Donnerstag, 29. Juni 2006

In der Aareschlucht. Von Reiseeindrücken und Souvenirs

Der Kugelschreiber aus Einsiedeln ist ein Souvenirartikel. Im rechtshälftigen Teil ist die Klosterfassade abgebildet, und vor dieser fährt ein Postauto vorbei, wenn ich den Schreibstift etwas schräg halte. Kinder freuen sich speziell an diesen Mitbringseln. Auch ich habe Spass daran.

Nun besitze ich ein gleiches Modell, jedoch aus dem Kiosk der Aareschlucht bei Meiringen. In der Schräglage bewegen sich ein Knabe und ein Mädchen durch diesen imposanten Raum. Sie staunen, wie alle, die auf den überhängenden Stegen dem Flusslauf ruhig folgen. Auch Primo und ich. Die junge Aare ist hier jungfräulich milchig, fliesst ruhig an den hohen Felswänden vorbei, muss aber auch Enge erleiden. Der Weg ähnelt jenem eines Kindes bei der Geburt.
Diese Schlucht ist eine riesige Kathedrale, misst 1,4 km Länge und 200 m Tiefe. Das Felsgestein ist uralt, in der Kreidezeit als Meerablagerung entstanden. Die Wände ausgebrochen und ausgewaschen, sind wild geformt, mit vielen Gesichtern im Gestein. Das Flussbett eine geschwungene Linie, das Dach grösstenteils offen. Hier wachsen auch Bäume, bringen grüne Farbe hinein.
Der Rat eines Bahnbeamten in Meiringen, den Osteingang in die Schlucht zu benützen, erwies sich als gut. Wir konnten dem Wasserlauf folgen und am Ende der Wanderung fand sich noch ein einladendes Gasthaus.

In der Bahn zum Reichenbachfall, ebenfalls im Umfeld von Meiringen, entdecke ich in der Ferne ein Postauto, das auf einer Höhenstrasse fährt. Es ist so klein wie jenes in meinem Einsiedeln-Kugelschreiber. Obwohl ich weiss, dass es ein reales Postauto ist, wirkt es von weitem wie eine Miniatur. Die Bilder kippen wie auf einer Schaukel vom grossen Postauto, das Menschen transportiert, zum Modell und wieder zurück.

Auch vom Reichenbachfall und der Drahtseilbahn, die zu ihm führt, will ich noch erzählen. Die romantische Bahn fährt heute auf dem aktuellsten Stand der Technik und überwindet eine Höhendifferenz von 244 m in 7 Minuten. Oben angekommen, stehen wir dem tosenden Wasser gegenüber. Der 120 m hohe Fall zerfledert seine Flut und wirft feinsten Wasserstaub auf unseren Weg. Ich lasse mich gern besprühen, fühle die Energie. Auf dem Wanderweg nach Zwirgi können wir diesem Wasser, das weit hinten im Tal dem Rosenlaui-Gletscher entspringt, auf immer wieder anderen Aussichtsplattformen und auch auf einer kleinen Brücke begegnen. Diese Wucht, mit der es seine Kraft zeigt! Atem beraubend.

Gegenüber der Bergstation ist übrigens ein weisser Stern auszumachen. Er bezeichnet jene Stelle, an der nach dem Roman von Conan Doyle Sherlock Holmes und sein Erzfeind Professor Moriarty ihren tödlichen Kampf ausfochten. Eine flache, aus Holz geschaffene Sherlock-Figur steht zum Fotografieren bereit. Wer sich hinter sie stellt und durch das offene Gesichtsfeld schaut, gibt ihr das eigene Gesicht.

Erstaunt hat mich an beiden Orten nur, dass wir wenig Schweizerdeutsch hörten. Sind nur Japaner, Kanadier, Amerikaner, Engländer und Österreicher darüber informiert, dass hier echte Naturwunder zu bestaunen sind?

Als ich dem Bahnbegleiter auf dem Rückweg vom Reichenbachfall meine Eindrücke schildere und ihm sage, dass wir in Zürich davon schwärmen werden, antwortete er erfreut: „Ja, machen Sie das!

Sonntag, 18. Juni 2006

Johanna Spyri, Heidi-Gefühle im Ort Hirzel und die Linden

Es war vor Jahren und atemberaubend. Ankommen auf dem Aussichtspunkt „Chaserenlinde“ ob dem Weiler Hirzel Höchi. Im Herbst. Die Winde pfiffen und die Drachen stiegen auf. Und die Aussicht über die Moränenlandschaft eine grosse Überraschung. Nach einem Fussmarsch von Sihlbrugg her hier anzukommen, ohne vorher zu wissen, was einen erwartet, das war ein Erlebnis.

