Samstag, 28. Mai 2005

Alle Stände sind aufgehoben, nur der Notstand nicht

Heute möchte ich am liebsten auf den Putz hauen. Als ich mein Velo aus dem Ständer am Hauptbahnhof hole, liegt die Lampe am Boden. Schon wieder. Wieder ein Vandalenakt oder einfach zu enge Verhältnisse? Hab ich vielleicht auch schon einmal ein Nachbar-Velo verletzt?

Auf der Rückfahrt kann ich – wie üblich – nicht allen Glasscherben ausweichen. Zu gefährlich wären Schwenker. Zum Finale der nächtlichen, bis ins Morgengrauen dauernden Partys gehören immer die gläsernen Getränkeflaschen, die auf dem Heimweg zerschmettert werden. Und diese Scherben bescheren mir nun „en Platte“ (die Luft ist aus dem Reifen).

Zu Hause dann erwartet mich eine verärgerte Nachbarin und zeigt auf das Auto, das vor ihrer Haustür parkiert ist. Ungefragt werden immer wieder Autos in unserem privaten Hof abgestellt, wie wenn er ein Parkhaus wäre. Für meine Nachbarin eine grosse Aufregung. Ihr Mann ist schwer krank. Arzt und Therapeut werden erwartet und finden nun keinen Parkplatz.

Im Laufe des Tages lässt sich der Autobesitzer ausfindig machen. Gegen Abend holt er sein Gefährt hier ab. Er jammert, wie teuer eben die Kosten im Parkhaus nebenan gewesen wären.

Das alles ist nicht lustig und strapaziert die Toleranz. Jetzt erinnere ich mich gerade wieder an eine Aussage von Alfred Kirchmayr, die ich kürzlich im „Publik-Forum“ gelesen habe: „Alle Stände sind jetzt aufgehoben. Der Verstand, der Anstand, der Wohlstand. Es bleibt nur der Notstand.“

Sonntag, 22. Mai 2005

Die kybernetische Grossmutter lässt grüssen

Wenn ich Daten aus dem Computer versende und die Lichter an meinem Modem flackern, denke ich öfters an DIE KYBERNETISCHE GROSSMUTTER im Puppenspielfilm von Jiri Trnka. Der tschechische Künstler konnte in den 60er-Jahren in der Zürcher Kunstgewerbeschule (heute Hochschule für Gestaltung) Filme zeigen, und da war ich dabei.

In diesem Film ist die Grossmutter ein technisches, irrlichterndes Gebilde, das am Himmel kreist und von dort aus die Enkelkinder überwacht. Wenn eines Zuneigung braucht, nähert sie sich behutsam. Sie erzählt auch Geschichten. Es ist lange her, seit ich diesen aussergewöhnlichen Puppenfilm sah und erstmals künstliche Sprache hörte. Da war ich noch jung und der Status der Grossmutter kein Thema. Und doch blieben Bilder und Inhalt dieses Spiels in mir haften. Trnka vermittelte seine Vision, dass die Technik mehr und mehr menschliche Fähigkeiten übernehmen werde. In seinem Film sind es sogar Zuneigung, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl.

Nun bin ich auch eine Grossmutter geworden, doch meine Füsse stehen immer noch auf der Erde. Aber einige Aspekte von Trnkas Visionen haben sich bereits erfüllt. Dank der Computer-Technik bin ich mit der Enkelin im Ausland verbunden. Ich kann ihr über E-Mail Geschichten erzählen, Fotos senden und von ihr ebenfalls Bilder und sogar Tonsequenzen empfangen. Ich kann sie singen hören und mitverfolgen, wie sich die Sprache entwickelt.

Angst, dass wir Menschen in Wesen wie die kybernetische Grossmutter umgewandelt werden, habe ich nicht. Alle Technik ist Werkzeug und auf den Menschen angewiesen. Selbst ein Roboter ist eine Maschine, auch wenn er äusserlich einem Menschen nachgebildet ist. Wenn Computer und Roboter destruktiv werden, dann stehen Menschen mit einer solchen Absicht dahinter. Die Technik ist neutral. Und zudem besitzt sie keine angeborene, natürliche Lebensenergie.

Mittwoch, 18. Mai 2005

Gedankenblitze auf einer Velofahrt durch Zürich

Heute Morgen fuhr ich an den Stadtrand am Fuss des Uetlibergs ins Altersheim Laubegg. Es lief vieles wie geschmiert. Es begann mit der Geste eines Automobilisten, der die schleichende Kolonne anhielt und mich die Hardturmstrasse passieren liess. „Kundendienst“ las ich auf seinem Gefährt.

