses Gebiet mit seinen gewaltigen Umwälzungen erinnerte mich augenblicklich an den Ort „Villeneuve Prairie“ an der RER-Metro-Linie D, die als Schnellbahn aus Paris hinausführt. Dort entdeckte ich vor Jahren den Namen „Neue Stadt in der Prärie“. An beiden Orten zeigte sich mir neben der soeben entstandenen Architektur auch das unbebaute und dahindämmernde Land.
 
Es war Sonntag gegen Mittag hin, als Primo und ich auf Opfiker-Boden eintrafen. Der Park noch am Schlafen. Parkwächter aber an der Arbeit. Sie sorgten für Ordnung und Sauberkeit, sammelten da ein Papier, dort eine Blechbüchse ein. Der Wunsch nach Perfektion ist hier gut spürbar. Nichts Störendes soll vom Gesamtkunstwerk dieses neu geschaffenen Erholungsgebietes ablenken. Die Parkwächter in ihren gelben T-Shirts wirkten wie das Tüpfchen auf dem i.
 
Die Parkgärten von heute sind einer strengen Architektur verpflichtet. In Reih’ und Glied oder zu rechteckigen Flächen gestaltet, stehen die Bäume da. Aber die Schattenwürfe sorgen dafür, dass die Strenge gelockert wird. Über das Wasser führen Stege. Auf so genannten Kanzeln wachsen Platanen heran, die in einigen Jahren ein Dach erstellen und den Ort zum lauschigen Schattenplatz gestalten werden.
 
Der künstlich angelegte See bezauberte mich sofort, weil er alles abbildet, was in seinem Umfeld steht oder wächst. Bäume, Schilf, Mauern, Stege, Gebäude, eine Starkstromleitung und auch den Himmel mit der blinzelnden Sonne und den Wolkenfrachten. Alle Formen erscheinen auf dem Wasser weicher, weil es sich leicht bewegt. Es kam mir vor, wie wenn der Blick aufs Wasser die Gefühle dieses gesamten Raumes auffangen könnte. Alles, was nüchtern, allein der Zahlenwelt entsprungen gebaut worden ist, zeigt sich auf der Wasseroberfläche mild und weich.
 
Auch die Sonne zeigte sich im See und konnte dort ohne Sonnenfilter fotografiert werden. Selbst die Rauch- oder Wasserdampfsäule vom nahe gelegenen Kehrichtheizkraftwerk und Recyclinghof Hagenholz liess sich auf dem Wasser abbilden. Erstaunlich, aus welchen Weiten dieser künstliche See Bilder aufnehmen kann.
 
Die auf der linken Seite neu erstellten Wohnungsbauten machten mir deutlich, warum wir solche Häuser mit dem Wort „Block“ bezeichnen. Rechteckige Kuben, ohne Schnickschnack.
 
Am Ende der geraden Parkstrasse wurde eine schräge Betonmauer an den Hügel gebaut. In meinen Augen eine Schutzwand, aus Primos Sicht ein architektonisches Element. Wir sahen Kinder, wie sie diesen Ort erkletterten. Jenseits des Hügels die überdachte Autobahn.
 
Im Bereich der Wohnbauten sind Durchsichten zu Geschäftsbauten in eine hintere Region auszumachen. Diese stehen direkt an der Bahnlinie von Zürich nach Flughafen Kloten.
 
Als unsere Begeisterung so richtig angeschwollen war, stiegen Flugzeuge auf, donnerten über uns hinweg und erschreckten uns. Aha. Der Flughafen ist ja in unmittelbarer Nähe. Wie gehen die Bewohner dieser schönen Anlage mit dieser Hypothek um?
 
Danach verstand ich, warum hier die Wege Namen von Flugpionieren tragen. Da heisst einer Hamilton-Promenade, ein anderer Lindbergh-Allee.
 
Der Rundgang führte uns auf einem geschwungenen Weg nach rechts an den Parkrand. Hier wachsen  Bäume, die ihren Platz möglicherweise vor Jahren noch selber wählen konnten. Sie schotten den Raum dahinter ab. Da und dort sind Feuerstellen angebracht.
 
Auf dem Rückweg zeigte sich die Silhouette noch gegen Oerlikon hin. Da sind zwei Kirchtürme, die sie mitgestalten. Von hier aus gesehen weit weg und in keiner Weise dominierend. Sie gehören einfach zum Horizont.
 
Und über allem ein weiter, offener Himmel, der sich auf die Erde senkt. Hier wird er zu allen Jahreszeiten und mit allen Wetterkapriolen spannend zu erleben sein. Vielleicht auch in klaren Nächten.
 
Die Fläche dieses Gebietes für Naherholung und Freizeitgestaltung ist übrigens rund 12,8 Hektaren gross.

Mittwoch, 5. September 2007

Mathon GR: Die letzten Farbtupfer auf meine Ferienberichte

Auf dem Heimweg,  von Lohn (Graubünden) herkommend, begann es zu regnen. In der Rinne am Strassenrand sammelte sich das Wasser. Es bildeten sich Luftblasen, die uns begleiteten. Es gab da ganze Blasen-Familien, die sich zusammenfanden, grosse und kleine Gruppen und auch Einzelgänger. Manche lösten sich schnell wieder auf, andere waren langlebig. Neben ihnen hergehend, wurde unser Heimweg zum Spiel.
 
So sehe ich heute die Ferientage an mir vorüberziehen und entschwinden. Letzte Gelegenheit also, wenn ich nochmals vom Erlebten erzählen will.
 
Thema Wasser: Das Bachdelta auf halbem Weg nach Wergenstein
Primo nannte den Zusammenfluss zweier Bäche so: Bachdelta. Ihre Namen kennen wir nicht. Es schien uns nur, dass sie sich auf ihrem allerersten Wegstück in die Welt hinaus befänden und sich noch mit vielen Bächen und Flüssen vereinigen werden.
 
