Die Geschichte ist wahr. Namen und Orte sind aber verändert.
Es fiel mir schon auf dem Friedhof auf, dass Gregory
religiös-philosophische Gedanken äusserte, als wir vor dem Grab seiner
geliebten Henriette standen. Ungewohnt für mich. In meiner Erinnerung
war er der nüchterne und kritische Mann, der immer darauf achtete, dass
Gedanken realitätsbezogen blieben und die Wortwahl präzise war. Nur
keine Höhenflüge, nur keine Phantasien. Und religiöse Themen wies er
stets von sich. Hatte ihm der frühe Tod seiner Frau nun neue
Gedankenräume erschlossen?
5 Jahre war er nun Witwer, bereiste in dieser Zeit viele Länder,
forschte an einem Thema, schrieb ein Buch. Briefe von ihm berichteten
von seinen Reisen. Die Trauer wurde nie erwähnt. Eines Tages wurde
vereinbart, sich wieder einmal zu treffen. Und wie früher führte uns er
uns auch diesmal an einen Ort, den wir alleine kaum gefunden hätten.
Auch als Henriette noch lebte, festigten unsere Zusammenkünfte
nicht nur unsere Freundschaft. Wir zeigten einander immer auch Orte mit
besonderem Charakter aus dem eigenen Lebensumfeld. So vermittelten wir
einander Geographie und die Mentalität des jeweils anderen Kantons.
Diesmal führte der Weg zu einem beliebten Gasthaus über eine
Lichtung und einem Waldrand entlang. Von weither leuchtete ein
Kirschbaum in rotem Herbstlaub. Da sprach ich aus, was ich in jenem
Augenblick gerade dachte: Hoffentlich sind auch wir erst in jener
Herbstphase unseres Lebens, in der unsere Farben noch leuchten. Gregory
war augenblicklich elektrisiert. Er fühle sich sogar 30 Jahre jünger.
Über die Gründe würde er uns gerne erzählen. – Wenn er uns damit nicht
langweile, fügte er dann noch hinzu.
Während des Essens erfuhren wir seine spannende Geschichte: Wie er
eines Tages alle seine Bedenken wegschob und sich plötzlich getraute,
sich im Internet auszustellen und nach einer Partnerin zu suchen. Und
wie er sofort Antwort bekam. In einem anderen Land ertrugen nämlich die
erwachsenen Söhne und Töchter die Tränen ihrer Mutter nicht mehr. 2
Jahre täglich um den verstorbenen Mann zu weinen, seien genug. Sie
meldeten die Mutter auf derselben Partnerschafts-Plattform an, wie
Gregory es auch getan hatte.
Die Profile der beiden Persönlichkeiten zogen sich an. Der Computer
erfasste und verband sie. Es machte klick. Grosse Überraschung, als er
mitteilte, dass das Glücksspiel nun ernst geworden sei.
Gregory verhehlte nicht, dass er anfänglich skeptisch war. Die
Berufsbezeichnung der ermittelten Frau irritierte ihn. Das lasse sich
leicht schreiben, sinnierte er. Ob es aber wahr sei? Das Internet gab
ihm Antwort. Ja. Mehr noch als da geschrieben stand. Die Frau entpuppte
sich als eine bekannte schreibende und malende Künstlerin.
Nun ist Gregory ein Vielflieger geworden, reist oft zu ihr in die
südliche Stadt, wo sie arbeitet und lehrt. Und sie kommt, so oft es
möglich ist, zu ihm in sein grosses Haus in die Schweiz. Abschied und
Wiedersehen gehören nun zum neuen Leben und beflügeln beide. Gregory
schätzt das kulturelle Umfeld dieser Frau, den Kontakt zu
Kunstschaffenden. Sie öffnen ihm neue Sichtweisen. Das Leben hat jetzt
mehr Fülle, mehr spielerischer Raum. Die vordem zu ihm gehörende Strenge
ist aufgebrochen. Und an diesem Sonntag sah ich um diesen Mann ein
mildes Licht. Sein Glück.
Dann trat der Kellner an unseren Tisch und fragte nach den Wünschen
für den Nachtisch. Es war schwierig für uns, aus den vielen Angeboten
spontan zu wählen. Gregory, der für die Hauptspeise noch darauf geachtet
hatte, dass wir uns für ein gemeinsames Menu entschieden, schlug jetzt
vor, 3 verschiedene Desserts zu wählen. Nach jedem Bissen könnten wir
den Teller im Uhrzeigersinn weiterreichen, wir befänden uns schliesslich
im Uhrmacherkanton. Ob das hier üblich sei? Nein. Diese Idee sei ihm
jetzt gerade zugefallen.
Die Teller rotierten. Niemand musste befürchten, eine falsche Wahl
getroffen zu haben. Die Köstlichkeiten standen allen zur Verfügung. Es
war ein beinahe kindliches Spiel, das uns fröhlich stimmte und unsere
Freundschaft erneut festigte.
Und was mich am meisten freute: Gregory ist glücklich und selbst ein Kreativer geworden.
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