Samstag, 31. Mai 2008

Vor 100 Jahren gab es noch keine Zahnpflege-Anleitungen

Besuch beim Zahnarzt, ganz genau gesagt bei seiner Dentalhygienikerin. Wie üblich, gehe ich mit gemischten Gefühlen an diesen Ort und bin dann jeweils erleichtert, wenn ich ohne zahnärztliche Zusatzbehandlung wieder entlassen werde.
 
Diese Reinigungs-Prozedur, die jeweils gute ¾-Stunden dauert, bringt mir jetzt sogar eine gewisse Entspannung. Das war nicht immer so. Weil mich aber immer die gleiche Angestellte behandeln kann, gewöhnten wir uns aneinander. Es entwickelte sich Vertrauen.
 
So lag ich vorgestern einigermassen entspannt auf dem Behandlungsbett, und während Frau V. nach Anzeichen von Zahnzerfall forschte, erinnerte ich mich plötzlich an meine Mutter. Sie wuchs mit 8 Geschwistern im Zürcher Oberland auf. Die Verhältnisse waren bescheiden. Zahnpflege war da kein Thema. So konnte sich die Karies unbeobachtet ausbreiten, und als Mutter 20-jährig war, wurde ein Gebiss fällig. Damals nichts Aussergewöhnliches. Man schrieb das Jahr 1932. Es soll sich in jenen Jahren sogar die Gewohnheit entwickelt haben, den jungen Frauen vor der Hochzeit die Zähne zu ziehen, damit der Ehemann keine Kosten für zukünftig anfallende Zahnbehandlungen befürchten musste. Im Elternhaus meiner Mutter dachte man aber nicht so. Die Zähne waren einfach schon alle angegriffen. Und das leidige Zahnweh sollte unterbunden werden.
 
Mit einigen anderen jungen Frauen fuhr Mutter dann von Wald ZH über Rüti ZH und Rapperswil SG ins glarnerische Mollis, wo ihr alle oberen Zähne, einer nach dem andern und ohne die geringste Betäubung, gezogen wurden. Mutter fiel in Ohnmacht, wie andere auch. Im Laufe des Tages, nachdem alle behandelt worden waren, kehrten sie dann in ihr Dorf zurück.
 
Immer wenn uns Mutter diese Ohnmachtsgeschichte erzählte, fühlte ich ihre Ängste mit und hoffte, dass ich so etwas nie erleben müsse. Heute hätte ich dazu noch einige Fragen, die mir damals nicht in den Sinn gekommen sind: Wer organisierte solche Reisen nach Mollis? Wie stärkten sich die jungen Frauen unterwegs? Was konnten sie nach der „Rosskur“ noch essen? Wer bezahlte die Kosten der Bahn und die Rechnungen des Zahnarzts? Was hatte das überhaupt gekostet? Das müssen Riesenauslagen gewesen sein. Konnten sie einen Kredit aufnehmen? Aber, wer lieh solch Minderbemittelten überhaupt Geld ohne Garantie, dass dieses je zurückbezahlt werde?
 
Mutter arbeitete damals als Weberin in einer Fabrik. Ich vermute, dass sie sich diese grosse Auslage selber erspart hatte. Sie konnte gut mit Geld umgehen, auch sparen, ohne geizig zu sein. Aber kurz vor der Heirat, als sie das Geld für eine Wäsche-Aussteuer, es waren 600 Schweizer Franken, beisammen hatte, ging ihre Bank in Konkurs. Alles war verloren.
 
Auch das Gebiss hatte noch seine Geschichte. Es war von tadelloser Qualität, hielt viele Jahre, doch eines Tages brach es entzwei. Mutter kaufte sich den Alleskleber „Cementit“ und flickte es. Lange hielt ihr Werk aber nicht. Erneut brach es auseinander. Ich beobachtete, wie bekümmert sie war. Ich weiss nicht, wie sie es dann anstellte, um doch noch ein neues Gebiss zu bekommen.
 
