Samstag, 23. August 2008

Celeste befürchtet bei jedem Adieu, es sei nun das letzte

Ich treffe Celeste in versteinertem Zustand in ihrem Fauteuil sitzend an. Ich wurde nicht erwartet, darum schaut sie mich kritisch, beinahe grimmig an. Ihr Augenlicht hat nachgelassen. Es braucht eine gewisse Zeit, bis sie mich erkennen kann. Daran bin ich schon gewöhnt. Heute ist sie extrem grau im Gesicht, obwohl ihre Haut immer noch fleckenlos ist und dank einer Gesichtscreme weich und elastisch erscheint. Aber die Ausstrahlung ist dumpf. Es geht ihr wieder nicht gut. Heute Morgen sei sie wieder umgefallen. Nächsten Monat wird sie 92. Ein Arzt hatte ihr schon vor 20 Jahren prophezeiht, sie könne gut 100 Jahre alt werden. Darauf möchte sie gerne verzichten. Seit Jahren will sie sterben und hält das Heft doch immer noch in ihrer Hand. Sie steht jeden Tag um 5 Uhr auf, wäscht sich, pflegt sich, kleidet sich selbständig an. Sie lüftet auch das Bett aus und macht es noch vor dem Frühstück zurecht. Perfekt.
 
Von Tag zu Tag aber spürt sie, wie die Kräfte schwinden. Wenn sie deprimiert ist, fragt sie manchmal, warum er (Gott) sie nicht haben wolle? Diese Frage berührt mich immer. Celeste hat kein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, aber ein Gen, das sie zum General befähigen würde.
 
Die Probleme häufen sich. Die Organe spielen nicht mehr unbekümmert miteinander. Es hapert an vielen Orten. Sie braucht viel Chemie, um Schmerzen und das Rumoren im Kopf zu ertragen. Zudem hört sie nicht mehr gut. Da sind Missverständnisse vorprogrammiert. Heute sagt sie zum Beispiel: „Meine Stimme ist verloren gegangen. Ich kann mich kaum mehr hören.“ Und vom Speisesaal, das sei das Krematorium. Alle würden nur noch lispeln und tuscheln. Man vernehme keinen Laut.
 
In Wahrheit hört sie bald gar nichts mehr. Ich kann schon lange nicht mehr mit ihr telefonieren. Sie antwortet auf keine Frage, hört sie gar nicht. Telefonkontakt funktioniert nur noch, wenn sie anruft und ein Ja oder ein Nein zu einer Problemlösung haben will.
 
Heute wollte ich ihr erzählen, dass ich nächste Woche in den Ferien sei. Vorsichtshalber habe ich dazu einen Brief verfasst und ihn in grosser Schrift ausgedruckt. Das ist jetzt die uns verbliebene Kommunikationsform, wenn etwas ganz Neues auf sie zukommen soll. Auch wenn ich neben ihr sitze und schlichte Sätze ins Umfeld ihres linken Ohrs spreche, kann ich nicht mehr damit rechnen, dass sie alles erfasst.
 
Stelle ich eine Frage und versteht sie diese nicht, spürt sie der Sache angestrengt nach und erzählt dann einfach etwas, was im besten Fall einen Teilbereich anspricht. Ihre Antworten sind aber meistens daneben. Ich spüre, sie will nicht aufgeben und mir den Eindruck vermitteln, sie sei noch da und zu einem Gespräch fähig.
 
Als sie die ersten Sätze in meinen mitgebrachten Brief liest, zuckt sie zusammen. Ich erwartete schon einen Aufschrei, aber er blieb aus. Tapfer sagt sie dann: „Ihr habt Recht, dass ihr Euch ein paar schöne Tage gönnt.“ Mich betrachtend, stellt sie fest, meine Haare seien grau geworden. Ich hätte viel geleistet und viel getragen. „Ja, Ferien werden dir gut tun.“
 
Da staune ich. Das ist neu. Früher hätte sie meiner Familie gerne verboten, in die Ferien zu reisen. Sie konnte jammern, wenn ein Abschied bevorstand. Ganz südländische Schauspielerin. Da hiess es dann im Befehlston: „Komm wieder zurück. Ich brauche dich!“ Diesen Satz hörte ich jahrzehntelang mindestens einmal pro Jahr. Er gehörte zu jeder Geburtstagstorte, die sie mir schenkte. „Ich brauche dich noch.“
 
Erst als ich diese Anklammerung nicht mehr als eine Last empfand und einmal beim Abschied sagte: „Ich weiss, dass du auf mich wartest, bevor du dich zum Sterben hinlegst“, atmete sie auf, lachte herzlich, obwohl sie sich ertappt fühlte oder gerade deshalb. Und diese Zuversicht, die sich damals ergab, hat sich offensichtlich erhalten. Dem Humor sei Dank.

Sonntag, 10. August 2008

Die Faszination Gewitter ist oft auch von der Angst begleitet

Ich staune immer wieder, wie mir die Gefühlswelt ihre Erfahrungen aufzeigen kann.
 
In den ersten Tagen hier am neuen Wohnort in Zürich-Altstetten wurde ich früh morgens von Blitzen geweckt und von einem wuchtigen Donner erschreckt. Es war ungewöhnlich für mich, und ich begriff sofort, dass das Haus, in dem ich jetzt lebe, ganz andere Eigenschaften besitzt. Das Bernoulli-Reihenhaus fing einen Donnerknall schwingend auf. Das wusste ich aber erst in diesem Moment, weil es sich am neuen Ort wie ein Erdbeben anfühlte. Die ganze Schwere der Betonmasse grollte, bewegte sich nur leicht hin und her. Es war etwas Dumpfes dabei, und ich sah vor den inneren Augen einen unendlich starren Block.
 
