Samstag, 22. März 2008

Meine Liebesgeschichte, Bäumen und dem Holz gewidmet

Wenn ich durch den Wald gehe, wird mir bewusst, wie mir die Bäume halfen, das Leben zu verstehen. Mein Aufsatz dazu  ist im Juni 2007 in der Zeitschrift „Frauen-Forum“ erschienen; doch hat er seine Aktualität behalten.
 
Mein Elternhaus stand neben einer Sägerei. Von Kindsbeinen an bin ich mit dem Duft von Sägemehl und austretendem Harz vertraut. Vielleicht begründete gerade diese Nachbarschaft später dann die Ehe mit einem passionierten Möbelschreiner und Holzkünstler, weil auch er diese Holzaura ständig um sich trug.
 
Zuerst war also das Holz. Die Bäume mit ihren Lebensgeschichten kamen später dazu. Am Anfang bewunderte ich einfach, wie abgeholzte Stämme in die Werkstatt kamen, aufgeschnitten wurden, betörende Düfte verbreiteten und zu wertvollen Gegenständen verarbeitet wurden. Je länger ich aber miterleben durfte, wie schön und vielfältig Holz ist, desto mehr fühlte ich mich in dieses über Jahrzehnte gewachsene Material ein. Ich widmete mich den Stämmen mit ihren Jahrringen und entdeckte auch die Blume im Herzen der Eiche. Ich fing an, mehr zu sehen als den Stamm, mehr zu hören als den Holznamen.
 
Die Arbeit mit Holz ist anspruchsvoll, denn dieses Material ist keine dichte Masse. Es hat einen zelligen Bau und ist von unzähligen Hohlräumen durchzogen, die Feuchtigkeit aufnehmen und abgeben können. Darum reagiert es empfindlich auf die jeweils herrschende Luftfeuchtigkeit. Wenn ihm Widerstand entgegengebracht wird, reisst es. Der Schreiner muss mit diesen Gesetzmässigkeiten so umgehen, dass das Holz mitmacht, in einer ihm zugedachten Form zu verbleiben. Gleichzeitig muss ihm eine gewisse Bewegungsfreiheit garantiert werden.
 
Unser Handwerksbetrieb, bald 50-jährig, ist ein Auslaufmodell. Die Technik hat auch den Schreinerberuf revolutioniert. Sie nimmt dem Menschen viele Arbeitsschritte ab. Das Produkt ist schneller hergestellt und kostet weniger. Doch fehlt ihm nach meiner Sicht die Seele. Eine Maschine bringt etwas anderes hervor als der Mensch, der seine persönliche Energie einsetzt, das Material berührt und formt. Nun ist der Schreiner aber ein Techniker geworden. Er kann programmieren, dass es fräst und bohrt und schneidet. Berührungen finden nur noch wenige statt. Der Sägestaub wird in der modernen Schreinerei automatisch abgesaugt. Wir liebten den Rausch von Aromen, die beim Hobeln aus den Hölzern aufstiegen. Vorbei. Nüchtern, steril, gesund soll die Werkstatt sein.
 
Heute richtet sich alles nach der Wirtschaftlichkeit. Zeit ist Geld. Einst wurden Bäume nur im Winter gefällt, wenn sich die Säfte im Holz zurückgezogen hatten. Jetzt wird ganzjährig Holz geschlagen und in den Handel gebracht. Auch die natürlichen Trocknungszeiten werden vielerorts umgangen. Dampfgruben und Trocknungsanlagen überwältigen das Leben im Holz und wollen lange dauernde Lagerung im Freien ersetzen. Und Waldbesitzer klagen. Ein Baum beansprucht während 50‒100 Jahren einen Quadratmeter Boden, der keinen Handelswert abwirft. Wird der Baum dann gefällt, summieren sich die Kosten für das Fällen, den Transport, den Sägelohn und Lagerplatz und können kaum mehr mit dem Erlös des Holzes gedeckt werden. Die Schreiner wiederum sind unter Druck, weil der Kunde von heute preisbewusst ist und sich an den über verschiedene Erdteile hingeworfenen Billigmöbeln orientiert. Die Einzelanfertigung eines Möbels aus einheimischem Holz kann nur noch eine begüterte Schicht bezahlen.
 