Bevor mich Frau V. aus der Zahnpflege entliess, erzählte ich ihr noch die hier eben beschriebenen Gedanken. Sie ist jünger als ich, konnte den Beruf als Dentalhygienikerin erlernen, als er neu geschaffen wurde. Sie dachte sofort an die vielen Präzisions-Werkzeuge und Hilfsmittel, die ihr heute zur Verfügung stehen und die es damals noch nicht gegeben hat. Unvorstellbar für sie, wie grob die Menschen damals behandelt worden sein müssen. Und ohne Betäubung, dünkt mich, muss eine solche eine Art Vergewaltigung gewesen sein. Sie mussten viel mehr aushalten als wir heute, war unsere abschliessende Meinung zu diesem Thema. Und waren darum auch stärker als wir es heute sind.
 
Aber Mutters Ohnmacht drückt noch etwas anderes aus. Sie war „ohn Macht“, musste einfach alles geschehen lassen.

Samstag, 24. Mai 2008

Schon spüre ich, wie am neuen Ort die Wurzeln wachsen

Eine Bekannte bemerkte, ich hätte mich offensichtlich schon gut umgestellt und eingelebt. Diese beiden Worte gefallen mir. Besonders das Wort „umgestellt“ bezeichnet meine Situation sehr präzis. Es beinhaltet sowohl den Umzug als auch die Gestaltung eines neuen Zuhauses, und dazu noch innere Umstellungen, die mein neues Umfeld bedingen.
 
Dazu gehören auch neue Geräusche und Klänge, die mir anfänglich ganz stark aufgefallen sind. Da war zum Beispiel das Morgenläuten der kleinen evangelischen Kirche am Suteracher ein Novum für mich. Punkt 7 Uhr läutet die kleine Glocke und manchmal Sekunden genau ertönen Hammerschläge, die den Arbeitstag auf ihre Weise einläuten. Es wird ein grosses Nachbarhaus renoviert. Noch ist es ausgehöhlt. Alle Geräusche, die Stimmen und der Lärm von Hammer, Bohrer und Säge klingen wie aus einem Instrument heraus und sind auf ihre Art Melodie. Ich weiss es schon jetzt: Dieses Zusammenklingen von Befehlen und Arbeitslärm wird mir fehlen, wenn das Haus umgebaut ist. Es sind keine Maschinengeräusche, die ich wohlwollend wahrnehme. Hier sind starke Männer am Werk. Ihren Stimmen und Namen nach Menschen aus dem Süden.
 
Manchmal zwinge ich mich jetzt richtig, den 7-Uhr-Augenblick bewusst zu erleben, um ihn nicht zu verpassen. Ich bin schon daran gewöhnt.
 
Eine andere Umstellung betrifft den Garten, der nun auf Souvenirs reduziert worden ist.
 
Nachdem uns die neue Wohnung zugesprochen worden war, bemühten wir uns als erstes um Blumenkisten für den langen Balkon. Dann gruben wir aus dem bisherigen Garten Pflanzen aus, ebenso etwas Erde und führten diese an unseren neuen Wohnort. Ich erinnerte mich dabei an Königstöchter aus früherer Zeit. Wenn sie in ein fremdes Land verheiratet wurden, sollen sie unter dem Brautkleid ein Säcklein Heimaterde mitgebracht haben.
 
In diesem Sinne pflanzten wir allerlei, unter anderem 2 Nachtkerzen, Farn, Akelei, roter Mohn, Maierisli (Maiglöckchen), Löwenmaul, auch Schöllkraut. Dominant präsentiert sich heute die Hexenblume, so der Name, den wir ihr vor langer Zeit verpasst haben. Sie wanderte aus dem uns gegenüber liegenden Bernoulli-Garten ein und breitete sich selbstbewusst aus. Wir kennen ihren Namen nicht, haben es verpasst, danach zu fragen, als Herr Senn noch lebte. Oft habe ich bemerkt, dass sich Blumen an ihrem selbst gefundenen Platz besser entwickeln als an Orten, die wir Menschen ihnen zuweisen. Diese erwähnte Hexenblume verbreitete sich rasch, aber nicht rücksichtslos. In freundschaftlicher Art durfte das Schöllkraut die Abgrenzung zur Wiese hin gestalten. Es entstand ein liebliches, natürliches Feld, zu dem auch drei Büsche gehören. Blumenfeen habe ich noch nie gesehen, aber hier konnte ich sie spüren. Ich habe meine Nachbewohnerin darauf aufmerksam gemacht. Ich glaube, sie hat mich verstanden. Sie wird diesem Platz Sorge tragen. Der Ort strahlt etwas Liebenswürdiges aus und strotzt vor Lebensenergie.
 