Wochen später bescherte uns ein aussergewöhnliches Gewitter wieder ganz andere Erfahrungen.
 
Es war Ende Mai 2008. Bei Sonnenuntergang baute sich das Gewitter auf. Ich sass in der Stube und schaute durch einen angrenzenden Raum zum Himmel. Dort zuckte es unaufhörlich. Primo beobachtete das Schauspiel anfänglich vom Balkon aus. Ich schaltete alle möglichen elektrischen Anschlüsse aus, und wir kamen überein, auch das Licht zu löschen, um alle Facetten des aufziehenden Natur-Schauspiels einzufangen.
 
In diesem Halbdunkel sahen wir die Zuckungen des Gewitters. Lichtfäden leuchteten nicht nur am Himmel auf. Sie schossen auch durch unsere Stube. Von Norden nach Süden verlaufend. Der dazugehörige grollende Donner, den wir wie den Lärm startender Flugzeuge wahrnahmen, dauerte eine ganze Stunde an. Aber nie folgte diesem Brummen der erlösende Knall.
 
Dann begann es zu regnen. Der Wind peitschte eine Wasserwand wellenartig an der Balkonfront vorbei. Es goss in Strömen. In der Toilette rumorte das Meteorwasser. Es windete und stürmte. Wir liessen die Rolläden herunter und verharrten, schon etwas besorgt, im Dunkeln.
 
Als es ruhiger wurde, öffneten wir die Fenster wieder und sogen die entspannte und gereinigte Luft ein. Es hatte eine Verwandlung stattgefunden. Wir atmeten auf. Den Blitzen gleich, verflüchtigten sich unsere bangen Gefühle. Nun war der Himmel Richtung Osten in ein türkisfarbenes Blau getaucht. Wunderschön klar. Richtung Schlieren allerdings war noch bedrohliches Grau auszumachen.
 
Ein solches Gewitter hatten wir beide noch nie erlebt. Seither messe ich alle nachkommenden an diesem grandiosen, aber auch Angst machenden Energiespektakel.
 
Jetzt bin ich gespannt, wie und wann sich meine Gefühlswelt in ähnlicher Situation wieder meldet und mir das beschriebene Erlebnis als Vergleich darstellt.

Mittwoch, 6. August 2008

Liebenswürdige Feier für liebenswürdige Persönlichkeit

Die Schulanlage Chriesiweg (Chriesi ist der Dialektausdruck für Kirschen) in CH-8048 Zürich habe ich immer nur flüchtig angeschaut, obwohl sie zu meinem nächsten Umfeld gehört. Wohl bewunderte ich die vielen, locker verstreuten alten Bäume, aber eine Beziehung zu diesem Areal hatte sich noch nicht ergeben. Bis zum 4. Juli 2008. Da gehörte ich plötzlich dazu.
 
An diesem Morgen wollte ich am Suteracher einkaufen. Ich stieg aufs Velo, fuhr los und hielt gleich wieder an, sah sofort, dass hier Feierlichkeiten anstehen. Ein roter Teppich war ausgelegt, viele Meter lang und seitlich mit Steinen befestigt. Ich lehnte mein Rad an einen Baumstamm und staunte wie ein Kind durch das hohe Gitter, das die Schulanlage abschirmt. Entlang dem Teppich standen Musikerinnen mit ihren Instrumenten, ein ganzes Orchester. Eine Frau filmte die erwartungsvolle Stimmung. Ich solle doch hereinkommen, sagte sie unter dem Eingangstor, dann könne ich alles mitverfolgen. Sie würden eine Handarbeitslehrerin in die Pension verabschieden.
 
Ich folgte der Einladung gern, stellte mich hinter die grosse Schar von Schülerinnen und Schülern aus der Unterstufe. Ich habe sie nicht gezählt, vermute, dass es etwa 200 Kinder waren, die im Halbrund am Boden sassen.
 
Eine freundliche Frau hiess mich willkommen und gab sich als die Ehefrau eines Lehrers zu erkennen. Sie rapportierte mir alle Einzelheiten. Man erwarte jetzt eine Pferdekutsche. Die Jubilarin und eine sie begleitende Freundin seien in Albisrieden abgeholt worden und würden in den nächsten Minuten hier eintreffen. Und so geschah es. Als das Pferd sichtbar wurde, tönte es im Sprechchor: „Frau Müller, Frau Müller, Frau Müller!“ Für sie war ein Thron vorbereitet, und ein dazu passender Stuhl stand auch für ihre Begleiterin bereit.
 
Die Damen (alles Lehrpersonen), die das Orchester darstellten, begaben sich dann unter die Eichen und suggerierten uns eine Opernpartie, die ab Band gespielt wurde. Ein Lehrer mimte den Sänger, ein zweiter den Dirigenten. Wenn der Sänger sentimentale Partien mit emotionalen Gesten unterstrich, lachten die Kinder. Und am Schluss riefen sie: „Zugabe, Zugabe, Zugabe!“
 
Frau Müller, eine grosse Opernfreundin, wurde mit einem prächtigen Blumenstrauss geehrt. Der „Sänger“ überreichte ihr diesen mit einem Autogramm ihres realen Lieblingssängers. An alles wurde gedacht. Jedes kleinste Detail war getreu und liebenswürdig nachgezeichnet. Auch ich als Aussenstehende spürte, dass Frau Müller eine aussergewöhnlich beliebte und geschätzte Persönlichkeit sein muss.
 
