Heute Morgen fuhr ich an den Stadtrand am Fuss des Uetlibergs
ins Altersheim Laubegg. Es lief vieles wie geschmiert. Es begann mit der
Geste eines Automobilisten, der die schleichende Kolonne anhielt und
mich die Hardturmstrasse passieren liess. „Kundendienst“ las ich auf seinem Gefährt.
Danke schön!
Halb 9 Uhr, der Morgenverkehr in vollem Gang. Vor mir ein Auto aus dem Fürstentum Liechtenstein mit FL-Kennzeichen.
FL sind die Initialen meiner ältesten Tochter. Ich denke an sie. Wie geht es ihr? Was macht sie gerade jetzt?
Ich fahre auf dem schmalen Velostreifen, der neuerdings auch
von Fussgängern reklamiert wird. Wenn jetzt vorwurfsvolle Blicke auf
Velofahrende geworfen werden, genügt ein Blick auf die gelben
Markierungen im Asphalt. Alles klar. Die Zweiräder dürfen hier
durchkommen.
Manchmal möchte ich diesen jungen Leuten erzählen, wie es
früher war. Aber mehr noch möchte ich in solchen Momenten unserem
ehemaligen Stadtrat Ruedi Aeschbacher für die Velowege danken. Er hat
sie realisiert. Immer wieder blitzt sein Name auf, wenn ich den Raum,
der uns Velofahrern zugesprochen ist, diskussionslos einfordern darf.
Escher Wyss-Platz. Tramdepot, Bluewin-Tower (nachts wie ein
blauer Edelstein leuchtend), KV-Business-Schule, Brücke nach Wipkingen.
Auf der Westtangente-Hochstrasse über uns die donnernde Verkehrslawine.
Bevor ich an der Ampel anhalte, spielen meine Augen ein Spiel. Das Logo auf den bluewin-Autos im Fokus. Hinsehen und aus dem Leerraum der Buchstaben u und w und mit dem Zusatz von zwei Querstrichen, die am w angehängt sind, das weisse e hervorzaubern. Macht Spass (Bluewin = Schweizer Internet Provider).
Ampel auf Rot. Warten. Konzentration auf Licht und Strasse. Trommelnde Hände auf dem Steuer eines Autofahrers neben mir.
Los! Autos springen an, rasen davon. Erschreckend
rücksichtslos. Auf der Limmatstrasse wird es ruhiger. Die Akazienallee
in der Röntgenstrasse erwacht langsam aus dem Winterschlaf.
Wann blüht ihr wieder?
Vom Turm der Kirche St. Josef läutet eine einzige Glocke und
begleitet mich bis zur Langstrassenunterführung mit ihrer Kunst am Bau.
Aus einer gefürchteten Unterführung ist ein farbenfroher Durchgang
geworden. Auf- und absteigende Elemente strecken einem die
Regenbogenfarben hin. Über uns die Züge, die in Zürich ankommen, oder
den Hauptbahnhof verlassen.
Diesen Farbklang hab ich gern. In der Erinnerung sehe ich
die damalige Stadträtin Ursula Koch, wie sie diesen Durchgang nach der
Eröffnung abschritt und schmunzelte.
Mein Weg führt weiter über die Lagerstrasse. Mit Blick zur Sternwarte.
Stehen die Sterne gut für den heutigen Tag?
„City-Kirche“ St. Jakob. Tramstation Stauffacher. Wissen alle
Schweizer, wer (Werner) Stauffacher war? Mitbegründer der
Schweizerischen Eidgenossenschaft, Teilnehmer am Rütlibund.
Gedankenblitz zu St. Jakob: Brot holen.