Es schlummerten auch andere Samen in der mitgebrachten Erde, wie es sich jetzt zeigt. Es blühen z. B. schon Monatserdbeeren, ein paar Grashalme haben sich entwickelt und heute habe ich Weideröschen entdeckt.
 
Alle diese Gewächse haben eine lebhafte Silhouette geschaffen, die wir beim Eintritt in die Stube sofort wahrnehmen. Sie nehmen sich ihren Platz und Raum und zeigen uns, dass sich das Lebendige nie um die gerade Linie kümmert. Im Augenblick verzaubert uns die Akelei-Gruppe mit einem 85 cm hohen Anführer. Im Grunde sind unsere Blumenkisten eine ganz bescheidene Anlage und doch auch eine sich ständig verändernde Pracht.
 
Innerhalb des Hauses habe ich mich in meinen Vorstellungen eine Zeit lang ganz anders verhalten und mich von Publikationen verführen lassen. In meinen Gedanken gestaltete ich Bad und Toilette farblich wie nach einem gerade aktuellen Einrichtungskatalog. Ich meinte, jetzt wäre es günstig, diesen Räumen eine einheitliche Farbe zu verpassen. Wie langweilig! denke ich heute. Ich dachte schon daran, alle vorhandenen Textilien zu ignorieren und neu eine bestimmte Farbe einzuführen. Da hätte ich allerlei fortwerfen müssen. Und das wollte ich dann doch nicht. Glücklicherweise, sage ich jetzt. Jedes Stück hat doch seine Geschichte, ist im Laufe des Lebens zu uns gekommen und immer noch nützlich. Und es hat Farbe in unser Leben gebracht. Farbe, die auch immer wieder wechselt. Oft, wenn ich ein Hand- oder Badetuch benütze, kommt mir die Geschichte dazu in den Sinn.
 
Daran freue ich mich noch. Aber mit Mass. Ich kenne jetzt die Leichtigkeit nach dem Umzug. Diese möchte ich mir bewahren und nichts mehr anhäufen.

Samstag, 17. Mai 2008

Der Wohnungswechsel schenkt auch neue Perspektiven

Der Altstetter Fröschenbrunnen an der Eugen-Huber-Strasse bei der Abzweigung Friedhofstrasse imponiert mir. Es steht da zu lesen: „Fröschen-Brunnen, Geschenk des letzten Altstetter Gemeinderats im Jahr 1933“. (Altstetten wurde damals in die Stadt Zürich eingemeindet.)
 
Weiter ist aus der Tafel beim Brunnen zu erfahren: „Die Altstetter nannte man früher „Frösche“, die zwischen Limmat und Ried lebten. Dieses Ried, heute Albisrieden, ist seit 1934 ebenfalls in die Stadt Zürich eingemeindet und unser Nachbarquartier.
 
Und hieher gehöre ich nun seit Anfang Mai 2008. Ich bin auf dem Weg, eine Altstetterin zu werden. Als ich unserer Tochter Letizia den schönen Brunnen mit der grossen Froschfigur schilderte, lachte sie und fragte: „Muss ich dich jetzt wach küssen? Dann würdest du vielleicht eine Prinzessin.“ Noch im selben Atemzug gab sie sich die Antwort selbst. Nein, dazu würde ich nicht taugen. So ist es.
 
Ich freue mich, Altstetten zu entdecken, will seine Geschichte erfahren. Das Ortsmuseum wird mir bald einmal Fragen beantworten. Es ist aber nur am 1. Sonntag im Monat geöffnet. Auf dem Personenmeldeamt waren die Broschüren dazu leider vergriffen. „Fragen Sie im Herbst wieder danach“, wurde ich vertröstet.
 
