Sonntag, 25. Oktober 2009

Plötzlich ist das Interesse an der Hagebuche erwacht

Kreissägen quitschten, als ich zum Lebensmittelgeschäft am Suteracher unterwegs war. Holzfäller waren im oberen Bereich der Eugen-Huber-Strasse an der Arbeit, stutzten Bäume, die sich an guten Plätzen übermütig ausgedehnt hatten. Nachher, auf dem Heimweg, waren die Arbeiter schon vis-à-vis der kleinen Kirche am Werk. Ich konnte mitverfolgen, wie ein riesiges Astgebilde einer Hagebuche in den mächtigen Sammelwagen gehievt wurde. Ich blieb stehen, dachte: Da ereignet sich etwas, was meinen bereits begonnenen und ins Stocken geratenen Beitrag fürs Blogatelier beleben kann. Das Thema der Hagebuche, angesprochen durch eine Leserin, Monja Freiesleben in CH-9607 Mosnang, machte mir bewusst, wie wenig ich von diesem Baum wusste. Sie stellte die Frage, ob sich Hagebuche für die Herstellung eines Bettes eigne.
 
Obwohl in unserer Schreinerei noch nie Hagebuche verarbeitet worden ist, wusste Primo über sie Bescheid. Aber mir fehlte der echte Kontakt zu diesem Holz. Wenn ich etwas mit den Händen angefasst habe, kann ich dazugehöriges Wissen leichter aufnehmen. Das sitzt dann.
 
Primo hatte schon im Frühjahr am Waldrand oben bemerkt, dass eine kranke Hagebuche gefällt worden war. Der Schnitt im Baumstrunk war noch frisch, und es lagen ein paar wackere Aststücke, von den Fällern zum Verfall preisgegeben, als Zeugen herum. Primo erkannte den Pilz, der auf abgestorbene Äste hinweist: Xylaria. Er nahm eines der Stücke auf die Schulter. Für eine normale Schreinerarbeit war es ganz klar nicht zu gebrauchen. Zerschunden, zerrissen zeigte es uns aber das Innenleben. Solches fasziniert uns immer.
 
Das Holzstück lag nun ein paar Monate ohne besondere Beachtung in der Werkstatt. Und wurde dann hervorgeholt, als ich meinen Wissens- und Erfahrungsdurst anmeldete. Primo schnitt den Hagebuchenklotz auf und verschiedene Rohlinge für Küchengeräte zu. Formen für Löffel und solche für Kellen. Er brachte auch einen Holzreif mit. Diesen hatte er aus dem Astquerschnitt zugeschnitten. Wegen des Xylariabefalls hatte das Holz dort sein schlichtes Weiss verloren und zeigt nun eine dem Marmor vergleichbare Farbe und Struktur. Alle diese Teile könne ich schleifen und so dem Wesen des Hagebuchenholzes nahe kommen. Verblüfft hat mich ganz speziell die Form des Reifs. Er passte exakt an meinen Arm, ohne dass vorher Mass genommen worden wäre. Auch diesen könne ich schleifen und ihm die ganz persönliche Form noch selber geben.
 
Etwas viel verlangt! Primo arbeitet seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Holz. In seinen Händen haben sich unzählige Experimente und Erfahrungen eingenistet, die immer noch sofort abrufbar und wegweisend sind. Eine solche Hilfe habe ich nicht. Aber immer noch Begeisterung genug, Erfahrungen zu machen.
 
Eine einigermassen seidene Oberfläche brachte ich an einem Löffel zustande. Auch am Reif mühte ich mich ab. Wegen seiner Xylariaerkrankung und Windrissen brach er mir an 2 Stellen auseinander. Primo leimte ihn sorgfältig zusammen. Da die Teile gespannt werden mussten, verkleinerte sich der Umfang. Ich konnte ihn nicht mehr übers Handgelenk streifen. Wieder war ich auf Hilfe angewiesen, konnte dem Innenradius schleifend nicht so viel Holz wegnehmen, dass er zum ursprünglichen Mass zurückfand. Wir fragten uns, ob das Holz vielleicht wegen des wärmeren Wohnungsklimas geschwunden sei. Jetzt hat er eine passende Form, hauptsächlich aber von Primo geschliffen. Die Oberfläche ist fein. Ich berühre sie gern. Ich könne sie ölen oder lackieren. Nein. Ich möchte den Reif so natürlich behalten und benützen. So kann er atmen, wachsen und schwinden, wie es seiner Art entspricht.
 
