Nora ist die zweitgeborene Enkelin. Eine vife Person, mit
der ich mich gut verstehe. Aber manchmal mache ich einen Fehler. Ich
nenne sie "Mena". Mena ist aber ihre 4 Jahre ältere Schwester.
Auch ihrer Mutter passiere das manchmal, dass sie den falschen Namen
ausspreche. Dann antwortet Nora souverän. Sie korrigiert wie eine gute
Lehrerin. Sachlich weist sie auf den Irrtum hin und arbeitet jeweils
weiter an der Sache, mit der sie sich gerade beschäftigt. Ohne
aufzuschauen und uns anzuschauen, ohne zu reklamieren. Nora ist
3-jährig.
Sie spricht französisch, ohne jedoch schon Sätze perfekt formulieren zu können. Die Korrektur tönt dann so: „Mena: Anna Sophia, c'est Nora, c'est moi.“
Sie will sagen: Mena sei bei Anna und Sophia in den Ferien und die da spreche, sei Nora, c'est moi. (Das bin ich.)
Als wir das erstmals hörten, waren wir verblüfft und begeistert
zugleich. Wiederholungen hat es gegeben. Sie verliefen jedesmal in
gleich ruhiger Art. Und jedesmal freute ich mich, wie sich das Kind den
eigenen Platz sichert.
Für mich ist es spannend zu erleben, wie sich die Sprache
entwickelt, wie sich kleine Kinder ausdrücken und wie wir einander
verstehen. Nora spricht grundsätzlich auf französischer Basis. Das ist
die Umgangssprache in ihrem „Atelier“, einer betreuten Spielgruppe in
Paris. Schweizerdeutsch hört sie von ihrer Mama. Während dem Aufenthalt
bei uns Grosseltern fing sie zusätzliche schweizerdeutsche Begriffe auf
und benützte sie an passender Stelle.
Einmal gingen wir miteinander einkaufen. Auf dem Weg schauten wir
Bauarbeitern zu, wie sie Erde umgruben und im Bagger wegführten Ich
erklärte dem Kind, hier werde eine Schule gebaut. Sie konnte das
verstehen. Ich redete Schweizerdeutsch, und sie antwortete auf
Französisch.
Das Wort Erde faszinierte sie. Sie nahm es in den Wortschatz auf. „Ärchde“,
tönte es aus ihrer Kehle. Sie genoss den Klang dieses Worts, sprach es
mehrmals aus und formatierte wohl damit ihren Hals für die
schweizerdeutsche Sprache. Zu Hause dann berichtete sie der Mama von
dieser Ärchde und vom Bagger, dem sie den Namen „camion-pelle“ gab.
„pelle“ ist ihre kleine Schaufel, mit der sie im Sand spielen kann. Die
Kombination der Schaufel mit dem Camion ist eine echte Wortschöpfung.
Ich kann nur staunen.
Lachen kann ich über ihre Antwort, wenn sie ein Angebot ausschlägt: „Pas d'envie!“ (Keine Lust!),
ebenso, wenn sie etwas holen muss und verhindern will, dass ich mich
vom eingenommenen Platz entferne. Da heisst es dann in ganz ungelenkem
Französisch: „Grosy attend 5 minutes, moi." Ich (Grosy = Grossmutter) solle 5 Minuten auf sie warten.
Weniger salonfähig ist der Ausdruck „pousse-toi!“ (hau ab!), wenn sie sich wehren muss. Der Existenzkampf beginnt schon früh.
An einem weiteren Tag sass ich mit Nora auf einer Steinbank vor dem
Lebensmittelladen. Wir assen ein kleines Gebäck und beobachteten einen
Hund, der angebunden auf seine Meisterin wartete. Er winselte, jammerte,
war ungeduldig. Lange schauten wir ihm zu, wie er Angst hatte, total
allein gelassen zu werden. Nora nahm Anteil an diesem Wesen, fühlte mit
ihm.
Da unterbrach eine alte Frau, vermutlich aus Ex-Jugoslawien, unsere
Beobachtung und sprach mich an. Auch sie habe sich um Enkel gekümmert,
viel Zeit aufgewendet, mit ihnen alles geteilt, sie manches gelehrt, wie
ich das eben auch mache und heute ....? ... sei sie nur noch die dumme
Grossmutter. Dann ging sie weiter, schaute nicht mehr zurück. Wie
traurig für sie.
Wenn ihre Enkel gerade in der Pubertät sind, sei ihnen verziehen.
Wenn sie aber alles Gute verkennen, das ihnen diese mütterliche Frau
geschenkt hat, dann sind sie zu bedauern.
Am besten, wir erwarten keinen Dank. Dann können wir nicht
enttäuscht werden. Und wenn wir's genau überlegen, ist der Dank doch
inbegriffen, wenn wir miterleben dürfen, wie Entfaltung geschieht.
Manchmal leise, beinahe unbemerkt und doch stetig und plötzlich
Überraschung auslösen kann.
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