Diesmal sind wir mit dem Postauto eingetroffen. Primo und ich wollen das „Heidi-Museum“ besuchen. Und wieder berührt uns die Landschaft mit ihren Drumlin-Hügeln ganz eigenartig. Hirzel ist ein von Gletschern gestaltetes, hügeliges Gebiet. Auf vielen Hügeln steht auf der Kuppe ein einzelner Baum, meist eine Linde. Es sind diese Bäume, die der Landschaft das aussergewöhnliche Gepräge geben. Darum gehört Hirzel sowohl ins „Bundesinventar für Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung“ wie auch in jenes für „Moorlandschaften von besonderer Schönheit und nationaler Bedeutung“. Diesen Hügeln begegnen wir oft auf Kalenderblättern und jetzt, wo wir sie in der Natur vorfinden, denkt es in mir: Ah ja, die gibt es wirklich.
In dieser Landschaft wuchs die Schriftstellerin Johanna Spyri auf. In Hirzel ging sie zur Schule. Das kleine Schulhaus von einst, in einem schönen Riegelhaus untergebracht, ist heute „Heidi-Museum“. Am Sonntag-Nachmittag geöffnet. Wir sind nicht die einzigen, die sich für die reiche Sammlung interessieren. Obwohl Heidi vor bald 130 Jahren zum ersten Mal erzählt worden ist, strahlt sie immer noch weit aus. Hier will ich mich über aktuelle „Heidi“-Ausgaben informieren und finde sogar ein Bilderbuch fürs erste Lesealter, das ich hier kaufen kann.

Ich möchte meiner Enkelin Mena Heidis Geschichte erzählen, ihr das Leben in der Bergwelt von einst beschreiben. Gerade weil sie in Paris aufwächst, soll sie auch ein anderes Lebensumfeld kennen lernen und von der Natur etwas zu spüren bekommen.

Ende der 50er-Jahre kam ich nach Korsika, noch bevor diese Insel für den Tourismus erschlossen wurde. Fremde wurden sofort erkannt. Es war leicht, mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Als ich sagte, ich käme aus der Schweiz, wurde ich gleich mit dem „Heidi“-Etikett versehen. So sähe ich aus, wie das Naturkind dieser Geschichte. Wie dieses Beispiel zeigt, strahlte Johanna Spyris Figur in viele Länder aus. In Hirzel lese ich, dass „Heidi“ in 50 Sprachen übersetzt worden sei. Viele Belegexemplare können dort besichtigt werden.

„Heidi“ wurde auch in Film, Fernsehen und Comics übertragen. Nicht immer unverfälscht, schrieb Jürg Winkler, der die Texte zum Bilderbuch verfasst hat. Er war Lehrer und wirkte in Hirzel und gilt als hervorragender Kenner von Spyris Werk. Die Bilder gestaltete die Illustratorin Margrit Roelli.

Ich freue mich, mit Mena zusammen erneut in die „Heidi“-Geschichte einzutauchen und von vielen Gemütswellen ergriffen zu werden. Sich mitfreuen und Ängste und Nöte teilen, das ist Training für die Seele, fürs Leben. Auch Kinder von heute werden mit ähnlichen Situationen, wie sie Heidi widerfahren sind, ergriffen. Die Gefühle, die „Heidi“ auslösen kann, sind nicht von einem Zeitgeist abhängig. Nun kommt es nur noch auf mich an, dass ich lebendig und spannend erzähle.

Hinweis
Zum Thema „Hirzel“ sind im Internet via Google-Suchmaschine interessante Details zu finden. Spannend sind auch die Beiträge einer 5. Primarklasse. Diese Kinder von Hirzel sind sich bewusst, dass sie an einem sehr schönen Ort leben dürfen.

Dienstag, 13. Juni 2006

Distanz und Nähe signalisieren wir mit „Sie“ und „Du“

Ich stand an der Ampel und wartete auf Grün. Hinter mir fuhr ein Lastauto einen Abhang hinauf und hielt auf dem Trottoir in meinem Umfeld an. Der junge Chauffeur sprang aus der Kabine, befestigte eine lose Blachenschnur und hetzte wieder zurück. Noch bevor er einstieg, rief er in meine Richtung: „He Du, gang uf d Sitä!“ (He Du, geh zur Seite, mach Platz).

Ich schob mein Velo nach links, rief aber dazu: „Chasch mer scho ,Sie' säge!“ (Du kannst mich schon mit „Sie“ ansprechen.)

Da schaute er auf, begriff, dass ihm eine Grossmutter geantwortet hatte. Er lachte schallend, und ich schmunzelte. Besser hätte er gar nicht reagieren können.

Diese Episode lässt mich über „Du“ und „Sie“ nachdenken. Einst trat das „Du“ nur im vertrauten Familien- und Freundeskreis auf. Am Arbeitsplatz gab das „Sie“ auch unter den Angestellten eine höfliche Distanz. Es galt grundsätzlich den Vorgesetzten gegenüber, jeder Autorität und jedem Menschen, den wir nicht näher kannten.

