Es öffnete sich mir plötzlich eine grandiose Bühne, als ich die Hardturmstrasse auf dem Velo verliess und in der Förrlibuckstrasse weiterfuhr. Nichts ahnend, was mich auf dieser Strecke erwartete. Einige wenige Blicke schenkte ich den renovierten Familienhäusern, die ich seit meiner Kindheit kenne. Der Arbeitgeber «Schaffhauser Wolle» stellte sie seinen Arbeitern zur Verfügung. Eine Mitschülerin aus der Primarschule wohnte hier. Ich durfte sie dort besuchen und bewunderte diesen damals idyllischen Ort mit seinen Gärten und der grossen Wiese. Besonders auch die Rosen am Eingangstor.
Später, als ich mit der Familie in einem Bernoullihaus an der Hardturmstrasse wohnte und ich für Einkäufe zur Pfingstweidstrasse fuhr, kam ich ebenfalls an diesen Häusern vorbei. Da musste ich aus der Geraden in eine schmale S-Kurve abzweigen. Die Pedalen durften ruhen. Das Rad führte weiter. Und in diesen wenigen Momenten erlebte ich auch inneres Loslassen. Da meldeten sich Antworten und Einsichten, nach denen ich lange Zeit vorher gesucht habe. Seltsam schön. Solche Momente gab es mehrmals. Jedesmal unerwartet. Diesmal einfach als Erinnerung an damals. Ich meinte die innere Stimme zu hören: «Weisst Du noch?»
Diese Rückschau dauerte nur Sekunden lang, denn rechtsseitig öffnete sich mir eine gigantische Abbruch-Bühne. Ich stellte das Velo ab, schlenderte eine Weile umher, dachte an alte Zeiten, überlegte mir, wo genau der Bauernhof der Familie Buob untergegangen sein muss. Und sofort wünschte ich mir, dass ich mit Primo zusammen diesen Ort noch genauer anschauen könne.
Der Wunsch wurde sofort erfüllt. Nach dem Mittagessen fuhren wir dorthin. Der Fotoapparat war dabei. Die Aufnahmen können nun für sich selbst sprechen. Besser als meine Worte.
Obwohl schon Wochen zuvor über den vorgesehenen Abbruch eines nur ungefähr 30 Jahre alten Gebäudes gesprochen und geschrieben wurde, erschraken wir beide. Zu sehen, wie ein gesundes Gebäude umgebracht wird, erschüttert einen. Begründet wird diese Form von Totschlag mit «Strukturwandel».
Ich bin in diesem Umfeld aufgewachsen. Darum versuchte ich wieder einmal, das Zuhause aus der Kindheit an den überbauten Orten im Stadtkreis Zürich 5 zu platzieren. Einen Überblick spendete die alte Aufnahme mit dem Fussballstadion Förrlibuck aus dem Buch «Zürich – im Flug gesehen» (Orell Füssli-Verlag). Im linken Bereich oben der Bauernhof der Familie Johann und Marie Buob und rechts oben im Bild mein Zuhause in der Glas- und Spiegel-Manufaktur Müller-Quendoz an der Hardturmstrasse.
Förrlibuck, was bedeutet dieser Name?
Erst seit gestern weiss ich es. Im Internet wurde die Antwort gefunden: Das immaterielle Wesen, auf den die universelle Schuld abgewälzt wird. Ein Förrlibuck sei eine Steigerungsform vom Sündenbock. Stimmt offenbar mit der erwähnten Situation überein.
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