Mena, die siebenjährige Enkelin vertraute mir schon am ersten
Ferientag an, dass sie immer noch nicht schwimmen könne. Sie sagte es
mit einem gewissen Bedauern und doch bewunderte ich sie. Es war eine
Tatsache und sie verschleierte sie nicht. In Paris wird Schwimmen auch
unterrichtet, jedoch nur im Hallenbad und so hofften wir zusammen, dass
ihr hier in Albonago spielerische Fortschritte gelingen werden. Das
grosse Freibad lud geradezu dazu ein.
Sagte nicht Mao Tse-tung, jeder Mensch müsse schwimmen können? Ich
fühlte mich immer persönlich angesprochen, wenn ich diese Forderung las.
Meine Schwimmkünste waren von jeher mager und haben sich bis heute
nicht wesentlich entwickelt.
Dazu gibt es eine alte Geschichte, die ich Mena erzählen musste.
1950–1951 bekam ich als Primarschülerin in Zürich auch
Schwimmunterricht. Dieser fand für die Knaben im See und für die Mädchen
in der Limmat statt. Schwimmunterricht im Hallenbad kannten wir noch
nicht. Wenn ich mich recht erinnere, war dieser Unterricht bei
Temperaturen ab etwa 18 Grad abzuhalten. Die Buben unserer Klasse wurden
in die hölzerne Badeanstalt am Bürkliplatz geführt, wir Mädchen ins
nahe gelegene Frauenbad am Stadthausquai.
Zuerst gab es für uns nur Trockenübungen. Wir mussten auf einen
Faltschemel liegen und die Schwimmbewegungen einüben. Später wurden
Aluminiumteller mit Löchern auf den Boden des Bades geworfen. Diese
mussten wir heraufholen. Unmöglich für mich und meine Augen. Ich kann
mich nicht erinnern, dass von unserer strengen Schwimmlehrerin etwas
getan wurde, was das Vertrauen zum Wasser hätte fördern können. Vieles
wurde beinahe militärisch vermittelt - zack-zack. Ja, es gab Kinder, die
mit den Eltern öfters baden gingen und denen hier alles gelang, was
vorgeschrieben wurde. Das war bei mir nicht der Fall. Nach und nach
gelang es aber auch mir, die Länge des Bades zu schwimmen. Diese auch
heute noch schöne Badeanstalt aus Holz gab mir eine gewisse Sicherheit.
Ich konnte im Notfall an den Rand steuern und mich dort festhalten. Im
Sommer musste dann eine Prüfung abgelegt werden. War sie erfolgreich,
bekamen wir das "S", ein Stoffabzeichen, das an die Badehose genäht
wurde.
Vor dieser Prüfung graute mir. Wir wussten es nicht im Voraus, wann
sie stattfinden würde. Das hing vom Wetter und den Temperaturen ab.
Eines Tages war es soweit. Wir wurden zur Bubenbadeanstalt am
Bürkliplatz beordert. Ich kann mich gut erinnern, wie wir Mädchen
dorthin liefen oder trotteten und dort zum niederen Sprungbrett geführt
wurden. In Einerreihe traten wir an und nach kurzem Zögern sprang auch
ich ins Wasser. Ich kann das Gefühl, das mich damals begleitete, gut
hervorholen. Es war keine Angst dabei und das Auftauchen dann ganz
angenehm, eine positive Überraschung.
Ich schwamm, wie alle anderen, eine leichte Schleife Richtung
Quaibrücke, dorthin wo das Seewasser zur Limmat wird. Aber genau unter
dieser Brücke verliess mich das Vertrauen, die Frauenbadeanstalt je zu
erreichen. Ich schwamm zum Brückenkopf, klammerte mich an ihn und holte
tief Atem. Wenn ich heute mit dem Limmatschiff hier durchfahre, frage
ich mich jedes Mal, wo um Himmels Willen ich mich festkrallen konnte.
Weit draussen im See sah ich einen Fischer in seinem kleinen Boot. Auf
ihn vertraute ich. Er wird mich sehen und retten, das war meine
Zuversicht.
Inzwischen waren die Mädchen meiner Klasse zum Frauenbad
zurückgekommen. Die Schwimmlehrerin begleitete die ganze Schar in einem
Weidling, hatte aber nicht bemerkt, dass ich zurückblieb. Es dauerte
eine für mich lange Weile, bis sie atemlos angerudert kam, mich fand,
mich ins Boot zog und zurückbrachte. Es ging nicht ohne wettern und
schimpfen. Das war mir egal. Ich konnte es sogar verstehen. Sie hatte
sicher Angst, ich sei ertrunken.
Die Mitschülerinnen wurden von unserem Lehrer abgeholt. Man fuhr
gemeinsam zum Limmatplatz und kehrte ins Kornhaus-Schulhaus zurück. Ich
musste zur Strafe in der Badi bleiben, einfach solange, bis es mir
gelang, die vorgeschriebene Strecke dieses Bades in einem Zug zu
schwimmen. Es gelang mir bald, denn hier war ich heimisch. Dann durfte
ich ebenfalls in Schulhaus zurückfahren. Hat mir da jemand ein
Tramabonnement gegeben? Ich weiss es nicht mehr. Oder hat mich jemand
begleitet? Wenn ich zurückschaue, bin ich ganz allein. Als ich dann ins
Schulzimmer trat, waren alle an der Arbeit. Es gab kein Aufsehen. Ich
wurde weder ausgelacht, noch beschimpft, nur ruhig angewiesen, meinen
Platz wieder einzunehmen.
Zu Hause getraute ich mich nicht, von diesem einschneidenden Erlebnis zu berichten. Wer scheitert
schon gern? Wir mussten immer alles rasch begreifen und anwenden
können, waren oft überfordert, im Stress, auch wenn wir dieses Wort noch
gar nicht kannten. Anfänglich plagten mich Bauchschmerzen. Ich konnte
den Darm ein paar Tage nicht mehr entleeren. Aber irgendwann renkte sich
alles wieder ein. Ich schwieg darüber, schloss das Erlebte als
Geheimnis in mich ein.
Das ist meine Geschichte. Die hölzerne Männer- und
Knabenbadeanstalt am Bürkliplatz gibt es schon lange nicht mehr. Eines
Tages sackte sie ab. Die metallenen Schwimmtanks waren durchgerostet und
trugen das Gebäude nicht mehr. Der ganze Komplex wurde entsorgt. Und
ganz allgemein freute man sich dann an der freien Sicht auf den See.
Es war ganz still, als ich dieses Erlebnis zu Ende geschildert
hatte. Das Mitgefühl von Mena, aber auch von unseren Töchtern Felicitas
und Letizia war spürbar und wohltuend.
Wie sich Mena und Nora im Freibad entfalteten, erzähle ich in einem nachfolgenden Blog.
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