Zum Abschied vom Bernoulli schenkte mir die Nachbarin Erika das Buch „Chronik der Heilig-Kreuz-Kirche Zürich-Altstetten“, Verfasser: Alfred Boll. Schon auf den ersten Seiten stiess ich da auf die Abbildung der berühmten Goldschale, einer Opferschale aus einem zerstörten Grab, aus der Hallstatt- oder älteren Eisenzeit. Diese wurde 1906 an der Hohlstrasse bei den SBB-Werkstätten gefunden. Sie kann im Schweizerischen Landesmuseum beim Hauptbahnhof in Zürich bewundert werden. Ihre vollendete Schönheit brachte ihr viel Publizität. Sie prangte auch einmal auf einer schweizerischen Briefmarke.
 
Weiter habe ich erfahren, dass die einstige Römerstrasse in der Gegend meiner neuen Adresse, der Eugen-Huber-Strasse, vermutet wird, denn diese hiess bis 1933 Römerstrasse. Wegen des Sumpfs im Talgrund, von dem auch der Froschbrunnentext berichtet, musste sie über die Anhöhe führen.
 
Aus Erikas Buch habe ich auch erfahren, dass Altstetten ein Marienwallfahrtsort gewesen sei. Man pilgerte im Mittelalter von Zürich aus zu „Unserer Lieben Frau zu Altstetten“. Es sei das am weitesten erntfernte Ziel einer Prozession gewesen, die von Zürich ausgegangen sei. Ein Tavernenbrief von 1423 wird erwähnt. Der Vogt von Altstetten habe das Recht, eine Taverne betreiben zu lassen damit begründet, „es sei notwendig, weil sich viele Leute zum Besuch Unserer Lieben Frau in Altstetten aufhalten müssen, vor allem die Kranken.“ Pilger sollen nicht nur aus den nahen Gebieten, sondern auch aus dem süddeutschen Raum und aus Voralberg angereist sein. Ich spüre: Hier ist der Ort von alters her belebt.
 
Auch andere Gäste landen hier. Grosse Vögel. Dieser Tage haben wir von unserem Balkon aus sogar einen Buntspecht auf Augenhöhe beobachten können. Er pickte Delikatessen aus der Rinde eines Nachbarbaums, der neben einer Kinderschaukel steht. Noch nie gesehen, nur gehört. Und Raben und Elstern landen wie Flugzeuge auf dem Wiesenboden vor meinem Küchenfenster. Im Umfeld der Bernoulli-Siedlung sahen wir diese grossen Vögel meist nur auf den hohen Bäumen und auf Flachdächern grosser Geschäftshäuser. Hier hat eine Rabenfamilie ihr etwas grobschlächtiges Nest auf einer Hagenbuche neben unserem Hauseingang installiert. Und dann weist die Hätzlergasse noch auf die Eichelhäher hin. Hätzler sind Eichelhäher. Ihnen bin ich aber noch nicht begegnet. Kleine Vögel sind hier selten. Aber die Amsel singt uns auch hier ihre Lieder. Und Schwalben haben wir auch gesehen.
 
Viele Strassennamen deuten auf die hier einst bäuerliche Landschaft und auch auf die sichtbaren Alpen hin. Beispiele: Saumackerstrasse, Bachmattstrasse, Feldblumenstrasse, Zwischenbächen, Stampfenbrunnen und andere mehr. Pässe und Orte in den Alpen sind ebenfalls vertreten: Grimselstrasse, Calandastrasse, Bristenstrasse, Furkastrasse, Rautihalde usw. Den nahen Waldrand markiert das Dunkelhölzli.
 
Am Abend spazieren wir gern über die Grenze nach Schlieren. In wenigen Minuten sind wir bei den Bauernhöfen im offenen Land, wo wir Rohmilch und verschiedene landwirtschaftliche Produkte bekommen können. Die Stadt ist nur noch von fern zu sehen. Die Weite des Himmels mit ihrem Wolkengeschiebe, den Farben und Lichtspielen, aber auch mit den Kondensstreifen-Kalligraphien der Flugzeuge vermittelt jedesmal das Gefühl, wir seien in den Ferien. Die Luft ist reiner, die Aussicht prächtig. Wir sehen die Alpen, können Säntis, Vrenelis Gärtli, Rauti und andere Grössen grüssen.
 
