Montag, 28. März 2011

Den Frühling von aussen und mit inneren Augen betrachtet

Jeder Frühling zeigt sich anders. Letztes Jahr (2010) erkannte ich ihn an einer einzigen Krokusblüte in einem noch tief schlafenden Garten. Diesmal muss er gelacht haben, als ich eines Morgens die mit unzähligen Primeln übersäte Wiese rund um unser Zuhause endlich entdeckte. Es war ein freudiges Erschrecken.
 
Über Mittag können wir bereits auf dem Balkon etwas Sonne tanken. Seitdem die Bise abflaute, ist es angenehm mild. Und das Béret benütze ich nur noch am frühen Morgen für die Ausfahrt auf dem Velo.
 
Als ich am Freitag, 25.03.2011, in die Innenstadt fuhr, begegnete mir am Hauptbahnhof eine japanische Frau. Sie zog einen Rollkoffer hinter sich her, war vermutlich gerade vom Flughafen ins Zentrum gereist. Sie trug eine weisse Atemschutzmaske und ging zielstrebig ihren Weg. Eine Vorsorge, falls auch hier die Atmosphäre schon radioaktiv verseucht sei? Ihr Anblick stimmte traurig. Später erfuhr ich aus dem Tagebucheintrag von Thomas Peter aus Yokohama, dass zu dieser Zeit Tausende von Japanern von Heuschnupfen geplagt seien, ausgelöst durch Zedernpollen. Er berichtet jeweils im Tages-Anzeiger aus dem gegenwärtigen Alltag in Japan. Die erwähnte Frau wollte sich vielleicht „nur“ vor den europäischen Pollen schützen. Wer weiss? Ja, die Pollenallergie gehört auch zum Frühling und lässt viele Mitmenschen leiden.
 
Vom Kinderarzt, der seinerzeit unsere Töchter betreute, weiss ich, dass die Märzsonne für Patienten schädlich sein kann. Das Frühlingslicht beschwingt den gesunden Menschen, den kranken kann es angreifen. Wir sollen uns diesem wieder erwachten Licht behutsam aussetzen, riet er uns vor vielen Jahren.
Mich macht das Frühlingslicht jeweils quirlig. Und es blendet mich. Und diesmal brachte es zum Thema passende Erinnerungen wieder an die Oberfläche. Vor meinen inneren Augen lief kürzlich jene Filmsequenz aus der Ausstellung in Erstfeld ab, als die beiden Strahler ihre im Planggenstock gefundenen Riesenkristalle ins Freie führten. Sehr behutsam, sehr besorgt, dass sie vom Sonnenlicht nicht erschreckt wurden. Sie waren Jahrmillionen im Dunkeln, vom Gestein gehalten. Sie ohne Risse ins Tageslicht zu führen, gelang nur, weil die Männer vorsichtig und der Energie im Stein gegenüber respektvoll vorgingen. (Siehe auch Blog vom 4.10.2007: Flüelen UR: Begegnung mit kräftigenden Riesenkristallen).
 
Für mich ist diese Kristallgeschichte eine Metapher für das Leben von uns allen. Aus dem Dunkel der Gebärmutter finden wir den Weg ins Licht. Manche schaffen es mit der Mutter allein, andere werden ins Leben geholt. Die Augen aber bleiben in beiden Fällen vorerst geschlossen. Das ist ihr natürlicher Schutz. Auf das Neugeborene soll kein grelles Licht fallen.
 
Dass wir den Frühling jedes Jahr erleben, gehört zu den lehrreichen Lebenserfahrungen. Wir sprechen ja allgemein gern über das Wetter und seine Stimmungen. Und daraus höre ich immer auch die Freude anderer Menschen an der wieder erwachten Natur. Es ist, als ob sie uns von einer unausgesprochene Angst befreite, eines Tages einfach zu streiken. Wir wissen wohl, was wir ihr alles zumuten. Was sie ob unserer Eingriffe alles ertragen muss.
 
Heute Morgen im Wald, als die spröde Sonne den Raum ausleuchtete, die Brauntöne der noch unbelaubten Bäume anschien und ich den Waldboden mit seiner Fülle an Buschwindröschen und Schlüsselblumen bewunderte, musste ich einfach gut hörbar aussprechen: Danke, dass ihr immer noch mitmacht, eure Bestimmung immer noch lebt.

Sonntag, 20. März 2011

Fülle und Leere – 102 Schalen von Nina Borghese Bloch

ch hatte den Raum betreten und den Text an der Säule gelesen, und schon war ich gepackt. Die Schalen hatte ich noch nicht gesehen, aber gelesen, was die aus Sizilien stammende Künstlerin zu ihrer Arbeit schrieb:
 
„Die Kunst gibt einem das Recht, einen Blick auf alle Dinge zu werfen, ohne zu ihrer Beurteilung verpflichtet zu sein." Oder: „Meine Arbeiten entstehen durch Experimente. Das führt unweigerlich zu Zufallsmomenten, die ich bewusst in meiner gestalterischen Arbeit integriere."
 
Mit ihren Worten hatte sie mir aus dem Herzen gesprochen, und ich dachte, dieses Recht sollte nicht nur der Kunst vorbehalten sein.
 
Dann schaute ich ihre Arbeiten an. Jede der 102 aus Gips gearbeiteten Schalen war auf einen eigenen Sitz platziert. Ich ging von einer zur anderen. Jede begann, mir sofort eine Geschichte zu erzählen. Ich musste nicht fragen. Es waren für mich Lebensgeschichten, Leidensgeschichten, gelebte Talente, Illusionen, Träume, Sehnsüchte, Schönheit des Lebens, Liebe, aber auch leibliche oder seelische Kerker. Es gab da auch Schalen mit einer einzelnen Münze. Das wenige Geld? Der Glücksbatzen? Geld an sich? Die Bettelschale? Verbliebener Rest nach dem Verkauf der Seele? Je weiter ich ging, desto differenzierter reagierte ich, ohne etwas endgültig taxieren zu wollen.
 