Als ich 1958 in die Kaufmännische Lehre eintrat, wurde ich, wie alle andern Lehrtöchter, mit „Sie“ angesprochen. Erst nach erfolgreichem Lehrabschluss boten die Vorgesetzten dann das „Du“ an. Als wir unwissend und scheu begannen, stärkte das „Sie“ unser Selbstwertgefühl und das „Du“ am Schluss der Ausbildung das Selbstbewusstsein.

In den 80er-Jahren, die wir heute als die unbeschwerten taxieren, wurde alles etwas lockerer. Die Lebensfreude schwang obenauf. Es bestand da ein Bedürfnis nach mehr Nähe, und wir lernten, uns zu umarmen. Von Plakaten hiess es einmal: „Sag doch einfach Du!“ Da brauchte es schon einen inneren Ruck, um aus der anerzogenen, höflichen Reserve herauszukommen. Aber gerade aus diesem Umbruch heraus ist uns ein gutes Stück Offenheit erwachsen und bis heute erhalten geblieben. Wir gehen seither unverkrampfter aufeinander zu, stellen uns öfters nur mit dem Vornamen vor.

Wenn ich im „Chornlade“ einkaufe, werde ich immer auf der Du-Ebene bedient. Das schätze ich sehr. Ich fühle mich dann zur Philosophie und zum Idealismus dieser Genossenschaft für Bio-Lebensmittel zugehörig.

Aber auch das „Sie“ hat einen neuen Stellenwert bekommen. Es ist entstaubt, hat etwas Glanz und respektiert eine Persönlichkeit in natürlicher Art. Es ist nicht mehr nur Formsache wie früher. Ich schätze es, wenn zum „Sie“ der Familienname angesprochen wird, und das geschieht meist dort, wo ein Geschäft nicht nur die Kundschaft, sondern auch den Menschen ansprechen will.

Und: Das „Du“ gehört selbstverständlich der Jugend.

Auch unter nächsten Nachbarn fehlt manchmal diese vertraute Anrede. Verständlich, denn sie ist verletzbarer als das distanzierte „Sie“. Ich habe es schon erlebt, dass ein angebotenes „Du“ aus Angst, ausgebeutet zu werden, zurückgewiesen worden ist. Widerstand gegen das „Du“ entwickelt sich auch, wenn es einen Befehl enthält, ohne dass wir einander kennen.

Montag, 5. Juni 2006

Denkschablonen, die den Freiheiten im Wege stehen

Ich weiss nicht, liegt es an meiner selbstständigen Natur, dass ich mich daran störe, dass sich viele Mitmenschen jene Freiheiten nicht nehmen, die ihnen zustehen.

Viele Vorschriften sind nur eingeflüstert oder eingebildet, hemmen den Einfallsreichtum und die Kreativität. Sie sind keineswegs zwingend. Man könnte sie auch Anregungen nennen.

Beispiele dazu: Ich entdecke an einem Kleiderständer am Limmatquai in Zürich eine flaschengrüne Baumwollbluse, die mir sofort gefällt. Ich nehme sie vom Ständer und probiere sie im Laden an. Der Schnitt überzeugt mich dann aber doch nicht. Die Halsweite ist zu gross für meinen mageren Hals. Die elegant gekleidete Verkäuferin stellt mir den Kragen auf, damit der Hals etwas umschmeichelt sei und die Bluse mehr Effekt habe. Ich mag aber solche künstliche Korrekturen nicht, die beim leisesten Wind wieder umfallen. Und als ich noch sage: „Ich bin Velofahrerin. Da erübrigen sich solche Korrekturen“, ist sie entsetzt.

„Waaas! Mit einer solchen Bluse wollen Sie Velo fahren?“
„Aber sicher.“
„Nein!“


Velofahren kann man nach ihrer Ansicht nur in so genannt sportlicher, windschlüpfriger Kleidung.

Aus der Kabine nebenan aber bekomme ich einen Zuspruch. „Ich bin auch mit dem Velo da“, ruft eine Frau, die gerade ein schönes Seidenkleid anprobiert. Sie zwinkert mir zu.

Eine halbe Stunde später erlebe ich etwas Ähnliches auf dem Gemüsemarkt: Da wird klein geschnittenes Gemüse (Karotten, Lauch, Sellerie) angeboten. Es ist so frisch, dass es gar noch nicht wissen kann, dass es nicht mehr in der Erde liegt. Es animiert mich, einen Langkornreis zuzubereiten und dieses Gemüse mitzukochen. Schon beginnen die Säfte in meinem Mund zu fliessen. Ich lobe das Angebot, und der Produzent meint, ja, diese Mischung sei für vieles brauchbar.

„Das ist doch Suppengemüse!“ ruft jemand von hinten.

Schrecklich! Wie eng und öde ist ein solches Leben und Arbeiten, wo der Einfallsreichtum ausgesperrt ist, wo Normen und Rezepte das Mass aller Dinge und Kontrollen sind. Wer darf denn da überhaupt noch etwas erfinden?

Sind die Erlebnisse typisch schweizerisch? Nur zu 50 %, denn die Verkäuferin im Kleiderladen war eine Dame aus Osteuropa.