Es sind noch längst nicht alle Rohlinge geschliffen. Sie liegen gut sichtbar in meinem Arbeitszimmer. Ich beobachte, wie sich dünne Teile verziehen, mir ihre Individualität zeigen. Eine Schaufel ist besonders interessant. Vorderseite fein geschliffen. Die Form linksseitig ausgerissen, naturbelassen. Die Rückseite zeigt die Spaltoberfläche. Ungehobelt. Archaisch. Solche Exemplare setze ich im Haushalt nicht ein. Sie dürfen Ausstellungsobejekte sein und bleiben.
 
Die Hagebuche hat mir kein persönliches Parfum offenbart. Beim Schleifen machte sich aber ein leicht säuerlicher Geschmack bemerkbar. Das Holz ist in seiner ganzen Art schlicht, hart, schwer und doch konnte Primo aus diesem Material leichte, beinahe luftige Löffel und Kellen herstellen.
 
Dem Charakter dieses Holzes begegnen wir im Volkslied „Wänn eine tannige Hose hät und hagebuechig Strümpf ...“ Da wird von einem gesungen, der in Hosen aus Tanne und Strümpfen aus Hagebuche tanze, ohne dass seine Kleider zerknitterten. Ein solcher Bursche muss selbst ein unverwüstlicher Kerl sein.
 
Der Baum im Mittelpunkt dieses Blogs gehört zur Familie der Birkengewächse (Betulaceae). Er hat verschiedene Namen und ist doch immer derselbe: Hagebuche, Hainbuche, Weissbuche, Hornbuche. Jeder Name drückt eine besondere Eigenschaft aus: Hagebuche, weil er geeignet ist, einen Hag, also eine Abschrankung zu markieren. Hainbuche auf den Verbund einiger Bäume zu einem Wäldchen hinweisend, Weissbuche wegen seinem weissen Holz. Und Hornbuche spricht das weisse und hornartige Holz an.
 
Das Hagebuchwäldchen vor meinem Bürofenster ist ein hoher Lebhag und grenzt das Schulhaus Loogarten von unserem Wohnhaus ab. In wohltuender Distanz und gleichzeitig doch sehr nahe, ist es für mich der persönliche heilige Hain. Ich nannte ihn schon so, als ich noch gar nicht begriffen hatte, dass hier Hainbuchen stehen. Inzwischen sind wir dicke Freunde geworden. Sie lassen mich die Jahreszeiten mit all ihren subtilen Prozessen miterleben, und ich schenke ihnen viel Interesse und Freude.
 
Jetzt gerade zeigen sie mir verschwenderische Fülle. Ihre so genannten Flügel sind gut sichtbar, weil sie sich bereits verfärbt haben und sich von den übrigen grünen Blätter abheben. Diese Flügel, ein Blattwerk, sind 3-lappig und beherbergen das Samen-Nüsschen am Stilansatz. 6‒8 solcher Flügel sind übereinander aufgehängt. Wie ein beweglicher, länglicher Schmuck. Er erinnert mich an eine orientalische Frau, die ich vor Jahren tanzen sah. Sie hatte ihr Kleid vorne auf der Brust und hinten am Rücken mit ähnlich beweglichem Schmuck behängt. Und dieser betonte beim Tanzen ihre füllige, weibliche Figur. So sehe ich die Hagebuchen im Herbst. Sie sind meine orientalischen Frauen.
 
Sympathisch ist mir auch, dass in diesem Baum Männliches und Weibliches vereinigt ist. Man nennt das „einhäusig“. Die männlichen Kätzchen und die weiblichen Blütenstände wachsen auf im selben Haus. Um die Befruchtung kümmert sich der Wind.
 
Und der Wind ist es auch, der die Flügelfrüchte mit den Samen fortträgt. Schon bei leichten Winden habe ich bereits beobachten können, wie ganze Gruppen solcher Flügel vor meinen Fenstern niedergingen. Mit sanfter Landung, auch wenn beim Anblick Vergleiche zu Helikoptern aufgestiegen sind. Diese Samen können kilometerweit fliegen und den Weiterbestand der Hagebuche sichern. Darum muss ich um den heute Morgen gefällten Baum nicht trauern. Überdies freuen sich die Bewohner jenes Hauses, dass der grosse Baum vor ihren Fenstern und dem Balkon verschwunden ist. Ich konnte beobachten, wie sie hinaustraten und überrascht ausschauten. Die Frau muss dem Mann gezeigt haben, dass er jetzt nach Höngg hinüber sehe. Beide strahlten. Soeben wurde ihnen Weitsicht geschenkt.