Diese Entwicklung stimmt mich nachdenklich. Ich habe in der langen Zeit meiner Mitarbeit in unserer Schreinerei eine enge Beziehung zum Holz und zu den Bäumen entwickelt. Die Art, wie der Baum aufwächst, gross und stark wird, blüht, fruchtet und später auch altert und stirbt, entspricht für mich unserem menschlichen Dasein. Auch der Baum muss um seine Existenz ringen, seine Nahrung finden. Er muss sich mit Nachbarn arrangieren und den eigenen Platz behaupten. Er erlebt Nähe und Enge wie wir. Er kennt Sturm und Wind, und mancher Baum fühlt sich an seinem Ort nicht einmal wohl. Da sehen wir dann Bäume, die wie Tänzer aussehen und all zu grosser Unruhe im Wurzelbereich ausweichen wollen. Und alle drängen zum Licht. Im Atemaustausch kommt unsere enge Verbindung aufs Schönste zum Tragen. Was wir ausatmen, wandeln sie in Sauerstoff um.
 
Ich betrachte Bäume auch gerne mit Abstand. Auf Reisen mit der Bahn folge ich ihren Silhouetten. Ich bewundere jene, die auf den Kreten stehen, die Wind und Wetter aushalten, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, beneide sie um ihre Aussicht und Übersicht. In der Nähe ist mir die Espe lieb, wenn sie zittert und sirrt. So reagiert meine Innenwelt, wenn sie berührt wird.

Donnerstag, 13. März 2008

Die Tücken der Technik: Der geheimnisvolle Telefonanruf

Wir sassen nach dem Mittagessen in der Stube, als das Telefon läutete. Ich meldete mich. Es antwortete mir niemand. Es raschelte. Dann hörte ich Frauenstimmen, einmal von nahe, dann wieder entfernt. Ich verstand einzelne Worte, zum Beispiel Reuss und Rhein, beides Namen von Flüssen, die in der Schweiz beheimatet sind.
 
Ich hörte längere Zeit zu, um herauszufinden, was sich hier abspiele. Ich stellte mir dann vor, dass ich in einer diskutierenden Frauenrunde angekommen war. Eine Stimme kam mir bekannt vor. Ich übergab Primo das Telefon und fragte ihn, ob das nicht Erikas Stimme sei. Könnte sein!
 
Am Abend rief ich sie dann an. Sie ist eine meiner Cousinen mütterlicherseits. Eine sozial engagierte Frau, die in ihrem Dorf viel bewirkt hat. Auf sie könnte also ein Gespräch, wie ich es von weit her mitverfolgt habe, zutreffen. Ich wollte wissen: „Hattest du heute ein Gespräch mit Frauen, in dem die Flüsse der Schweiz ein Thema waren?“  „Nein!“ sagte sie mit ihrer starken Stimme. „Ich habe meiner Enkelin bei den Schulaufgaben geholfen. Wir beschäftigten uns mit dem Quellgebiet der Flüsse.“ Der Zeitpunkt, als bei mir das Telefon geläutet hatte, passte exakt in den Zeitraum dieser Aufgabenhilfe hinein.
 
Weiter erfuhr ich, dass Erikas Natel in der Mitte des Tisches gelegen habe, an dem gearbeitet wurde. Ja, sie hätte vorher noch ein Telefongespräch mit ihrem Sohn geführt. Und vermutlich jene Taste nicht gedrückt, die das Gespräch definitiv abbricht.
 
Ja, auf dem Tisch hätten sich verschiedene Bücher und Hefte befunden, hörte ich weiter. Vielleicht wurde beim Umblättern eines schweren Buches unbemerkt die Anruftaste gedrückt. Alles Vermutungen, die wir erklären konnten. Was aber ein Geheimnis bleibt ist die Tatsache, dass Erika versichert, meine Telefon-Nummer noch nie gespeichert zu haben.
 