In diesem archaischen Gerölldelta gefiel es uns ausnehmend gut. Wir schauten den Sturzfluten zu, wie sie über den Felsabbruch hinab donnerten und an den Gesteinsbrocken schliffen. Es zeigte sich manches Gesicht im Stein, als wir die Strukturen betrachteten. Viele Formen, viele Farben. Auch eine weinrote war dabei. Der eine Bach kam ruhig daher, locker über die mächtigen Gesteinsbrocken springend. Der andere zeigte sich wild. Nach ihrem Zusammenfluss verschwindet das Wasser wie in einem Trichter unter der Strasse und stürmt dann durch das bewaldete, tiefe Tobel dem Tal zu, wo es dann in den Hinterrhein einfliesst.
Thema Bewegungsfreiheit
Einmal, als Mena zeichnete, sagte sie ganz unvermittelt: „Die Wohnung in Paris interessiert mich nicht.“ Es war, als ob sie ihren Gedanken einen Riegel schieben wollte. Sie war jetzt in Mathon, und nichts sollte sie von hier ablenken. Als ich sie verwundert anschaute, sprach sie gar noch abschätzig über ihr Zuhause.
 
Das hat seinen Grund: In Paris muss sie einen Code eingeben, wenn sie die Haustür öffnen will. Und sie darf nie alleine das Haus verlassen. Ganz anders in Mathon. Hier war sie frei, sprang durch die Haustür hinaus und kam über 2 Ecken und den Sitzplatz wieder zurück. Der Ort ist von seiner Lage her geschützt. Die Grenzen, die ihr in Paris gesetzt sind, gab es hier nicht. Und auch in der modern eingerichteten Wohnung stand den Kindern ausreichend Raum zur Verfügung.
 
Post und Zeitung
Die Post von Mathon ist von Montag bis Freitag von 7.45 h bis 8.45 h offen. Und der aus Zürich umgeleitete „Tages-Anzeiger“ wurde uns schon um 9 Uhr vor die Haustür gelegt. Ein Service, der vielleicht nur in der Schweiz so perfekt funktioniert. Mena rannte dann hinaus und holte das Blatt für den Grossvater. Die papierene Zeitung war eine Entdeckung für sie. Ihre Eltern lesen ihre Zeitung nur im Internet. Jedesmal schauten wir zusammen die Wetterprognosen an. Die mit Sonne, Wolken, Regen und in entsprechenden Farben dargestellte Wetterentwicklung ist auch für ein 5-jähriges Kind verständlich und spannend. Vorlesen musste ich nur, was zu Paris geschrieben stand.
 
Das Postauto brachte auch die Lebensmittel aus dem Tal hinauf. Einmal pro Woche war eine grosse Anlieferung. Da konnten dem Bauch dieses Gefährts alle bestellten Waren, auch Gemüse und Früchte, entnommen werden. Es traf sich, dass ich diese Ankunft einmal miterlebte. Primo packte gleich zu und half beim Ausladen. In solchen Momenten fühlte ich mich den Menschen aus Mathon sehr nahe. Ich bewundere ihre innovative Art. Sie kennen den Wert ihrer Region und verstehen es, ihrer Jugend tragfähige Perspektiven zu vermitteln, ohne die Seele dieser einmaligen Region zu verkaufen. Ihr Internet-Auftritt  www.muntsulej.ch ist in diesem Sinne beeindruckend.
 
Restaurant muntsulej
Für die Enkelkinder gehörten die Pommes frites, Glacékugeln und der Wirt, der für uns Musik auflegte, zu den Höhepunkten der Ferien. Mena sprach es in dieser Reihenfolge aus und ihre 1-jährige Schwester wippte seither jedesmal, wenn sie das Wort „Musik“ hörte. Ganz nach dem Motto von Franz Schweighofer „Kein Gast zu gross, kein Gast zu klein, um herzlich willkommen zu sein.“
 
Auch die Wirtin vom Gasthaus Orta in Lohn sei noch erwähnt. Einfühlsam gelang es ihr, Mena die Angst vor dem grossen Hund wegzunehmen.
 
Schlussbild
Noch immer rätsle ich, ob das, was ich gesehen habe, Wirklichkeit war oder ob ich ein inneres Bild geschaut habe.
 
An einem der letzten Ferientage hörte ich auf der Höhe der Post das Gebimmel einer Kuhglocke näherkommen. Ich wartete. Aus dem toten Winkel an der Strasse gegen Wergenstein sah ich einen Sennenhund daherkommen, gleich hinter ihm eine grosse, drahtige Frau mit gebändigtem Kraushaar, einen Stecken in der Hand, neben ihr die Kuh, die den Umzug eingeläutet hatte. Hinter ihnen kam ein Pferd, auf ihm sitzend eine schöne, junge Frau. Und dahinter trotteten, gleichmässig ausgerichtet, 2 Wollschweine nebeneinander her.
 
Ich starrte auf diesen Umzug. Die vorangehende Frau schaute auch mich an, und ich sagte: „Isch das ä schööns Bild!“ (Ist das ein schönes Bild.) Und sie stimmte mir zu: „Gälled Sie!“ (Schweizer Redensart, die Zustimmung bedeutet).
 
War es eine Sennerin, und sah ich hier einen kleinen Alpabzug? Diese Episode ist ein wundersamer Abschluss meiner Mathon-Ferien. Ich bedauere nur, dass ich dieser Gruppe nicht länger nachgeschaut habe. Jetzt weiss ich nicht, wohin sie ging, und darum bin ich unsicher, wie ich sie einordnen muss. Vergessen werde ich sie sicher nicht.