Samstag, 17. Oktober 2009

Die Post und ihre Kunden: Ganz persönliche Geschichten

Erst als ein Betrag von über 700 Franken genannt wurde, hörte ich hin. Ich wusste nicht, ob der Pöstler einen Scherz machte oder ob das Paket, das er überreichen wollte, so viel Wert war. Der Coiffeur stutzte. Er fühlte sich offensichtlich überrumpelt. Woher das Paket stamme? Der Bote nannte den Ort. Wo das sei? Auch diese Frage wurde korrekt beantwortet. Die Anschrift wurde überprüft. Sie stimmte. Der Absender entpuppte sich dann als der bekannte Lieferant, jedoch mit der Adresse einer neuen Auslieferungsstelle. Der Coiffeur war immer noch unsicher. Man müsse vorsichtig sein, sagte er wie zu sich selbst. Gerne hätte er das Paket geöffnet und den Inhalt überprüft und erst dann bezahlt. Aber das ist bei einer Sendung „gegen Nachnahme“ nicht zulässig.
 
Der freundliche Paketzusteller hatte Geduld, liess dem Kunden anständig viel Zeit zum Überlegen. Ich hörte, dass er die Sendung schon am Morgen habe bringen wollen. Das Geschäft war noch geschlossen. Inzwischen war der Kunde bereit, die „Nachnahme“ zu akzeptieren. Es wurde bezahlt und unterschrieben. Nachdem der Coffeur seine Neugierde gestillt, das Paket geöffnet und sich vergewissert hatte, dass die Lieferung seiner Bestellung entsprach, entschuldigte er sich bei mir, dass der Haarschnitt unterbrochen worden sei. Dafür hatte ich Verständnis. Für mich kein Problem. Geschichten rund um die Post sind immer willkommen, verweisen sie doch auf eigene Erfahrungen und auf meine Beheimatung in dieser Institution. Und zudem habe sich dieser Pöstler mustergültig verhalten, fand ich.
 
Ich erinnerte mich augenblicklich an Episoden meiner Mitarbeit als Aushilfspöstlerin. Obenauf schwang die folgende: In Zürich-Wipkingen trug ich die Samstagspost aus. Da kam aus einer Seitenstrasse im Umfeld der Nordstrasse ein Mann auf mich zu und fragte, ob ich informiert sei, dass Familie Sch. keine Post mehr annehmen könne. Er sprach aufgeregt und wiederholte es mehrmals, dass alle Post zurückgewiesen werde. Ich wusste nicht, wovon er sprach, dachte, vielleicht habe diese Familie einen Todesfall gehabt und werde möglicherweise von allerlei Schulden überrascht. Der Mann doppelte nach und sagte, lauter als vorher: „Mached sie mit öisere Poscht, was sie wänd. Rüered si diä doch eifach i Dolen abe!“ (Machen sie mit unserer Post, was sie wollen. Werfen sie diese doch einfach in den Ablauf der Strassenkanalisation!)
 
Unmöglich. So etwas komme nicht in Frage. Er liess nicht locker, und ich wiederholte den Widerstand. Aber auf einmal lachte er liebenswürdig und gestand: „Alles erstunken und erlogen. Ha-ha!“ Ich lachte mit. Später, wenn wir einander wieder begegneten, winkte er schon von weitem und schmunzelte. Manchmal blieben wir einen Augenblick stehen, und er erzählte irgend etwas. Er war alleinstehend, pensioniert. Das Leben war viel zu ruhig geworden. Darum hatte er das beschriebene kleine Spiel inszeniert.
 
Am Samstag vor Weihnachten dann stand er an derselben Stelle und hielt mir ein Geschenk hin: Ein paar Weihnachtsguetzli, ein kleiner Tannenzweig und eine sehr schöne, von ihm selbst gestaltete Glückwunschkarte.

Sonntag, 11. Oktober 2009

Die Reise zu 3-Frauen-Kultorten auf Hügeln rund um Basel

Freunde aus anderen Landesteilen haben mir und meiner Familie schon oft unbekannte Orte erschlossen. Und so halten wir es auch. Auch wir bringen die Region, in der wir leben und von der wir beeinflusst sind, unseren Freunden näher.
 
Ich wünschte mir schon lange, die heilige Ottilie kennen zu lernen. Im Kanton Zürich hören wir diesen Namen selten. Auch die ihm zugrunde liegende Legenden waren uns unbekannt.
 
Alex und Marianne, echte Basler, wussten Bescheid. Ottilie sei eine von 3 Schwestern, die als Klausnerinnen auf verschiedenen Hügeln lebten und sich untereinander mit Zeichen verständigt hätten. Morgens mit Glocken, abends mit Öllichtern. Sie luden uns auf eine Fahrt auf die 3 Hügel ein.
 