In Altstetten bin ich schon mancher Freundlichkeit begegnet, doch diese Feier im Chriesi-Schulareal ist wohl kaum mehr zu übertreffen.

Freitag, 1. August 2008

Ganz unverhofft durfte ich die Maismutter kennen lernen

Die Geschichte vom „Geheimnis der Maismutter“ hat mich bestimmt schon vor 17 Jahren berührt, sonst hätte ich den Text aus dem „Brückenbauer“ vom 25.09.1991 nicht aufbewahrt. Er ruhte im grossen Märchenbuch, das ich kürzlich hervorholte. Als ich es öffnete, fiel die „Junior“-Seite dieser Zeitung gleich zu Boden und machte mich neugierig.
 
Es handelt sich um eine Geschichte aus der indianischen Mythologie. Sie spielt in einer Zeit des Hungers, als Nahrung mühsam gesucht werden musste.

Sie ist mir zum richtigen Zeitpunkt zugefallen. Ich beobachte doch seit ein paar Wochen, wie sich das Maisfeld auf dem Weg zum Pestalozzi-Hof entwickelt. Mittlerweile sind mir die Pflanzen schon über den Kopf gewachsen und bilden eine Front zur Strasse hin. Da schaue ich dann in ihre Räume und den inneren Wegen entlang.
 
Als ich die Geschichte gelesen hatte, waren die Maispflanzen noch nicht so weit entwickelt, dass ich die Ansätze der Kolben und die Haarbüschel hätte finden können. Ich suchte täglich nach ihnen und freute mich riesig, als ich sie endlich fand.
*
Nun will ich das Märchen nacherzählen: Da soll eines Abends eine armselige Alte mit weissen Haaren in einem Lager angekommen sein. Sie war niemandem bekannt und wurde kaltherzig abgewiesen. „Verschwinde!“ hiess es. „Hier ist kein Platz für dich.“ Auch in anderen Siedlungen war sie unerwünscht. Man jagte sie unwirsch davon. Erst bei den sehr armen und bedürftigen Menschen des Alligator-Clans wurde sie freundlich aufgenommen. Sie durfte ausruhen, sich stärken und neben dem Feuer schlafen.
 
Anderntags gingen die Männer des Clans auf die Jagd, und die Frauen suchten nach Beeren und Wurzeln. Die Alte betreute in dieser Zeit die Kinder und kochte für sie. Einer der Knaben konnte die köstliche Speise, die sie ihnen vorsetzte, nie mehr vergessen, auch als die Alte nach einer gewissen Zeit so geheimnisvoll verschwand, wie sie vorher erschienen war. Eine Zeit lang suchten Männer und Frauen noch intensiv nach dieser geheimnisvollen Nahrung. Sie fanden aber nicht die geringste Spur. Darum wurde sie wieder vergessen.
 
Nach Jahren, als aus dem Knaben ein Krieger geworden war, machte er sich auf die Suche nach der Alten, die bei ihnen eingekehrt war. Als einziger hatte er sie nie vergessen. Obwohl er nicht wusste, dass es die Maismutter selbst war, die in armseliger Gestalt auf die Welt gekommen war, suchte er unentwegt nach ihr. Und eines Tages erschien sie ihm, um ihn den Maisanbau zu lehren.
 
„Brenne das Gras ab, bis nur noch die Asche übrig bleibt. Dann nimm mich bei den Haaren und schleife mich kreuz und quer über die verbrannte Erde!“ befahl sie. Sie prophezeite, dass danach neues Gras aus dem Boden spriessen und er zwischen deren Blättern ihr Haar finden werde.
 
Sofort machte er sich an die Arbeit. Er schleifte die Alte über die ganze Lichtung. Überall, wo sie die Erde berührt hatte, wuchs bald das seltsame Gras. Es wurde so hoch, dass es ihn überragte. Und zwischen den Blättern sah er tatsächlich Büschel von weissen Haaren. Er konnte ihr offenbar gar nicht danken, denn es heisst, als er die vorgeschriebene Arbeit getan hätte, sei die Frau aus seinen Händen entschwunden.
Seitdem ich diese Geschichte kenne, ist das Maisfeld für mich beseelt. Ehrfürchtig stehe ich jetzt da und betrachte die Veränderungen, die täglich zu beobachten sind.
 
Im Text von der Maismutter wird von weissen Haaren geredet. „Meine“ Maispflanzen tragen entweder leicht grünliche Haare, entsprechend der Farbe des Stengels, viele aber rote Haare. Im Anfangsstadium waren sie so rot, wie natürlich rote Menschenhaare. Jetzt sind sie bereits dunkelrot. Ob die grünlichen auch rot werden, weiss ich noch nicht.
 
Als ich die ersten Haarbüschel entdeckte, waren sie alle noch jung und zart und zwischen Stengel und Blatt geborgen. Wie junge Liebe, empfand ich dieses Stadium.
 
Die Pflanzen halten sich mit starken Krallen, Fingern oder Zehen ähnlich. Nicht wie die üblichen Wurzeln, bleiben sie oberhalb der Erde und sorgen für das Gleichgewicht. Ungewöhnlich schön ist ihr Auftritt. Ganz nahe am Stengel weisen diese Halterungen einen oder zwei dunkelrote Farbkränze auf.
 
Wenn ich in die Räume dieses Pflanzenwaldes schaue und dort die Haarbüschel finde, wirken sie auf mich wie Figuren eines Puppentheaters. Könnte ich doch ihre Sprache verstehen!
 
Gerne wüsste ich dann von ihnen oder noch besser von der Maismutter selbst, wie sie den gentechnisch veränderten Mais erlebt. Wurde sie durch deren Eingriffe amputiert? Kann sie überhaupt noch zu uns sprechen? Besitzen Menschen, die den Pflanzen solche Eingriffe verpassen, keine Ehrfurcht vor dem Leben? Ich befürchte es.