In diesem Umfeld befindet sich das Behindertenwerk
mit der Bäckerei St. Jakob. Eine Erfolgsgeschichte. Brot und Backwaren
sind stadtbekannt. Der Andrang gross. Auch heute. Wir stehen in 3 Reihen
vor der Verkaufsvitrine. Langweilig ist es nicht. Die seitliche
Glasfront erlaubt einen weiten Blick in den Backstuben-Vorraum, wo
gerade Fruchttörtchen glasiert werden. Hier finden Menschen mit einer
Behinderung Arbeit und Geborgenheit, Führung und Mitmenschlichkeit und
die Kundschaft Qualität.
Brot und Kuchen verschwinden in der Velotasche. Weiter gehts.
Stauffacher-Brücke. Einfallstor aus dem Sihltal. Hier steht das
Glashaus der Tamedia (Tages-Anzeiger). Stau. Auch die Velofahrerin muss
warten.
Ich nehme ein lauschiges Plätzchen mit modern zugeschnittenen Buchsbäumchen wahr. Eine kleine Insel. Noch nie bemerkt!
Ich überquere die Stauffacher-Brücke und fahre dem Ufer entlang.
Hallo Sihl! Bei Dir kann ich tief einatmen. Du bist noch da.
Du hast noch nicht aufgegeben, trotz brutalem Schicksal, das Dir die
Last der Sihlhochstrasse aufgebürdet hat. Eine Autobahn, abgestützt in
einem Flussbett! Waren die, die das entschieden, noch bei Trost? Und der
Spazier- und Veloweg an deinem Ufer heisst immer noch grosssprecherisch
Sihlpromenade.
Ja, es gibt auch Bäume hier. Viele Platanen und einen kleinen
Wald und Vögel, die unbelastet singen. Das Areal der ehemaligen
Bierbrauerei Hürlimann liegt auch an diesem Weg. Auf ihrem frei
gewordenen Areal sind neue Wohnhäuser entstanden. Direkt an den Linien
Üetliberg- und Sihltalbahn und neben der Autobahn.
Ein Kinderspielplatz, schon etwas grün überwachsen, versprüht Optimismus. Vermutlich ist dieser Ort für Kinder trotz allem lebensfreundlicher als jener meiner Enkelin am Fusse von Montmartre in Paris.
Diese Gedanken werden sofort beschnitten, wenn der Manesseplatz überfahren werden muss. Kein Ort zum Träumen.
Zu Fuss bergan. Dann bin ich am Ziel.
Besuch bei einer Verwandten. Mit der Atmosphäre dieses
freundlichen Heims bin ich gut vertraut. Eine Pensionärin will mir etwas
aus der Zeitung vorlesen als ich sie im Treppenhaus grüsse. Die
Verwandte Celeste begleite ich seit Jahren, bin ihre „Seggredärin“
(Sekretärin), wie sie sagt. Ich besorge ihr die administrativen
Arbeiten, kaufe ein für sie, versuche, ihre Wünsche zu erfüllen. Heute
schneide ich ihr die Zehennägel und nähe abgefallene Knöpfe am Bettanzug
an. Und sie berichtet alles, was sie bewegt. Ich könnte ein Buch
darüber schreiben.
Wenn ich jeweils das Heim verlasse, kreisen meine Gedanken um
letzte Lebensjahre. Jeder Besuch fügt der Leidensgeschichte ein neues
Kapitel hinzu.
Was steht mir noch bevor? Ich möchte eher helfen, als dass
mir geholfen werden muss. Ich möchte nicht sehr alt werden, möchte nicht
zur Karikatur meiner selbst werden, möchte unabhängig bleiben, möchte
niemanden mit meinen Macken belasten.
Abfahrt. Es läuft von selbst. Die Strasse führt abwärts. Eine
Weile bin ich leer. Dann blitzt wieder etwas auf, das mich zu fein
verästelten Gedanken verleiten will.
Es ist ein Wunder, dass wir gleichzeitig Neues aufnehmen und
Altes damit verknüpfen können, ohne vom Weg abzukommen oder
verkehrswidrig zu handeln. – Solange wir noch gesund und nicht zu alt
sind.
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