Seitdem ich das Buch „wild und weise“ (Weibsbilder aus dem Land der Berge) kenne, bin ich hellhörig auf mythische oder heilige Frauengestalten, die zu dritt auftreten. Ursula Walser-Biffiger hat mich in ihrem Buch mit dieser Dreiheit bekannt gemacht. Es seien die 3 Aspekte der grossen Göttin: Die frühlingshafte Jungfrau, die reife Frau in ihrer Vollkraft und die weise, sehende Greisin.
 
Später bin ich in Köln in der Basilika St. Aposteln den heiligen Frauen Barbara, Margareta und Katharina begegnet. Hier handelte es sich um die 3 Nothelferinnen, die ebenfalls zusammengehören. Andernorts spricht man von heiligen Frauen, die zu dritt auftreten, von den „drei Bethen“. Walser-Biffiger schreibt dazu: „Die Drei Bethen verkörpern das immerwährende, ewig sich erneuernde Leben.“ Sie anzurufen, nannte man „bethen“, beten.
 
In Zürich wurde ich in der Weihnachtszeit in einem Geschäft mit italienischen Süssigkeiten auf den Panettone „Tre Marie“ aufmerksam. Der Verpackungskarton zeigte 3 Frauen, 3 Marien. Ihre Attribute: Das Mass, das Ei, der Kuchen.
 
Zu einem Artikel über „Frauen, die das Schicksal bestimmen“ erschien in der katholischen Zeitschrift „Forum“ 7/2003 ebenfalls eine Darstellung dieser Dreiheit. Hier wurde aber auf die nordische Mythologie verwiesen und die Edda zitiert. 3 Frauen sitzen hier am Lebensbaum an 3 Wurzeln mit der dreifachen Quelle und spinnen die Schicksalsfäden. Abgeschlossen wurde dieser Beitrag mit dem schweizerdeutschen Kindervers „Rite, rite Rössli“ (Reite, reite, Rösslein!), in dem ebenfalls auf 3 Mareien oder Marien verwiesen wird. Die Schicksalsgöttinnen – es sind wieder 3 – spinnen in diesem Kinderreim Seide, schnetzeln Kreide und spinnen Haferstroh.
Und neu habe ich dieser Tage auf der erwähnten Fahrt in Basel und Umgebung 3 weitere solcher Frauen kennen gelernt. 3 Schwestern, die sich auf verschiedenen Hügeln als Klausnerinnen angesiedelt hatten. Ihre Legende stammt aus frühchristlicher Zeit. Margaretha in Binningen am Stadtrand von Basel, Ottilia oberhalb von Lörrach auf dem Tüllinger Berg, also jenseits der Landesgrenze in Deutschland und Chrischona am westlichen Dinkelberg oberhalb von Bettingen BS.
 
Alle 3 Plätze sind alte, sakrale Orte. Solche Drei-Frauen-Legenden knüpfen vielfach an Glaubensvorstellungen aus vorchristlicher Zeit an, zum Beispiel an Gestalten wie die keltisch-römischen Matronae, die germanischen Nornen oder an die Dreifaltigkeit der Mond-, Erd- und Sonnenmutter, heisst es in einer Information zu den Kirchen auf den drei Hügeln.
Interessant fand ich, dass in der Kirche St. Ottilien, die selber Teil eines alten Drei-Frauen-Kultortes ist, ein Fresko erhalten ist, das auf andere 3 Frauen hinweist: Maria Magdalena, Maria Salome und Maria Kleopas am Grab Christi.
 
Mich faszinierten auf dieser Reise immer auch die Ausblicke über Stadt und Landschaft. Auch nach Frankreich und Deutschland hin. Und am Ausgangsort St. Margarethen, wo wir die Kirche nicht betreten konnten, weil sie sich in Renovation befindet, wurde der Blick über die Stadt Basel zur Hauptattraktion. Ich freute mich, die Distanzen zu sehen, die wir zurücklegen werden und die wir ohne Auto nicht in einem Tag so gemütlich bewältigt hätten.
2 der Kirchen gehören zur Evangelischen Kirche. St. Chrischona am westlichen Dinkelberg oberhalb Bettingen wurde 1966 der Evangelischen Pilgermission überlassen. Auf dieser traumhaften Anhöhe mit Blick auf Basel und die Alpen befindet sich auch der Hauptsitz der Pilgermission mit Theologischem Seminar.
 
Ein altes Gebäude aus Holz, genannt Eben Ezer, sprach mich besonders an. Ich wähnte mich bei den Amischen. Diese auf das alte Testament bezogene Bezeichnung übersetzt Wikipedia mit „Stein der Hilfe“. Ein Ort, der Gottes Präsenz markiert?
 
Am Abend gab Marianne unserem Ausflug den Namen „Drei Hoger-Tag“. (Hoger = Hügel). Und Alex nannte bereits neue Ziele für weitere Ausflüge zu mythischen Orten im Dreiländereck.