Montag, 21. Juli 2008

Nacht am Stadtrand: Seltsame Schreie, die mich verwirrten

Es war etwas nach 3 Uhr in der Morgenfrühe, als ich erwachte. Schrille Laute hatten mich geweckt. Schreie eines Tieres? Sofort dachte ich an den Fuchs, den ich vor wenigen Wochen, ebenfalls in der Nacht, erspäht hatte.
 
Wenn ich auf der Bettkante sitze, sehe ich auf die Grünfläche hinaus, von der ich in einem früheren Beitrag einmal vom Flugplatz für die Rabenkrähen und Elstern berichtet habe. Hier kam er durch, schritt lautlos am gegenüberliegenden Haus vorbei, seinem Instinkt folgend.
 
Wie alle Häuser der Umgebung, wird auch das unsere vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang beleuchtet, ist also beschützt. Bekanntlich haben sich die Füchse daran gewöhnt und betrachten die Wohngebiete an den Stadträndern ganz selbstverständlich auch als ihr Revier. Und vor dem Licht scheinen sie sich nicht zu fürchten.
 
Ich schaue hier gern ins leicht beleuchtete Dunkel hinaus, auch wegen der Bäume und des Winds. In der besagten Nacht aber bewegte sich nichts. Weder die Blätter der alten Hagebuche noch die portugiesische Flagge am gegenüberliegenden Balkon. Alles schien zu schlafen.
 
Und doch schrie eine mir unbekannte Kreatur. War sie in Not? Der Fuchs vielleicht? Wie hören sich überhaupt seine Schreie an? Keine Ahnung. Ich stand auf, schaute in der Küche und am Essplatz durch die Fenster. Nichts, gar nichts bewegte sich. Auch in der Stube und im Balkonbereich wurde ich nicht fündig. Im Korridor, nahe meinem Büro, dröhnten die Schreie extrem schrill. Ich war ratlos.
 
Dann ging ich ins offene Schlafzimmer zurück und fand des Rätsels Lösung. Es war Primo, der auf seltsame Art schnarchte. Noch nie gehört. Seine Atemzüge waren gekraust. Und die neue Wohnung, immer noch ein Hohlkörper mit viel zu grosser Resonanz, vervielfachte seine Atemgeräusche und verwandelte sie in Schreie. Ich schaute eine Weile zu. Dann bewegte er sich, ohne zu erwachen. Und sofort war das verwirrende Spiel aus.
 
Eine eindrückliche Lektion. Wir müssen uns um Materialien kümmern, die den Schall schlucken. Grundsätzlich mögen wir schlichte Räume, Fenster ohne Vorhänge, Böden ohne Teppiche. Jetzt wurden wir eines Besseren belehrt. Die Kreativität ist gefordert. Wie sie uns führt, weiss ich im Augenblick noch nicht. Aber wohin sie uns führen soll, das steht fest. Wir wollen uns nicht weiter von vermeintlichen Tieren narren lassen.

Mittwoch, 9. Juli 2008

Waldsofa und Ausstellung über das Krähenvolk gefunden

Auf dem Weg, der von Zürich-Altstetten auf den Üetliberg führt, haben wir ein so genanntes „Waldsofa“ entdeckt. Primo erspähte es durch das Baumgefieder. Ein ansehnliches Rund, aus Baumästen zusammengefügt, ähnlich einem Vogelnest, aber auf die Grösse von Menschen zugeschnitten. Eine auf den Waldboden gesetzte Umfriedung. Ein Sofa im herkömmlichen Sinn ist es nicht, wohl aber ein geschützter Ort, um sich wohlzufühlen, zum Träumen, Lauschen, Beobachten.
 
Wir näherten uns langsam, still und etwas ehrfürchtig. Wir schauten uns um, waren alleine da.
 
Links vom Torbogen, der ins Innere und zu einer Feuerstelle führt, lasen wir die Erklärung zu diesem „Waldsofa“. Es sei der gemeinsame Platz von Kindern aus dem Kindergarten Hohlstrasse 437 und Kappeli 1 aus dem Schulkreis Letzi in Zürich. Sie kämen jede Woche einen Tag lang in diesen Wald. Auch wir dürften diesen Raum benützen. Es seien aber Regeln einzuhalten: Keinen Abfall hinterlassen, nichts kaputt machen, kein Holz aus dem kunstvoll geflochtenen Rund herausziehen, um Feuer zu machen. Voraussetzung sei auch, dass die Feuerstelle sauber hinterlassen werde. Und: Die Kiste dürfe nicht mehr aufgebrochen werden.
 
Ausserhalb dieses Baus waren einige aneinander gereihte, kleine Felder zu entdecken, in deren hölzernen Umrandungen Blätter, Gras, Steine, Tannzapfen usw. ausgelegt worden sind. Wie Felder in der Landwirtschaft. Alles mit Liebe und Sorgfalt gestaltet und auf Masse der Kinder zugeschnitten.
 
An Bäumen aus der nahen Umgebung wurden eine aufgehängte Flöte und ebenso Föhrenzapfen bemerkt. Vielleicht entdecken Wespen diesen Ort und nisten sich da ein. Eine Vermutung von Primo. Ebenso flattern farbige Wimpel im Wind und spiegeln die Freude der Kinder. So stelle ich mir das vor.
 