Danke schön!

Halb 9 Uhr, der Morgenverkehr in vollem Gang. Vor mir ein Auto aus dem Fürstentum Liechtenstein mit FL-Kennzeichen.

FL sind die Initialen meiner ältesten Tochter. Ich denke an sie. Wie geht es ihr? Was macht sie gerade jetzt?

Ich fahre auf dem schmalen Velostreifen, der neuerdings auch von Fussgängern reklamiert wird. Wenn jetzt vorwurfsvolle Blicke auf Velofahrende geworfen werden, genügt ein Blick auf die gelben Markierungen im Asphalt. Alles klar. Die Zweiräder dürfen hier durchkommen.

Manchmal möchte ich diesen jungen Leuten erzählen, wie es früher war. Aber mehr noch möchte ich in solchen Momenten unserem ehemaligen Stadtrat Ruedi Aeschbacher für die Velowege danken. Er hat sie realisiert. Immer wieder blitzt sein Name auf, wenn ich den Raum, der uns Velofahrern zugesprochen ist, diskussionslos einfordern darf.

Escher Wyss-Platz. Tramdepot, Bluewin-Tower (nachts wie ein blauer Edelstein leuchtend), KV-Business-Schule, Brücke nach Wipkingen. Auf der Westtangente-Hochstrasse über uns die donnernde Verkehrslawine.

Bevor ich an der Ampel anhalte, spielen meine Augen ein Spiel. Das Logo auf den bluewin-Autos im Fokus. Hinsehen und aus dem Leerraum der Buchstaben u und w und mit dem Zusatz von zwei Querstrichen, die am w angehängt sind, das weisse e hervorzaubern. Macht Spass (Bluewin = Schweizer Internet Provider).

Ampel auf Rot. Warten. Konzentration auf Licht und Strasse. Trommelnde Hände auf dem Steuer eines Autofahrers neben mir.

Los! Autos springen an, rasen davon. Erschreckend rücksichtslos. Auf der Limmatstrasse wird es ruhiger. Die Akazienallee in der Röntgenstrasse erwacht langsam aus dem Winterschlaf.
Wann blüht ihr wieder?

Vom Turm der Kirche St. Josef läutet eine einzige Glocke und begleitet mich bis zur Langstrassenunterführung mit ihrer Kunst am Bau. Aus einer gefürchteten Unterführung ist ein farbenfroher Durchgang geworden. Auf- und absteigende Elemente strecken einem die Regenbogenfarben hin. Über uns die Züge, die in Zürich ankommen, oder den Hauptbahnhof verlassen.

Diesen Farbklang hab ich gern. In der Erinnerung sehe ich die damalige Stadträtin Ursula Koch, wie sie diesen Durchgang nach der Eröffnung abschritt und schmunzelte.

Mein Weg führt weiter über die Lagerstrasse. Mit Blick zur Sternwarte.

Stehen die Sterne gut für den heutigen Tag?

„City-Kirche“ St. Jakob. Tramstation Stauffacher. Wissen alle Schweizer, wer (Werner) Stauffacher war? Mitbegründer der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Teilnehmer am Rütlibund.
Gedankenblitz zu St. Jakob: Brot holen.

In diesem Umfeld befindet sich das Behindertenwerk mit der Bäckerei St. Jakob. Eine Erfolgsgeschichte. Brot und Backwaren sind stadtbekannt. Der Andrang gross. Auch heute. Wir stehen in 3 Reihen vor der Verkaufsvitrine. Langweilig ist es nicht. Die seitliche Glasfront erlaubt einen weiten Blick in den Backstuben-Vorraum, wo gerade Fruchttörtchen glasiert werden. Hier finden Menschen mit einer Behinderung Arbeit und Geborgenheit, Führung und Mitmenschlichkeit und die Kundschaft Qualität.

Brot und Kuchen verschwinden in der Velotasche. Weiter gehts.

Stauffacher-Brücke. Einfallstor aus dem Sihltal. Hier steht das Glashaus der Tamedia (Tages-Anzeiger). Stau. Auch die Velofahrerin muss warten.

Ich nehme ein lauschiges Plätzchen mit modern zugeschnittenen Buchsbäumchen wahr. Eine kleine Insel. Noch nie bemerkt!

Ich überquere die Stauffacher-Brücke und fahre dem Ufer entlang.