Und jetzt hoffe ich nur, dass ich meine eigenen Telefongespräche korrekt beende. Seit vorgestern besitze ich ein neues Telefongerät. Dieses befindet sich noch im Stadium des „Ersten Ladens und Entladens des Akkus“ und soll deshalb noch nicht in die Station zurückgelegt werden.
 
Mache ich etwas falsch, könnte sich jemand in meine Stube verirren. Vorsorglich deponiere ich es also in einem ruhigen Zimmer, wo keine Hausaufgaben erledigt werden.

Samstag, 8. März 2008

Milch-„Gebsi“: Der spezielle Behälter für unsere Briefpost

Heute morgen bin ich im Hof mit unserem Briefträger zusammengetroffen. Ich informierte ihn gleich über unseren baldigen Umzug nach Altstetten. Und er erklärte mir, dass ich am neuen Wohnort in den selben Zustellkreis gehöre. Dort seien alles gute Leute. Ich werde sicher weiterhin zuverlässig bedient.
 
Daran habe ich gar nicht gezweifelt. Schon am ersten Tag, als ich noch nicht wusste, dass wir als Mieter an der Eugen-Huber-Strasse akzeptiert werden, bemerkte ich, dass hier die Briefpost schon vor 9 Uhr ausgetragen wird. Das deutete ich als gutes Omen.
 
Die Fäden zur Post bleiben also intakt. Jetzt nimmt es mich nur noch wunder, wo ich die eingetroffenen Briefe in Zukunft hinlegen werde. Es fehlt im neuen Zuhause noch der dafür geeignete Platz.
Seit 40 Jahren dient uns an strategisch richtigem Ort ein hölzernes Becken, „Gebsi“ genannt. (Ein Schweizer Dialektwort für Becken, Waschbecken oder Zuber). Eine Weissküferarbeit aus dem Toggenburg. Wir fanden die etwas lädierte, weggeworfene Schale auf einer damals noch rudimentären Abfalldeponie. Primo erkannte sofort die Schönheit ihrer Form. Dass das Holz an 2 Orten ausgerissen und mit Drähten zusammengehalten wurde, störte ihn nicht. Wir nahmen sie mit, sprachen noch mit den Vermietern unserer Ferienwohnung darüber und erfuhren, dass dieses „Gebsi“ zur Milchentrahmung gebraucht worden sei. Es fasste die frische Milch, die tags darauf abgesahnt werden konnte.
 
In seinen Boden waren Initialen der Besitzer eingebrannt. Und zu Hause fügte Primo diesen auch die eigenen auf gleiche Weise an. Und damit war das „Gebsi“ sozusagen zu einem Mitglied unserer Familie geworden.
 
In Zürich fing es dann alle Post auf, die noch beantwortet werden musste. Es behütete Briefe, Prospekte, Einladungen, Pläne, Visitenkarten, Notizen, oder kleine Dinge, von denen wir nicht wussten, ob wir sie behalten sollen. Und hier, in dieser Schale drin, geschah dann etwas Ähnliches wie mit der Milch. Indem die Papiere ruhten, trennte sich im übertragenen Sinn der Rahm von der Milch. Manches erledigte sich von selbst. Wichtiges wurde plötzlich erkannt. „Gebsis“ Platz auf einer Kommode am Durchgang von der Küche zur Stube war ideal. Den gibt es so jetzt nicht mehr.
 
Ich weiss noch nicht, ob wir dieser treuen Dienerin wieder einen grossräumigen Platz zuweisen können, der ihrem 45-cm-Durchmesser entspricht. Das beschäftigt mich. Wenn ich darüber schreibe, mokiere ich mich über mich selbst. Es ist ja nur ein Detail unseres gesamten Umzuges, ich weiss. Und doch ein wichtiges.
 
Während der Wohnungssuche wurde ich manchmal gefragt: „Kannst du noch schlafen?“ Ja. Das war kein Problem. Aber jetzt schlafe ich manchmal lange nicht ein, weil ich an „Gebsi“ denke. Unsere Zusammenarbeit war so wertvoll, dass ich mir nicht vorstellen kann, sie einfach in Pension zu schicken.