Auch für mich war der Wald im Vorschulalter ein Ort der Geborgenheit und auch der Geheimnisse. Die Beerensuche mit der Grosstante Rosa ein Abenteuer für sich. Ich kann mich gut an Licht und Dunkel und ihr gemeinsames Spiel erinnern. Viele Geschichten, die ich später hörte oder las, wurden durch die damaligen Eindrücke lebendig, farbig und auf ihre Art realistisch. Und solche sind besonders für die Stadtkinder wichtig. Ich freue mich für sie.
 
Die Natur zu entdecken, ist ein endloser Prozess. Ich denke manchmal, dass ein Menschenleben gar nicht ausreicht, alle Lebens-Zusammenhänge zu begreifen. Ein Glück, dass uns Fachleute und Museen behilflich sind. Und ein Glück für die Kinder, wenn ihnen Eltern oder Lehrpersonen die Ehrfurcht vor dem Leben wecken.
 
Gegenwärtig sind es die schwarzen, gefiederten Freunde in meiner Umgebung, die ich besser kennen lernen will. Im Blog vom 09.06.2008 erwähnte ich, dass ich gerne wüsste, ob es Raben oder Krähen seien, die das Lebensumfeld mit uns teilen. Die Ausstellung im Naturmuseum Solothurn, die noch bis zum 5. Oktober 2008 zu besichtigen ist, hat mir die Antwort zweifelsfrei geben können. Es sind Rabenkrähen (corvus corone).
 
Die Masse der Rabenkrähe unterscheiden sich stark von jenen der viel grösseren Kolkraben. Rabenkrähen verfügen über eine Flügelspannweite von ca. 76 cm und ihre Länge Schnabel-Schwanz beträgt 47 cm. Ihnen im Museum gegenüber zu stehen, beeindruckte mich stark. Nun habe ich diesen Vogel verinnerlichen können. Er ist mein Nachbar. Wenn ich am Fenster stehe und unsere Leintücher ausschüttle, fliegt keiner von ihnen auf. Sie werden mich schon kennen. Raben seien gute Beobachter, intelligent und wüssten sich immer wieder neuen Situationen anzupassen, hört man.
 
In der Revue SCHWEIZ, wo ich den Hinweis auf die Ausstellung in Solothurn gefunden habe, werden die Raben als schlaue Biester mit schlechtem Ruf bezeichnet. „Als kluger Vogel bewundert, als Galgenvogel verschrien, als Göttervogel verehrt und als Schädling verfolgt.“
 
Die Ausstellung ist klein, vielfältig und fein. Sie lädt zum Verweilen ein. Auch die Verwandten der Rabenkrähen sind da zu bewundern (Elstern, Eichelhäher, Tannenhäher, Dohlen). Und hier ist es möglich, die seltene Alpenkrähe mit dem roten und die Alpendohle mit dem gelben Schnabel von einander zu unterscheiden. Die ganze Krähengesellschaft ist versammelt und ihre Rufe und Schreie ab Band zu hören.
 
Ich habe wieder einmal erlebt, wie ergiebig ein Ausstellungsbesuch ist, wenn konkrete Fragen auf Antworten warten. Und wie das Verständnis wachsen kann, wenn wir uns in ein Thema einlassen. Es wird in der Ausstellung auch auf die Gründe für die Konflikte mit diesen Vögeln hingewiesen. Die vom Zürcher Tierschutz herausgegebene Broschüre „Krähenvolk. Eine Lanze für Verfemte“ weist schon im Titel darauf hin, dass ein Umdenken von uns Menschen nötig ist.
 
Die Ausstellung im Naturmuseum in Solothurn ist bis 5. Oktober 2008 zu sehen.
Öffnungszeiten Dienstag bis Samstag 14‒17 Uhr, Sonntag 10‒17 Uhr.

Donnerstag, 3. Juli 2008

Die Natur als Lehrmeisterin: Risse im Holz, Risse im Leben

Letzte Woche traf ich zufällig auf einen ehemaligen Nachbarn von Zürich-West. Wir plauderten, und beim Adiö-Sagen fragte er mich, welche Blumen ich am meisten liebe. Er möchte mir an den neuen Wohnort Blumen schicken. „Natürliche Blumen, nichts Pompöses, nichts Künstliches!“ Da seufzte er. Er sagte dann, es könne schon eine Weile dauern, bis ich sie erhalte.
 
Gestern besuchten uns Freunde und brachten die Symbole Brot und Salz in die neue Wohnung, damit uns diese Grundnahrungsmittel nie ausgehen würden. Und dazu gehörte auch ein kleines Blumenarrangement putziger Art. Geschniegelt und zu einer Kuppe gebunden und aus der Mitte herausragend eine stramme Kornähre.
 
Solche Gebinde erwecken mein Mitleid. Die individuellen Naturen der Blumen werden nicht berücksichtigt. Sie sind in ein enges Korsett gebunden und müssen am Platz bleiben, weil sonst die Gesamtform zerfallen würde. Meist lasse ich ein solches Geschenk einen Tag und eine Nacht so stehen. Dann aber löse ich die Schnur oder die Stengel aus dem Kunststoffmaterial, in das sie gesteckt worden sind. Und ich stelle die Blumen in eine Vase, gerade so, wie ich es als Kind mit den Blumen aus der Wiese gemacht habe. Da kann ich dann rasch feststellen, wie sie sich ganz persönlich entfalten. Von der Kuppe ist sofort nichts mehr zu sehen. Die Natur darf sich zeigen, wie sie ist. Das Zusammenspiel von Blumen verschiedenster Art und Herkunft wird zur Augenweide. Der Bezug zu uns Menschen ist naheliegend. Auch wir brauchen einen persönlichen Freiraum, um die Talente einzubringen, die in uns stecken.
 