Hallo Sihl! Bei Dir kann ich tief einatmen. Du bist noch da. Du hast noch nicht aufgegeben, trotz brutalem Schicksal, das Dir die Last der Sihlhochstrasse aufgebürdet hat. Eine Autobahn, abgestützt in einem Flussbett! Waren die, die das entschieden, noch bei Trost? Und der Spazier- und Veloweg an deinem Ufer heisst immer noch grosssprecherisch Sihlpromenade.

Ja, es gibt auch Bäume hier. Viele Platanen und einen kleinen Wald und Vögel, die unbelastet singen. Das Areal der ehemaligen Bierbrauerei Hürlimann liegt auch an diesem Weg. Auf ihrem frei gewordenen Areal sind neue Wohnhäuser entstanden. Direkt an den Linien Üetliberg- und Sihltalbahn und neben der Autobahn.

Ein Kinderspielplatz, schon etwas grün überwachsen, versprüht Optimismus. Vermutlich ist dieser Ort für Kinder trotz allem lebensfreundlicher als jener meiner Enkelin am Fusse von Montmartre in Paris.

Diese Gedanken werden sofort beschnitten, wenn der Manesseplatz überfahren werden muss. Kein Ort zum Träumen.

Zu Fuss bergan. Dann bin ich am Ziel.

Besuch bei einer Verwandten. Mit der Atmosphäre dieses freundlichen Heims bin ich gut vertraut. Eine Pensionärin will mir etwas aus der Zeitung vorlesen als ich sie im Treppenhaus grüsse. Die Verwandte Celeste begleite ich seit Jahren, bin ihre „Seggredärin“ (Sekretärin), wie sie sagt. Ich besorge ihr die administrativen Arbeiten, kaufe ein für sie, versuche, ihre Wünsche zu erfüllen. Heute schneide ich ihr die Zehennägel und nähe abgefallene Knöpfe am Bettanzug an. Und sie berichtet alles, was sie bewegt. Ich könnte ein Buch darüber schreiben.

Wenn ich jeweils das Heim verlasse, kreisen meine Gedanken um letzte Lebensjahre. Jeder Besuch fügt der Leidensgeschichte ein neues Kapitel hinzu.

Was steht mir noch bevor? Ich möchte eher helfen, als dass mir geholfen werden muss. Ich möchte nicht sehr alt werden, möchte nicht zur Karikatur meiner selbst werden, möchte unabhängig bleiben, möchte niemanden mit meinen Macken belasten.

Abfahrt. Es läuft von selbst. Die Strasse führt abwärts. Eine Weile bin ich leer. Dann blitzt wieder etwas auf, das mich zu fein verästelten Gedanken verleiten will.

Es ist ein Wunder, dass wir gleichzeitig Neues aufnehmen und Altes damit verknüpfen können, ohne vom Weg abzukommen oder verkehrswidrig zu handeln. – Solange wir noch gesund und nicht zu alt sind.

Dienstag, 10. Mai 2005

Nachlässigkeiten im Umgang mit Namen und Adressen

Jetzt habe ich gerade eine E-Mail erhalten. Mit Hinweis auf eine bevorstehende Klassenzusammenkunft. Den Absender nenne ich hier Franz. Ich kenne ihn nicht. Er schreibt, er habe die Mail-Adressen von unserem Kurs in den Computer eingegeben. Um zu wissen, ob alle richtig erfasst seien, bitte er um ein OK-Mail. Er wählte die kleinste Schrift. So fiel mir nicht sofort auf, dass diese Nachricht mit dem Vornamen einer Frau unterschrieben war. Ich orientiere mich immer zuerst an der Absender-Adresse.

Unmut meinerseits. Wenn ich etwas verabscheue, dann sind es Verschleierungen. Was will dieser Franz mit Bestätigungen von Mail-Adressen, unter denen die meine offensichtlich auch figuriert? Worauf bezieht er sich? Ein Wunder, dass ich seine Anfrage nicht sofort gelöscht habe.

Dann bemerkte ich den weiblichen Vornamen unter dem Text und konnte mir einen Reim machen. Eine Mitschülerin aus dem Seminar X, an dem ich auch teilnahm, durfte offenbar den Computer ihres Mannes benutzen, dachte aber nicht daran, im Betreff einen Hinweis auf sich einzufügen. Sorglos schickte sie das „Franz-Mail“ an ihre Kolleginnen. Sie konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass wir sie nicht sofort erkennen würden. Als ehemalige Verträgerin von Briefpost bin ich immer noch allergisch auf alle Nachlässigkeiten in Adressen, die Mehrarbeit und oft auch Verwirrung verursachen. Aber mehr noch störte es mich, dass sich eine junge Frau über ihren Franz definierte.

