Mittwoch, 3. Juli 2019

Noch bevor es blitzte und donnerte

Nachdem sich die Küchengerüche von nebenan davon gemacht hatten, trat grosse Stille ein. Und mit ihr wohltätige Ruhe. Ich hatte die Tür zum Balkon geöffnet und spürte eine leise Brise. Ein Geschenk, das ich noch nicht erwartet hatte. Ein heisser Sommertag begann langsam seine Hitze abzulegen und lud uns ein, den Abend noch im Balkon zu geniessen.
Ich fühlte mich sofort in den Ferien. In höheren Regionen, wo Abendstunden den Tageslauf auf milde Art abschliessen. Mit leichter Frische, leichtem Wehen, leichten Bewegungen von Gras und den zugehörigen Blumen. Freunde aus dem Ausland, die noch nie zu uns in die Ferien gekommen waren, würden sich wundern, wie schön und gesund der Stadtrand von Zürich hier ist. Ich schätzte an diesem Abend die Stille, die Frische, die Geborgenheit an diesem Wohnort. Da sass ich einfach ganz still, was mir guttut. Keine Gedanken drehen, sich an nichts erinnern wollen, einfach ruhen.

Plötzlich erinnerte ich mich aber an Stefan Zweig, den grossartigen Schriftsteller, der so detailtreu erzählte und seine Texte mit Gedanken bebilderte, was ich gerade jetzt fühlte. Von weit her und offenbar noch ganz in meinen Erinnerungen eingegliedert, haben sie mich besucht. Sie brachten Bilder, stille Freude, Ruhe, Staunen, Zuhören und inneren Frieden.

Primo war ebenso in seine Lektüre versunken. Zu besprechen gab es noch nichts. Stille auch von ihm und seiner Lektüre und Stille aus der uns umgebenden Ruhe.
Bald entdeckte ich den veränderten Himmel. Die blaue Farbe, die ganztags führend aufgetreten war, wurde plötzlich verdrängt. Grau tauchte auf. Es führte gelbes, gefährliches Licht mit sich. Niemand trat auf den Balkon, niemand bewegte sich um das Haus. Waren wir allein hier? Ich fühlte den Atem unseres ruhigen und gesunden Ortes und freute mich an der Stille. Nur hin und wieder störte ein Auto unsere Idylle.

Plötzlich wurden im Nachbarhaus die Treppenhaus-Lichter eingeschaltet. Und bald danach brach die Dunkelheit über uns aus. Da hörte ich die Stimme einer Frau, die ein Kind zu sich rief. Sie schrie. Hoch oben sauste ein Flugzeug vorbei. Graublaue Wolken zogen am Himmel auf. Vom Süden gegen den Norden. Und mehr und mehr löschte der Himmel sein Licht aus. Es nachtete. Da donnerten plötzlich mehrere Flugzeuge über unser Quartier. Ohne diesen Lärm wären wir vielleicht eingeschlafen. Zum Abschluss hörten wir noch mehrere Frauen und auch Männer, die nach ihren Kindern suchten. Sie werden einander wohl noch gefunden haben.
Um Mitternacht, bereits in tiefem Schlaf, war ein höllisches Gewitter ausgebrochen. Eigenartig Blitz und Donner. Nicht wie gewohnt. Das Wasser, das in meinem Umfeld vom Himmel fiel, war eine Mischung zwischen feinstem Wasser, in meinen Augen feinstem, dünnstem Schnee. Und unzählige Blitze, die am Tag danach auf ungefähr 20’000 gezählt worden seien. Und doch müssen grosse Wassermassen vom Himmel gefallen sein. Ungeheuer das gurgelnde, braune Abwasser, dessen Rückstau bis in unsere WC-Schüssel hoch gedrängt wurde. Das Wort Ungeheuer lässt hier wirklich an ein Ungeheuer denken. Die Gurgeltöne ängstigen. In der Toilette rumorte es. Und die Zuckungen spritzten Wasser über den Toilettenrand.
Auf unseren Balkon fiel wenig Wasser. Auch unser Umfeld wurde glücklicherweise nicht überschwemmt.
Am Morgen aber fanden wir keine geschlagenen Pflanzen, keine Wassertümpel. Keine umgefallenen Geräte, usw.

Ein Verlust empfand ich, dass ich während der 20’000 Blitze nicht schlafen konnte. Die Stunden dafür fehlten mir noch heute.

Ein ähnliches Erlebnis erzählte ich im Blog von 10. August 2008 zum Thema Faszination Gewitter und die dazugehörige Angst.
Die Faszination Gewitter ist oft auch von der Angst begleitet