Floristinnen und Floristen mögen mir verzeihen, dass ich ihrer Blumenbindekunst kritisch gegenüberstehe.
 
Ähnliche Erfahrungen machte ich vor Jahren mit Holz. Primo brauchte für einen grossen Auftrag Akazienholz. Wir konnten es in Norditalien finden. Seine Freude war gross. Farbe und Struktur für ihn eine Entdeckung. Sobald dieses im Süden gewachsene Holz in Zürich eintraf, wurde es aufgeschnitten und gehobelt. In seiner Begeisterung wollte es Primo sofort mit anderen Hölzern kombinieren. Er fügte einen Akazien-Abschnitt von 5 x 7 cm mit 2 anderen, etwa gleich grossen Hölzern zusammen und umfasste das Gebilde mit einem 7 mm breiten Rahmen aus Birnbaumholz. Die Akazie durfte Mittelpunkt sein. Links und rechts je ein Obstbaumholz, abgetrennt mit einem dunklen Nussbaum-Furnier, der das südliche Holz noch mehr herausheben sollte. Dieses dreiteilige Objekt schenkte er mir als schöne Erinnerung an eine spannende Holzsuche im südlichen Nachbarland. Ich freute mich.
Die Signatur im Rahmen und das Datum 15-7-81 informiert über das derzeitige Alter dieses Objekts. Beinahe 27 Jahre. Schon bald nach der Herstellung zeigte sich ein Riss im Bereich des dünnen Nussbaum-Furniers, und wir verstanden den Wink. Es waren da drei verschiedene Hölzer, an verschiedensten Orten aufgewachsen, verschieden lange gelagert, verschieden ihre innere Feuchtigkeit, rücksichtslos zusammengefügt worden. Der Birnbaum-Rahmen, der sich bis heute als unverrückbar erweist, wurde für die Hölzer zu einem Gefängnis, die Spannung so gross, dass sie das Holz zerriss. Durch den Spalt kann mittlerweile ein 10-Rappenstück mühelos durchgeschoben werden. Es war eine Lehre fürs Berufsleben. Der Schreiner muss darauf achten, dass er in seinen Konstruktionen dem Holz immer einen gewissen Bewegungsraum zugesteht, damit es schwinden und wachsen kann.
 
Dieses kleine Objekt zeigte ich Mitte Juni in der Gruppe „60 plus“  im Kreis 5 der Stadt Zürich, als Primo und ich eingeladen waren, einen so genannten „kleinen Kulturtag“ zum Thema „Holz und Papier“ zu gestalten.
 
Dass Spannungen zu Rissen führen, verstanden die Anwesenden, als ich mein hölzernes Schaustück zeigte. Als ich dann auf den Rahmen als eine strenge Ordnung verwies, ging ein Raunen durch die Zuhörenden, wie man es nicht oft erlebt.
 
Spannungen aushalten müssen wir alle. Wenn aber das Mass die innere Flexibilität übersteigt, dann gibt es Risse. Dort wo wir am schwächsten sind. Unsere Ordnungen sollten so eingerichtet sein, dass sie einen minimalen Bewegungsraum ermöglichen. Auch Menschen wachsen und schwinden.
 
So erteilt die Natur ihre Lehren. Alles Lebendige braucht einen gewissen Spielraum. Auch wir Menschen in unseren Beziehungen, im Staat, am Arbeitsplatz, auch innerhalb der Religion, aber ganz speziell im eigenen Denken.

Sonntag, 22. Juni 2008

Velomechaniker und Coiffeur: Unverzichtbare Dienstleister

Vorgestern habe ich mein Velo zur Revision zu „meinem“ Velomechaniker nach Zürich-Wipkingen gefahren und mich dabei gefragt, wo ich es einmal flicken lasse, wenn es nicht mehr fahrtüchtig sei. Von der Bernoulli-Siedlung in Zürich-West aus konnte ich das Rad problemlos in seinen Herstellungs-Stall bringen. Zu Fuss. Von Zürich-Altstetten her wäre das anstrengender. Der Weg würde gewiss eine Stunde beanspruchen. Im Notfall nähme ich ihn selbstverständlich in Kauf. Ich wurde immer sehr gut bedient. Solche Beziehungen sind viel Wert, können aber nach einem Wohnungswechsel plötzlich unerreichbar werden.
 
Besser sind die Aussichten, dem Coiffeur treu zu bleiben. Auch auf diese langjährigen Dienste möchte ich nicht verzichten. Im beinahe spartanisch eingerichteten Geschäft von Herrn S. fühle ich mich wohl. Hier ist alles echt. Es wird keine Glamourwelt vorgetäuscht. Und der Mann, der Haare schneidet oder solche färbt, ist ein Künstler. Trotzdem kann er gut auf Wünsche eingehen, will nicht nur seine Vorstellungen umsetzen. Bewundert wird er auch, wie er sich kleidet. Farben und Formen sind ihm wichtig, und er setzt voraus, dass sie es auch für die Kunden sind. Bevor er zu schneiden beginnt, hält er einem eine Beige verschieden farbige Umhänge hin. Die Kunden dürfen wählen, wie sie sich 3/4 Stunden lang im Spiegel anschauen wollen.
 
Gestern habe ich einen cremefarbenen Stoff mit einem eingewobenen Streifenmuster gewünscht. S. kommentiert die Wahl manchmal. Diesmal nicht. Er schien mir aussergewöhnlich schweigsam, schon als er mich begrüsste. Da beschloss ich, auch stille zu sein. Sonst lachen wir gerne miteinander. Er hatte gerade 2 Schnitte in mein Haar gemacht, als sich die Tür öffnete und eine Frau eintrat. S. ging zum Kalender, kehrte zurück, schnitt weiter. Ich fragte sofort, ob etwas nicht in Ordnung sei. Er schien irritiert. Ja! Stimmen die Termine nicht? Ja! Der meine vielleicht? Ja! War er darum schon bei meinem Eintritt beunruhigt, weil er eine andere Person erwartete?
 
