Eine Kundin bestellte bei uns Grundlagenmaterial für ihre
Malerei. Sie sagte schon im Voraus, sie würde die Rechnung aber erst
anfangs des nächsten Monats begleichen können. Ich lieferte die Teile
ab, wurde von ihr zum Kaffee eingeladen, und danach wollte sie vor
meinen Augen den Einzahlungsschein ausfüllen und die Zahlung sofort ins
gelbe Quittungsbuch der Post eintragen. Damit ich es auch glaube, dass
sie die Zahlung nach Eintreffen ihrer AHV-Rente sofort ausführen werde.
Von uns wurde sie aber in keiner Weise gedrängt, die Lieferung sofort
oder sogar noch bar zu begleichen.
Das ist aussergewöhnlich. Diese Künstlerin ist
älter als ich und verkörpert noch jene seriöse Schweizer Mentalität, die
einmal das Markenzeichen unseres Volkes war.
Als ich noch Briefpost austrug, hörte ich immer wieder einmal den Ausruf: „Hoffentlich bringen sie uns keine Rechnung!“
Meist ging ich nicht näher darauf ein. Für mich ist eine Rechnung immer
eine Antwort auf eine vorher erbrachte Leistung. Darum habe ich Freude,
wenn sie eintrifft. So kann ich meine Schuld bezahlen und mich danach
wieder frei fühlen. Zudem gehört dann die Leistung, auf die sie sich
bezieht, ganz mir. Eine prompte Zahlung kann auch Ausdruck von Dank für
eine gute Arbeit oder für die prompte Lieferung eines gewünschten
Produkts sein.
Früher wurde die Zahlungsfrist so angegeben: „Zahlung innerhalb von 30 Tagen.“ Dann fiel unversehens das Wort „innerhalb“ weg und das Ziel lautete nur noch „30 Tage“.
Wie ich in Gesprächen, aber auch von meiner Mitarbeit in Buchhaltungen
weiss, wird heute ab dem 30. Tag begonnen, an die offene Rechnung zu
denken. Wie kürzlich veröffentlichte Statistiken zeigen, zahlen
Schweizer heute die „30-Tage-netto-Rechnungen“ erst nach 60 Tagen und glauben noch, das sei normal.
Viele Mitmenschen setzen Lieferanten ohne deren
Einverständnis als ihre Bank ein. Sie überbrücken Engpässe, indem sie
jene warten lassen, die ihnen das geliefert haben, was sie brauchten.
Oder sie spielen Macht aus, lassen Lieferanten zappeln. Ich habe auch
schon das Argument gehört, Rechnungen sofort zu begleichen, sei
übertrieben.
In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollten wir
einander helfen. Dazu braucht es zuerst die Einstellung, dass wir alle
voneinander abhängig und auch auf einander angewiesen sind. Wenn wir uns
kulant verhalten, unsere Verpflichtungen rasch und unkompliziert
erfüllen, dient das allen. Wir können mithelfen, Engpässe zu vermeiden
und Löhne sicherzustellen. Solche Rücksichtnahme kann auch bewirken,
dass Arbeitsplätze erhalten bleiben.
Würde ich nur die Erfahrung aus meiner Mitarbeit
in der Schreinerei meines Mannes kennen, ich müsste diesen Aufsatz nicht
schreiben. Es gibt diese Kunden, denen der Inhalt des Worts
„Zahlungsmoral“ noch geläufig ist. Sie ermöglichten, dass unser
Kleinbetrieb seit 45 Jahren bestehen darf.
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