Nach meinem Rundgang sah ich in diesen formal gleichen, in ihrem Inneren aber einmalig ausstaffierten Schalen Bilder von Menschenleben. Einzigartig. Obwohl „nur“ 102 Versionen, wirkte die Darstellung sehr vielfältig. Je weiter ich voranschritt, desto erstaunter war ich: Wieder etwas ganz Anderes! Und im besten Fall immer nur der Titel eines verarbeiteten Themas. Oft bargen die Schalen auch Worte und wiesen den Gedanken ein Stück weit den Weg.
 
Heute hörte ich einen Radiosprecher sagen, als er besinnliche Musik ankündigte: In allem Denken schwingt Japan (das wegen des schweren Erdbebens und des Tsunamis leidgeprüfte Land) jetzt immer mit. Das empfinde ich auch so und ganz speziell in der Ausstellung, als es um die verletzten Schalen ging. Um Schalen mit Ausbrüchen, Flicken und Gittern.
 
Diese Ausstellung nennt sich Passionsausstellung und kann in der „Offenen Heiliggeistkirche“ an der Spitalgasse 44 in Bern vom 8. März bis 4. Mai 2011 besucht werden. Dienstag, Mittwoch 11.00‒18.30 Uhr, Donnerstag 11.00‒20.30 Uhr, Freitag 11.00‒16.30 Uhr.
 
Was uns anrühre, sei oft das Verletzliche und Verletzte, heisst es im Vorwort der Ausstellungsbroschüre. Diese Kirche wollte seit ihren Anfängen im 13. Jahrhundert jenen eine vorübergehende Heimat bieten, die da auf schlechten Landstrassen unterwegs waren, den Bettlern und Siechen, den Armen und Heimatlosen und Pilgern. Und heute ist sie als „offene kirche“ eine Insel im hektischen Alltag unserer Zeit. Wer es wünscht, darf sich hier ausruhen, sich aussprechen. Als ich hier war, wurde gerade einem Mann aus einem fernen Land eine Tasse Kaffee gereicht. Er wunderte und freute sich.
 
Die unmittelbare Nähe zum Bahnhof Bern ermöglichte mir diesen beschriebenen Zwischenhalt „zwischen zwei Zügen“ und das oben beschriebene Erlebnis mit den Schalen des Lebens.

Dienstag, 8. März 2011

Das Albisriederdörfli ist mehr als nur eine VBZ-Busstation

Es dauerte 3 Jahre, bis wir den Dorfkern von Albisrieden entdeckten. Die Buslinie 67, die wir öfters benützen, führt von der Schmiede Wiedikon nach dem Dunkelhölzli. Eine ihrer Stationen heisst Albisriederdörfli und erinnert daran, dass dieses Quartier einst ein eigenständiges Dorf war. Seit 1934 gehört es zur Stadt Zürich. Im Internet sind Fotos und entsprechende Informationen zu Zürich-Albisrieden abrufbar.
Am frühen Sonntagabend unterbrachen wir endlich einmal unsere Heimfahrt. Primo, der Tage zuvor hier durchgekommen war, wollte mir dieses Dörfli mit seinen prächtigen Riegelhäusern zeigen. Zum idealen Zeitpunkt, wie sich herausstellte. Die Sonne war schon untergegangen. In den Häusern brannte Licht. Vorhänge waren noch nicht zugezogen. Wir gingen durch diesen Ort und gleichzeitig durch eine Bilderbuchwelt. Anders gesagt: durch eine längst vergangene Zeit. Obwohl wir uns draussen aufhielten, konnten wir die Gemütlichkeit in den Räumen erahnen. Das milde Licht strahlte aus, ohne alles auszuleuchten. Und die kleinen Fenster sind so hoch angeordnet, dass der Blick von uns Fussgängern die private Sphäre nicht erreichen kann. Dieses Eintauchen in den bis dahin unbekannten Ort werde ich nicht so schnell vergessen.
 
Auch darum, weil zu Hause noch eine Überraschung auf uns wartete. Wir fanden unsere Wohnung erleuchtet vor. Das Licht brannte im Korridor und verteilte sich auch in die angrenzenden Räume. Es wirkte genau so gemütlich wie das in Albisrieden geschaute. Ich erkannte von weitem Menas Scherenschnitt an einem der Fenster. Er bestätigte, dass es wirklich unsere Wohnung sei. Ich hatte beim Weggehen vergessen, das Licht zu löschen.
 
An diesem Abend wurde mir wieder einmal bewusst, was die sogenannten 4 Wände für uns Menschen sind. Unser uhause, unsere Kultur. Der Ort, wo wir Lichter anzünden und die Dunkelheit draussen lassen. Wo wir geborgen sind. Also geschützt, obwohl verletzbar, uns sicher fühlend. Der Ort, wo wir uns hinlegen, uns vergessen, um schlafen zu können.
 
Etwas später spazierte ich bei Tag nochmals durch dieses alte Albisrieden. Da waren dann auch Bausünden rund um den historischen Kern zu erkennen. Und Zwänge der Verkehrsführung, die mitbeteiligt sind.
 
Und wieder sprachen mich die alten Häuser und die sich in Renovation befindende Kirche von 1818 an. Diesmal nüchterner, doch immer noch von Reichtum und Schönheit erzählend. Auch davon, wie früher Heimat verstanden worden ist.