Vor 15 Jahren, als meine Mutter gestorben war und meine Schwester und ich für die Vermögens-Inventarisation ins Stadthaus gerufen wurden, mussten wir die Personalausweise mitbringen. Damals wurde pro Familie nur einer ausgestellt, selbstverständlich auf den Namen des Mannes. So sassen dann meine Schwester als Paul Anton und ich als Alfred Primo vor der Beamtin, die unsere Papiere prüfte. Und wir wollten von ihr wissen, warum wir mit den Ausweisen der Ehemänner antraben mussten. Die Ehe sei ein Zusammenschluss von 2 Personen, die zu einer neuen Einheit geworden sei, sagte sie feierlich. Da genüge ein Dokument.

Bald aber änderte die Praxis, und Frauen durften den eigenen Personalausweis bestellen. Die Gleichberechtigung kam voran. Der Name einer Frau bekam den gleichen Wert, wie der des Mannes. Jetzt sollte er nur noch selbstbewusst gebraucht werden.

Sonntag, 8. Mai 2005

Wege und Übergänge. Um Freunde zu finden

Oh je, die Foto ist unscharf. Ich kann die Inschrift am Brückeneingang über den Aabach nicht lesen und vergessen habe ich sie auch. Hiess sie „Alles ist Übergang“?

Passend für meinen Sonntag. Nach nur halbstündiger S-Bahn-Fahrt war ich in einer fremden Kultur gelandet. In der Unterführung von Pfäffikon im Kanton Schwyz wurde ich auf eine Tibeterin aufmerksam. Diese spielte auf einem mir unbekannten Instrument und versetzte mich augenblicklich in eine fremde Kultur. Mit einer Art Geigenbogen entlockte sie dem metallenen Teil des Instruments Töne, die mich an Steppenvölker denken liessen. Vor meinen inneren Augen sah ich Pferde davonrennen und Staub aufwirbeln. Die Töne ähnelten einem giftigen Wind. Die Frau sang auch. Genau gesagt, tönte sie. Worte fehlten. Ich versuchte, mit ihr zu reden, doch mangelte es uns an einer gemeinsamen Sprache. Ob sie hier zu Hause sei? Nein. Ob sie immer weiter ziehe? Mit Handbewegungen versuchte ich, mich verständlich zu machen. Ja! Ja, unterwegs. Vielleicht als Aufgabe, das Leben nach ihrer Religion zu meistern? Ich weiss es nicht.

Dann traf ein weiterer Zug ein. Menschen strömten über die Treppen in den Untergrund und an uns vorbei. Ein Mann war ebenso elektrisiert wie ich es war, als ich die fremden Töne wahrnahm und stellte abrupt seinen Koffer ab. Auch er hörte eine Weile zu. Ging weiter. Und kam wieder. Genau, wie ich mich verhalten hatte. Doch brachte er der Frau eine Schrift und erklärte dazu: „Um Freunde zu finden.“ Vielleicht in einer internationalen Friedensorganisation? Die Fremde war sofort interessiert und suchte aus dem Faltprospekt die ihr adäquate Sprache. Weil sie einen grauen Arbeitskittel trug, wie wir ihn noch aus der Mao-Zeit kennen, mag er sie als Chinesin eingestuft haben. Auf diese Frage schüttelte sie aber den Kopf. Mir hatte sie vorher auf die Frage, ob sie aus dem Tibet stamme, mit Ja geantwortet.

Danach erhob sie sich, streckte sich, stöhnte etwas und gab Signale, sie möchte jetzt stille sein. Wir gingen weiter, in gegensätzliche Richtungen. Bevor mein Zug weiterfuhr, stieg ich aber nochmals hinunter und winkte ihr. Sie sang wieder. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann kam ich in meine eigene Kultur zurück.

Im Laufe unserer Wanderung kam ich dann über die gedeckte Aabach-Brücke bei Schmerikon, einem Lieblingsort von mir. Hier kann ich immer verweilen, denn die Brücke offeriert in ihren Seitennischen Bänke und Ausblicke in alle Richtungen. Lichtdurchflutet ist sie. Ihre grossen Fensterluken binden die Landschaft in ihre Gestaltung ein. Hier heisst Übergang Übersicht und Aussicht.

Im übertragenen Sinn mag auch die dunkle Nische in der Bahnhofunterführung ein Übergang für die Tibeterin sein. Wenn sie Freunde finden kann, führt ihr Weg sicher bald wieder oberhalb der Erde weiter.