Hoppla. Ich sei auf 16 h eingetragen. Ich könne den Sessel sofort räumen und in einer Stunde wieder kommen, offerierte ich. Da war er erleichtert und die eben erschienene Kundin auch. Ich erinnerte mich, dass es schwierig war, einen Termin zu bekommen. Aber wo der Fehler lag, war jetzt nicht wichtig. Wir vergeudeten keine Zeit, um das herauszufinden. Ich wusste schon, wie ich diese Zwischenstunde verbringen konnte und räumte den Platz. Herr S. versicherte mir noch, dass die paar Schnitte im Haar nicht ersichtlich seien.
 
Punkt 16 h war ich zurück und erlebte gerade mit, wie sich die Kundin erhob und die Dienste bezahlte. Als sie mich sah, fischte sie aus der Tiefe ihrer Einkaufstasche ein Stück Lavendel-Seife „Saponet Natura“ aus Indemini im Tessin und dankte mir, dass ihr Coiffeur-Termin eingehalten werden konnte. Damit bewies sie mir, dass sich in Herr S. Geschäft vornehmlich Kunden einfinden, die wie er alles Naturbelassene lieben. Da gehöre ich ja auch dazu.
 
Dann konnte ich mich setzen. Erstaunlicherweise wurden mir die Stoffumhänge jetzt nicht zur Auswahl präsentiert. Er wählte. Rot! Galt es ihm oder mir? Ich vermute: Uns beiden!
 
Informationen über die Seifen-Herstellung in Indemini: www.seifen-handwerk.ch

Montag, 16. Juni 2008

Zufallsgeschichten vom Stadtrand Altstetten-Schlieren ZH

Samstagmorgen. Ich verlasse das Haus etwas nach 8 Uhr. Es ist erstaunlich still. Wohltuend. Wieder einmal fühle ich mich in Zürich-Altstetten in den Ferien. Heute ist es besonders ruhig. Die Festfreudigen der Fussball-Euro2008 können ausschlafen. An vielen Häusern hängen locker verstreut Flaggen europäischer Nationen. Es ist windstill. Es bewegt sich nichts. Auch die Bäume stehen stoisch da. Am Himmel hängen flockige Wolken, die sich noch auflösen werden. Ein Flugzeug überfliegt, angenehm hoch, unser Wohngebiet. Ich bin allein unterwegs.
 
Ich fahre mit dem Velo zum Bauernhof am Pestalozziweg und hole Milch. Wenn ich die Stadtgrenze erreicht habe, denke ich jedesmal an Lisbeth. Sie wohnt in Schlieren, unten im Limmattal. Sie spricht vom „erlösenden Moment“, wenn sie hier oben angekommen ist und die Hektik der Stadt zurücklassen kann. Hier atmet das Leben anders. Die Luft ist frisch. Und das Land gehört der Landwirtschaft. Keine Architektur stört das Landschaftsbild. Hier darf die Erde Lebensnotwendiges hervorbringen.
 
Kurz bevor ich zum Pestalozzi-Hof abbiege, werde ich auf einen Mann aufmerksam. Er schläft am Rand des Kornfelds auf jener Bank, die schon manche Wanderer ausruhen liess. Zusammengekauert liegt er da, atmet ruhig, wird vom Erlebten träumen und die Emotionen verarbeiten. Auch er war mit dem Rad unterwegs. Dieses ist gesichert, an der Bank gut angebunden. Die um die aufrechte Sattelstange am Velorahmen befestigte Flagge weist ihn als Franzosen oder Fan der französischen Nationalmannschaft aus.
 
Tief versunken schläft er. Daunenjacke, Sonnenbrille und Filzhut und seine Eigenwärme schützen ihn. Und doch ist er in meinen Augen schutzlos und ausgeliefert, solange er schläft. Woher kam er? Wohin muss er noch zurückkehren? Hatte er den Match Frankreich gegen Holland miterleben wollen, der im Stade de Suisse Wankdorf Bern ausgetragen worden ist? Meine Fragen bleiben unbeantwortet. Ich fahre heim, mache mir keine Sorgen um ihn.
 
Auf dem Rückweg erledige ich noch Einkäufe bei Coop am Suteracher. Als ich diese nach der Kasse einpacke, bemerke ich eine Frau meines Alters, die meldet, seit sie hier gewesen sei, fehle ihr das Portemonnaie. Sie zeigt 2 Tafeln Schokoladen, die sie vor wenigen Minuten hier bezahlt habe. Die kleine Tasche für den Hausschlüssel und das Portemonnaie hält sie in Händen. Der Geldbeutel fehlt.
 
Das Personal kann ihr nicht helfen. Das Fach, wo die Funde aufbewahrt werden, ist leer. Diebstahl? In solchen Augenblicken ist das immer die nächstliegende Frage.
 
Zusammen verlassen wir den Laden. Plötzlich fällt mir auf, wie sich der Stoff im Umfeld ihrer Manteltasche wölbt, und ich frage sie, ob das Portemonnaie vielleicht da drinnen sei. Oh ja! Nun ist die Ordnung wieder hergestellt. Alle Verdächtigten sind entlastet. Und das Personal ist über den Fund erfreut.
 
Ich bin über mich selbst erstaunt, dass ich so etwas bemerkt habe, weiss aber, dass die Frau auch ohne mich, spätestens dann zu Hause, ihr Portemonnaie wieder gefunden hätte.
 
Und jetzt hoffe ich noch, dass der Franzose ausgeruht aufgewacht ist, alle seine Habseligkeiten vorgefunden, und die Heimreise frisch gestärkt angetreten hat und hoffentlich unversehrt bei sich zu Hause angekommen ist.
 
Dann sind wir alle wieder an unseren Plätzen. Die Dinge und die Menschen auch.

Montag, 9. Juni 2008

Woher kommen die Inspirationen die Blogatelier-Beiträge?

Was inspiriert zu Blogs? So werde ich öfters gefragt. Eine einheitliche Antwort gibt es selbstverständlich nicht. Am 5. Juni 2008 verlief das so: Ich verabschiedete mich für eine kleine Reise nach St. Gallen. Da wünschte mir Letizia lustige Erlebnisse in der Bahn, damit ich darüber schreiben könne.
 
Ich fuhr in Zürich weg, als die Pendler schon an ihren Arbeitsplätzen eingetroffen waren. Es war still im Bahnwagen, in dem ich meinem Ziel entgegenfuhr. Es regnete. Die Landschaft trank das frische Wasser, und darum strahlten die Wiesen trotz dunklem Himmel frisch grün. Weder sah ich etwas aufregend Schönes noch ergaben sich Gespräche. Es war „nur“ eine meditative Zeit für mich. Auch das Säntis-Massiv durfte ich heute nicht entdecken.
 
In St. Gallen erwartete mich Rosmarie, die ich in jungen Jahren in Paris kennen gelernt hatte. Wir hatten uns viele Jahre aus den Augen verloren. Nur dank der Zeitschrift „Natürlich“, damals noch von Walter Hess redigiert, fand sie mich wieder. Sie hatte ein Foto von mir entdeckt und meldete sich sofort. Seither ist der Kontakt wieder da, und ich bin dankbar dafür. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass wir einander nach langer Zeit erzählen können, wie gemeinsame Erlebnisse in der Fremde wirkten und bis heute als kostbare Erinnerungen gehütet werden.
 
Rosmarie informierte mich gleich nach der Ankunft, heute sei ein besonderer Tag. Der 5. Juni 2008? Am 05.06.1958 sei sie in Paris eingetroffen. Auch sie fand eine Anstellung in einem kaufmännischen Betrieb, wo sie ebenfalls als Stagiaire angestellt wurde. Der heutige Tag also eine Art Jubiläum. Vor 50 Jahren lernten wir uns im „Schweizerischen Kaufmännischen Verein“ in Paris kennen. Wir besuchten die gleichen Sprachkurse, die dort von französischen Lehrpersonen erteilt wurden.
 
Hier in St. Gallen gab es wieder viel zu erzählen. Auch ihr humorvoller Ehemann beteiligte sich daran. Zum Abschluss entführte mich Rosmarie noch auf die Anhöhe, wo sich die Dreilinden-Weiher befinden, die zu den schönsten Naturbädern der Schweiz gehören. Und von dort aus konnte ich erstmals die Ausmasse der Stadt St. Gallen überblicken. Eine echte Horizonterweiterung.
 
Auf der Rückfahrt, kurz vor Zürich, dachte ich, Letizias Wunsch habe sich nicht erfüllt. Auch auf dieser Fahrt fing ich nichts auf, worüber es sich zu berichten lohnen würde.
 
Dann, in der S-Bahn ab Zürich-Hauptbahnhof nach Zürich-Altstetten, sass mir ein verliebtes junges Paar schräg gegenüber, das ich nicht übersehen konnte. Die beiden strahlten. Es gab nur ihre Welt. Es sah aus, als ob sie von einer einzigen goldenen Aura umgeben wären. Da hörte ich die junge Frau fragen: „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Rabe und Krähe?“ Der Mann überlegte nicht lange und sagte: „Krähe nennen wir den Raben im Dialekt. Rabe heisst der Vogel in der Schriftsprache.“
 
Die Stirn der Frau runzelte sich. Sie fragte weiter, warum wir denn nur von Raben- und nicht auch von Krähenmüttern sprächen. Der Mann fühlte sich ertappt, hatte zu schnell einen Schluss gezogen, aber er lachte und war offensichtlich fasziniert, wie die Frau einer Sache auf den Grund ging. Leider war ich da schon in Altstetten angekommen und konnte ihren Gedanken nicht mehr weiter folgen. Ich nahm mir aber vor, zu Hause in einem dafür zuständigen Lexikon nach einer sanktionierten Antwort zu forschen. Dort wurde ich fündig. Krähen seien „mittelgrosse Raben“ heisst es im „Deutschen Wörterbuch“ von Gerhard Wahrig.
 
Anderntags wartete Primo mit einer Rabengeschichte auf. Er erzählte, dass er früh morgens vom Küchenfenster aus einen Raben beobachtet habe, der ein kleines, seltsames Gefährt auf der Wiese vor unserer Wohnung vor sich herschob. Es war aber ein Igel, den er verscheuchen wollte. Auf ihn einhackend, aber ihn doch nicht berührend, schickte er ihn heim. Primo schaute lange zu und weiss jetzt, wo der Igel wohnt.
 
Und ich möchte jetzt noch wissen, ob es sich bei den Vögeln, die sich täglich vor unseren Augen tummeln, auch wirklich um Raben handelt und nicht um Krähen. Danke der jungen Frau für ihre Anregung, Antworten immer noch zu überprüfen. Auch ich ziehe manchmal zu schnell einen Schluss.