Kurz vor ihrem Tod habe ich Doris nochmals getroffen. Wir kennen uns aus der Schulzeit hier in Zürich im Kreis 5. Da sagte sie zu mir: „In
mir ist einfach alles zu gross angelegt, mein Mitgefühl, meine
Hilfsbereitschaft, mein Gerechtigkeitssinn, mein Engagement, alles.“
Sie war eine leidenschaftliche Natur. Gerne wäre sie Anwältin
geworden, doch konnten ihr die Eltern das Studium nicht finanzieren.
Aber als sie nach einer Lehre eine Anstellung fand, sparte sie
konsequent für die Ausbildung zur Krankenschwester und übte diesen Beruf
dann viele Jahre aus. Immer mehr sah sie das Leid an den Rändern der
Gesellschaft und engagierte sich für Drogenabhängige und Sans-Papiers
und begleitete manche Menschen beim Sterben. Sie brachte vielen Hilfe,
aber ebenso viele stöhnten, wenn sie ihre kompromisslosen Ideen 1:1
umsetzen wollte. Sie beutete sich aus und verlangte das unbewusst auch
von uns andern.
Nun ist sie gestorben. Am Grab wurden ihre aus Krankheit und Leid
erwachsenen Einsichten vorgelesen. Ob es ihre eigenen Worte oder jene
einer Dichterin oder eines Dichters sind, weiss ich nicht.
Ich muss
nicht alles richtig machen,
nicht alles beweisen
und nicht alles begründen können.
Ich muss
nicht alles verstehen,
nicht alles logisch darlegen
und nicht alles erklären können.
Ich muss
nicht über allem stehen,
nicht immer weiter wissen
und nicht immer vernünftig sein.
Ich darf
meine Gefühle zulassen,
überschwänglich und traurig sein,
lachen und weinen.
Welch ein Glück!
Die Trauerfamilie hat diesen Text auch noch als Danksagung
verschickt. Da liegt er nun seit Tagen auf meinem Schreibtisch und
bewegt mich. Seine Botschaft ist stark und kann gewiss einsichtig machen
und erlösend wirken, wenn wir uns zu viel zugemutet haben.
Stimmig ist er auch, wenn das Wort „muss“ durch „kann“ ersetzt wird.
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