Wir haben einen neuen Standort, neue Blickpunkte und Sichten, die uns beflügeln und bereichern. Meine Freundin Lisbeth sagte kürzlich, als sie unsere Wohnung und unser neues Umfeld gesehen hatte: Du musst dich im Paradies fühlen.

Freitag, 9. Mai 2008

Leben, sammeln, anhäufen und eines Tages aufräumen

Es ist gar nicht so einfach, von einem Umzug zu berichten, wenn er vorbei ist. Sich erinnern, wie alles gelaufen ist, ist im ersten Augenblick nicht möglich. Ja, wir atmeten auf, fühlten aber noch keine Last von uns abfallen. Während der vergangenen Wochen konnten wir oft die Sätze nicht vollenden, wenn wir einander etwas erzählten. Es drang immer etwas Neues das eben gerade Gedachte zur Seite. Oft lachten wir nur noch, wenn wir die Worte nicht mehr fanden.
 
Wir pendelten vom alten Ort an den neuen, verabschiedeten uns beim Räumen und bauten auf beim Einräumen der Dinge, die wir in verschiedenen kleinen Etappen in die neue Wohnung trugen.
 
Wir gingen nach Primos Vorschlag so vor: Alle Ideen sollen ausgesprochen werden, ohne diese aber sofort zu bewerten, anzunehmen oder abzulehnen. Sie standen einfach auf Abruf in unseren Gedankenräumen. Auf einmal wussten wir, welche von ihnen die tauglichste sei.

Räumen aber wurde zum Marathon. Manchmal kam ich mir vor wie jemand, der einen ganzen Wald abgeholzt hatte, um Zeitschriften, Bücher, Briefe und Kartenpapiere herzustellen. Und dann all die Papiere aus der Administration der Werkstatt, die 10 Jahre aufbewahrt werden müssen. Ein Riesengewicht. Ich begriff plötzlich die Wohltat im Wort „entsorgen“, als ich meine Schätze abtransportieren lassen konnte. Einige rare Druckerzeugnisse übernahmen Freunde, andere gingen in Brockenhäuser und vieles auch in die Müllcontainer. Bücher sind gar nicht an vielen Orten willkommen. Aber unsere alte Schreibmaschine, etwa 100 Jahre alt, wurde als echter Schatz bewertet und gerne mitgenommen. Primo trennte sich auch von einer Plakat-grossen Intarsie, eine seiner verrücktesten Arbeiten. Mit verschiedensten farbigen Hölzern komponierte er ein Gesicht zwischen Zeichen und Dekorationen ungewöhnlicher und sehr farbiger Art. Auch diese war dem Chauffeur eines Brockenhauses hoch willkommen. Ich hoffe, dass ich ihr irgendwo wieder begegne. Es würde mich nicht verwundern, wenn sie plötzlich in einem öffentlichen Raum oder als Dekoration innerhalb einer Reklame stünde. Das wäre ein Spass für uns, mit ihr wieder zusammenzutreffen. Wir haben vieles losgelassen, aber natürlich nicht alles. Als ich jeweils die Umzugs-Kartons öffnete, staunte ich, was ich da vorfand. Ich dachte mehrmals: Ja, habe ich dies denn nicht alles fortgeworfen?
 
Wegen der Labilität meines Rückens entwickelte sich ein hochsensibles Gefühl für Gewicht. Alle Umzugs-Kartons wurden nicht nur rational gefüllt. Immer mit Gefühl. Bücher oder Geschirr ergänzte ich mit leichten Kleidungsstücken, um die Lastenträger nicht zu überfordern.
Waren 6‒8 Kartons gefüllt, wurden sie an den neuen Ort gefahren. Dort konnte der Inhalt in bereits vorhandene Schränke abgefüllt werden. So entstand nach und nach das Fundament am neuen Ort. Waren die Kartons leer, falteten wir sie zusammen. Primo band sie an den Rücken, und mit den Velos fuhren wir zurück, um sie neu zu füllen. Wenn ich hinter ihm her fuhr, konnte ich die Reklame auf dem Wellkarton lesen. „Möbeltransporte“ war da vermerkt. Primo als Möbelschreiner mit Möbelkartons auf dem Rücken. Bei Wind und Wetter fanden diese Fahrten statt. Der Weg beanspruchte 20 Minuten. Wir mussten 2 × eine Unterführung benützen, eine unter der Autobahn, die andere unter den Bahngeleisen. Diese Fahrten und die dazugehörige Anstrengung wirkten auf mich als gutes Rückentraining. Fast nicht zu glauben: Ich habe mich in den letzten Wochen dank grosser Anstrengungen im Rücken erholt.
 
Ich habe früher auch schon von meiner Kartensammlung gesprochen. Seit 45 Jahren sammelte ich alle Glückwunschkarten, die uns für Weihnachten oder Neujahr zugekommen waren. Ursprünglich diente eine alte Wäschetruhe für die Aufbewahrung, eines Tages kam eine zweite dazu, und auch sie genügte bald nicht mehr. So standen auch einzelne Schachteln auf der Winde. Als Primo diese in den 1. Stock heruntertrug und sie an einer Wand aufschichtete, wurde mir beinahe übel. So viel Material! Wie soll ich dies alles nochmals sichten? Ich hatte vordem Informationen eingeholt, an welches Museum ich damit gelangen könnte. Das Mass war übervoll. Ich sah die Lasten, die Transportkosten und vielleicht die Absage, damit könne man nichts anfangen. Und darum beschloss ich, innerlich unerschütterlich sicher, diesem vor allem für mich emotionalen Wert adieu zu sagen. 3 Jahrgänge flogen sofort in einen 60 Liter-Abfallsack, obwohl ich sofort wieder sah, wie viele Kunstwerke da vorhanden waren. Da kamen dann doch noch Zweifel auf und ich beschloss, aus jeder Schachtel eines Jahrgangs, die 10 schönsten (die meiner Ansicht nach schönsten) Karten zu retten. Aber das war Unsinn, unmöglich.
 
Mit dieser Sammlung hoffte ich, eines Tages aufzeigen zu können, wie Kultur ganz unten in den Familien und jenseits von akademischem Kunstverständnis über Jahrzehnte gepflegt worden ist. Schon als Kind im ersten Primarschulalter war ich fasziniert von diesen Kunstwerken und den Ideen, wie Glück gewünscht worden ist.
 
Nun war also der Abschied gekommen. Anders, als ich es je dachte. Damit ich die Karten in die Papiersammlung geben konnte, schob ich jeden Jahrgang in halboffene Zeitungen und verschloss diese mit ebensolchen zu Paketen. Ein würdiger Abschied, dünkte es mich. Nochmals konnte ich mich an vielen Bildern und Sujets oder auch an guten Worten, wenn auch nur flüchtig, freuen.
 
Und dann wollte meine Schwester Renate plötzlich wissen, was ich mit der Kartensammlung mache. Fortwerfen. Entsorgen. Ihr Interesse erwachte. Am Schluss des Gesprächs entschloss sie sich, die Sammlung an sich zu nehmen. Sie möchte sie kennen lernen. Sie bestellte ein Taxi, fuhr zu uns, packte alle Pakete in mitgebrachte, grosse Taschen und fuhr sie zu sich heim. Sie sind gerettet. Renate arbeitet in einem Gemeinschaftszentrum und hat Kontakte zu Museums-Leuten. Sie nimmt sich jetzt der Sache an.
 
Das waren sehr emotionale Momente. Es schien mir, die Karten, die ich immer in Ehren gehalten hatte, hätten sich gegen die Kremation gewehrt, den Aufstand geplant und jemanden mobilisiert, der sie retten konnte. Ihre Geschichte ist also noch lebendig und nicht fertig geschrieben.