Mein Anfahrtsweg in die Zürcher Innenstadt beginnt öfters mit einem
Fussmarsch hinunter zum Farbhof (Busstation und Tram-Endstation.)
An diesem Tag, von dem ich erzählen will, war alles anders. Es
stand kein wartendes Tram an der Station, das den Blick auf die Mitte
der Schleife hätte abdecken können. Die Sicht auf den mächtigen
Tulpenbaum war frei. Hei! dachte ich, wie schön du bist, auch mit Deinem
durchlässig gewordenen Kleid. Und am Boden, dir zu Füssen, das rostrote
Blättermeer. Der Anblick: bühnenreif. In Gedanken dankte ich der „Grün Stadt Zürich", dass diese Farbenpracht nicht in einem Übereifer gleich weggeblasen worden ist.
Der Fotoapparat lag in der Tasche. Ich konnte das schöne Bild, das
ich da sah, gleich einfangen. Aber erst zu Hause entdeckte ich, dass
mich aus dem Stamm ein weibliches Gesicht anblickte. Aus einer quer
verlaufenen Verletzung entstand in der Rinde der Mund, aus
abgeschnittenen Ästen die Augen. Über ihnen, ebenfalls von
überwuchernder Rinde entstanden, könnte eine Schutzbrille gesehen
werden.
Wer je eine Ausstellung der Künstlerin Margaretha Dubach gesehen hat, wird verstehen, wer mich die Magie in den Dingen erkennen lehrte.
Später, als mich der Bus ins Stadtinnere und über die Bahnhofbrücke
führte, wunderte ich mich, dass die Beleuchtung der
Weihnachtsdekoration am Limmatquai eingeschaltet war. 2 Stunden nach
Sonnenaufgang? Vielleicht zur Probe.
Mit dieser künstlichen Baumallee sind wir vertraut. Sie erfreut uns
seit Jahren. Sie pflegt die Tradition. Sie kann Erinnerungen an
vergangene Weihnachtsfeste wecken und das Weihnachtsgefühl aufkommen
lassen. Erst seit gestern nehme ich an, dass sie viel robuster gebaut
worden ist als ihr Vorgänger.
Aus einem Zeitungsausschnitt vom Dezember 1977 habe ich nämlich
erfahren, dass die damaligen 42 Metallchristbäume grosse finanzielle
Sorgen bereiteten. Winterstürme müssen ihnen zugesetzt haben. Pro Sturm
seien von den 2184 Glühbirnen jeweils 250 beschädigt worden. Weiter
wurde informiert, dass zusätzlicher Schaden von offenbar akrobatisch
begabten Glühbirnen- und Christbaumkugel-Dieben verursacht worden sei.
Am Central angekommen, verliess ich den Bus und eilte ans
Limmatufer, wolle mich vergewissern, ob die Lichter an den Bäumen noch
brannten. Ja! Sie standen für eine Foto bereit.
Danach führte mein Weg auf der rechten Limmattalseite weiter. Die
Höhenmeter, die ich von zu Hause nach dem Farbhof abwärts ging, mögen
jenen, die ich jetzt noch aufwärts gehen musste, ungefähr entsprechen.
Ich kam aber an keinem Ort vorbei, der mir die entsprechende Übersicht
hätte schenken können.
Ich war auf dem Weg nach Liebfrauen. Freute mich auf das letzte Referat der diesjährigen Vortragsreihe Geistesblitze „Das Ganz Andere“.
Diese Veranstaltungen sind Angebote der Kirchgemeinde zu Predigern, im Auftrag der reformierten Altstadtkirchen und der katholischen Kirchgemeinde Liebfrauen.
Solchen Einladungen folge ich gern. Darum empfinde ich den Monat
November lichterfüllt, auch wenn ihn andere oft als grau beschreiben.
Die unkomplizierten Kontakte zwischen Reformierten und Katholiken
erweitern an solchen Veranstaltungen noch zusätzlich den Horizont. Sie
haben auch schon Freundschaften geschaffen.
Als eindrücklichstes November-Erlebnis werte ich jetzt aber die Ranft-Wallfahrt zu Bruder Klaus. Unserem junger Pfarrer gelang es, eine zeitgemässe Form für sie zu finden. Eine Reise in die Nacht. Im Bus unterwegs.
Während der Fahrt durch den Autobahntunnel entstand für mich eine
wohltuende Abgeschiedenheit. Wie in einer Kirche. Die Welt liessen wir
draussen. Der Pfarrer hatte eine schlichte Andacht vorbereitet, und wir
sangen das Bruder-Klaus-Lied. Ich staunte über uns alle, dass wir es
noch singen können. Es hat seinen Sinn und seine Kraft immer noch in
sich.
Während dieser Tunnelfahrt war die Sonne untergegangen. Wir fuhren
in die dunkle Nacht hinein. Von meinem Sitzplatz aus zeigte sich mir der
Verkehr. Seine Ordnungen, sein Lauf, die Beleuchtungen für den
Strassenverkehr. Die Farben. Weiss strahlten Autos aus, die auf uns
zukamen, rot jene, denen wir nachfolgten. Das ganze Bild: ein ruhig
dahin fliessender Strom. Ohne Hektik. Alle, die ein Auto lenkten,
kannten ihren Weg. Mit den Abzweigungen. Mit dem persönlichen Ziel und
der Ordnung, es zu erreichen.
Ab Sachseln empfand ich die Landschaft geheimnisvoll, die
Strassenbeleuchtung stark eingeschränkt. Aber wie vorher auf der
Autobahn führten uns Wegweiser problemlos ans Ziel.
Zur unteren Ranftkapelle, wo wir gemeinsam für den Frieden
beten wollten, führt ein schlangenförmiger Fussweg ungefähr 90 Meter in
die Tiefe. Er ist nicht erleuchtet, doch die Augen haben sich sofort an
die natürliche Dunkelheit gewöhnt. Stockdunkle Nacht empfing uns. Im
oberen Drittel dieses Wegs begleiteten uns die Sterne. Im unteren
Bereich hatte sich der Nebel festgesetzt. Er verzauberte das einzige
Licht aus einer kugelförmigen Strassenlampe an der letzten Wegbiegung
und warf seine Schatten an die Kapellenfront. Zusammen mit jenen der
Eingangsüberdachung, der Kirchentüre und dem kreisrunden Oblichtfenster
entstand von weitem der Eindruck, hier trete eine überirdische Person
aus der Kapelle heraus und weise den Weg. Ob dieses Zusammenspiel an der
Kapellenfront Komposition oder Zufall ist, erscheint mir nicht wichtig.
Die Stimmung aber, die sie verbreitet, liess alles vergessen, was uns
vor ein paar Stunden noch bewegt hat. Mitbeteiligt an ihr auch das Gebet
um Frieden und die schlichte Eucharistiefeier.
Der Pilgerseelsorger im Flüeli-Ranft, übrigens früherer Pfarrer in
Zürich-Altstetten, informierte noch, dass Jugendliche aus der Schweiz
immer ab Mitte November und im Dezember in der Art einer
Stafetten-Wallfahrt hierher kämen, um für den Weltfrieden zu beten.
Auf dem Rückweg zu Fuss durften wir dem goldenen Sternenhaufen am
schwarzen Himmel nochmals begegnen. Es war ein aussergewöhnliches
Erlebnis.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen