Montag, 28. März 2011

Den Frühling von aussen und mit inneren Augen betrachtet

Jeder Frühling zeigt sich anders. Letztes Jahr (2010) erkannte ich ihn an einer einzigen Krokusblüte in einem noch tief schlafenden Garten. Diesmal muss er gelacht haben, als ich eines Morgens die mit unzähligen Primeln übersäte Wiese rund um unser Zuhause endlich entdeckte. Es war ein freudiges Erschrecken.
 
Über Mittag können wir bereits auf dem Balkon etwas Sonne tanken. Seitdem die Bise abflaute, ist es angenehm mild. Und das Béret benütze ich nur noch am frühen Morgen für die Ausfahrt auf dem Velo.
 
Als ich am Freitag, 25.03.2011, in die Innenstadt fuhr, begegnete mir am Hauptbahnhof eine japanische Frau. Sie zog einen Rollkoffer hinter sich her, war vermutlich gerade vom Flughafen ins Zentrum gereist. Sie trug eine weisse Atemschutzmaske und ging zielstrebig ihren Weg. Eine Vorsorge, falls auch hier die Atmosphäre schon radioaktiv verseucht sei? Ihr Anblick stimmte traurig. Später erfuhr ich aus dem Tagebucheintrag von Thomas Peter aus Yokohama, dass zu dieser Zeit Tausende von Japanern von Heuschnupfen geplagt seien, ausgelöst durch Zedernpollen. Er berichtet jeweils im Tages-Anzeiger aus dem gegenwärtigen Alltag in Japan. Die erwähnte Frau wollte sich vielleicht „nur“ vor den europäischen Pollen schützen. Wer weiss? Ja, die Pollenallergie gehört auch zum Frühling und lässt viele Mitmenschen leiden.
 
Vom Kinderarzt, der seinerzeit unsere Töchter betreute, weiss ich, dass die Märzsonne für Patienten schädlich sein kann. Das Frühlingslicht beschwingt den gesunden Menschen, den kranken kann es angreifen. Wir sollen uns diesem wieder erwachten Licht behutsam aussetzen, riet er uns vor vielen Jahren.
Mich macht das Frühlingslicht jeweils quirlig. Und es blendet mich. Und diesmal brachte es zum Thema passende Erinnerungen wieder an die Oberfläche. Vor meinen inneren Augen lief kürzlich jene Filmsequenz aus der Ausstellung in Erstfeld ab, als die beiden Strahler ihre im Planggenstock gefundenen Riesenkristalle ins Freie führten. Sehr behutsam, sehr besorgt, dass sie vom Sonnenlicht nicht erschreckt wurden. Sie waren Jahrmillionen im Dunkeln, vom Gestein gehalten. Sie ohne Risse ins Tageslicht zu führen, gelang nur, weil die Männer vorsichtig und der Energie im Stein gegenüber respektvoll vorgingen. (Siehe auch Blog vom 4.10.2007: Flüelen UR: Begegnung mit kräftigenden Riesenkristallen).
 
Für mich ist diese Kristallgeschichte eine Metapher für das Leben von uns allen. Aus dem Dunkel der Gebärmutter finden wir den Weg ins Licht. Manche schaffen es mit der Mutter allein, andere werden ins Leben geholt. Die Augen aber bleiben in beiden Fällen vorerst geschlossen. Das ist ihr natürlicher Schutz. Auf das Neugeborene soll kein grelles Licht fallen.
 
Dass wir den Frühling jedes Jahr erleben, gehört zu den lehrreichen Lebenserfahrungen. Wir sprechen ja allgemein gern über das Wetter und seine Stimmungen. Und daraus höre ich immer auch die Freude anderer Menschen an der wieder erwachten Natur. Es ist, als ob sie uns von einer unausgesprochene Angst befreite, eines Tages einfach zu streiken. Wir wissen wohl, was wir ihr alles zumuten. Was sie ob unserer Eingriffe alles ertragen muss.
 
Heute Morgen im Wald, als die spröde Sonne den Raum ausleuchtete, die Brauntöne der noch unbelaubten Bäume anschien und ich den Waldboden mit seiner Fülle an Buschwindröschen und Schlüsselblumen bewunderte, musste ich einfach gut hörbar aussprechen: Danke, dass ihr immer noch mitmacht, eure Bestimmung immer noch lebt.

Sonntag, 20. März 2011

Fülle und Leere – 102 Schalen von Nina Borghese Bloch

ch hatte den Raum betreten und den Text an der Säule gelesen, und schon war ich gepackt. Die Schalen hatte ich noch nicht gesehen, aber gelesen, was die aus Sizilien stammende Künstlerin zu ihrer Arbeit schrieb:
 
„Die Kunst gibt einem das Recht, einen Blick auf alle Dinge zu werfen, ohne zu ihrer Beurteilung verpflichtet zu sein." Oder: „Meine Arbeiten entstehen durch Experimente. Das führt unweigerlich zu Zufallsmomenten, die ich bewusst in meiner gestalterischen Arbeit integriere."
 
Mit ihren Worten hatte sie mir aus dem Herzen gesprochen, und ich dachte, dieses Recht sollte nicht nur der Kunst vorbehalten sein.
 
Dann schaute ich ihre Arbeiten an. Jede der 102 aus Gips gearbeiteten Schalen war auf einen eigenen Sitz platziert. Ich ging von einer zur anderen. Jede begann, mir sofort eine Geschichte zu erzählen. Ich musste nicht fragen. Es waren für mich Lebensgeschichten, Leidensgeschichten, gelebte Talente, Illusionen, Träume, Sehnsüchte, Schönheit des Lebens, Liebe, aber auch leibliche oder seelische Kerker. Es gab da auch Schalen mit einer einzelnen Münze. Das wenige Geld? Der Glücksbatzen? Geld an sich? Die Bettelschale? Verbliebener Rest nach dem Verkauf der Seele? Je weiter ich ging, desto differenzierter reagierte ich, ohne etwas endgültig taxieren zu wollen.
 
Nach meinem Rundgang sah ich in diesen formal gleichen, in ihrem Inneren aber einmalig ausstaffierten Schalen Bilder von Menschenleben. Einzigartig. Obwohl „nur“ 102 Versionen, wirkte die Darstellung sehr vielfältig. Je weiter ich voranschritt, desto erstaunter war ich: Wieder etwas ganz Anderes! Und im besten Fall immer nur der Titel eines verarbeiteten Themas. Oft bargen die Schalen auch Worte und wiesen den Gedanken ein Stück weit den Weg.
 
Heute hörte ich einen Radiosprecher sagen, als er besinnliche Musik ankündigte: In allem Denken schwingt Japan (das wegen des schweren Erdbebens und des Tsunamis leidgeprüfte Land) jetzt immer mit. Das empfinde ich auch so und ganz speziell in der Ausstellung, als es um die verletzten Schalen ging. Um Schalen mit Ausbrüchen, Flicken und Gittern.
 
Diese Ausstellung nennt sich Passionsausstellung und kann in der „Offenen Heiliggeistkirche“ an der Spitalgasse 44 in Bern vom 8. März bis 4. Mai 2011 besucht werden. Dienstag, Mittwoch 11.00‒18.30 Uhr, Donnerstag 11.00‒20.30 Uhr, Freitag 11.00‒16.30 Uhr.
 
Was uns anrühre, sei oft das Verletzliche und Verletzte, heisst es im Vorwort der Ausstellungsbroschüre. Diese Kirche wollte seit ihren Anfängen im 13. Jahrhundert jenen eine vorübergehende Heimat bieten, die da auf schlechten Landstrassen unterwegs waren, den Bettlern und Siechen, den Armen und Heimatlosen und Pilgern. Und heute ist sie als „offene kirche“ eine Insel im hektischen Alltag unserer Zeit. Wer es wünscht, darf sich hier ausruhen, sich aussprechen. Als ich hier war, wurde gerade einem Mann aus einem fernen Land eine Tasse Kaffee gereicht. Er wunderte und freute sich.
 
Die unmittelbare Nähe zum Bahnhof Bern ermöglichte mir diesen beschriebenen Zwischenhalt „zwischen zwei Zügen“ und das oben beschriebene Erlebnis mit den Schalen des Lebens.

Dienstag, 8. März 2011

Das Albisriederdörfli ist mehr als nur eine VBZ-Busstation

Es dauerte 3 Jahre, bis wir den Dorfkern von Albisrieden entdeckten. Die Buslinie 67, die wir öfters benützen, führt von der Schmiede Wiedikon nach dem Dunkelhölzli. Eine ihrer Stationen heisst Albisriederdörfli und erinnert daran, dass dieses Quartier einst ein eigenständiges Dorf war. Seit 1934 gehört es zur Stadt Zürich. Im Internet sind Fotos und entsprechende Informationen zu Zürich-Albisrieden abrufbar.
Am frühen Sonntagabend unterbrachen wir endlich einmal unsere Heimfahrt. Primo, der Tage zuvor hier durchgekommen war, wollte mir dieses Dörfli mit seinen prächtigen Riegelhäusern zeigen. Zum idealen Zeitpunkt, wie sich herausstellte. Die Sonne war schon untergegangen. In den Häusern brannte Licht. Vorhänge waren noch nicht zugezogen. Wir gingen durch diesen Ort und gleichzeitig durch eine Bilderbuchwelt. Anders gesagt: durch eine längst vergangene Zeit. Obwohl wir uns draussen aufhielten, konnten wir die Gemütlichkeit in den Räumen erahnen. Das milde Licht strahlte aus, ohne alles auszuleuchten. Und die kleinen Fenster sind so hoch angeordnet, dass der Blick von uns Fussgängern die private Sphäre nicht erreichen kann. Dieses Eintauchen in den bis dahin unbekannten Ort werde ich nicht so schnell vergessen.
 
Auch darum, weil zu Hause noch eine Überraschung auf uns wartete. Wir fanden unsere Wohnung erleuchtet vor. Das Licht brannte im Korridor und verteilte sich auch in die angrenzenden Räume. Es wirkte genau so gemütlich wie das in Albisrieden geschaute. Ich erkannte von weitem Menas Scherenschnitt an einem der Fenster. Er bestätigte, dass es wirklich unsere Wohnung sei. Ich hatte beim Weggehen vergessen, das Licht zu löschen.
 
An diesem Abend wurde mir wieder einmal bewusst, was die sogenannten 4 Wände für uns Menschen sind. Unser uhause, unsere Kultur. Der Ort, wo wir Lichter anzünden und die Dunkelheit draussen lassen. Wo wir geborgen sind. Also geschützt, obwohl verletzbar, uns sicher fühlend. Der Ort, wo wir uns hinlegen, uns vergessen, um schlafen zu können.
 
Etwas später spazierte ich bei Tag nochmals durch dieses alte Albisrieden. Da waren dann auch Bausünden rund um den historischen Kern zu erkennen. Und Zwänge der Verkehrsführung, die mitbeteiligt sind.
 
Und wieder sprachen mich die alten Häuser und die sich in Renovation befindende Kirche von 1818 an. Diesmal nüchterner, doch immer noch von Reichtum und Schönheit erzählend. Auch davon, wie früher Heimat verstanden worden ist.

Mittwoch, 16. Februar 2011

Fahrt auf neuer Strassenstrecke in Richtung Vergangenheit

Ich war gwundrig (neugierig). Jedesmal, wenn ich aus der Bahnhofunterführung Zürich-Altstetten herauskam und in die rechtwinklig wegführende Aargauerstrasse hineinschaute, hoffte ich, dass hier eines Tages ein Veloweg wegführe und ich dann schnurgerade zur Pfingstweid in unsere Werkstatt fahren könne. Aber gerade da, wo mein Traum seinen Ursprung hatte, war die Strasse leicht gebogen und verwehrte mir die freie Sicht. Ich nahm lediglich die Baustelle und die dazugehörigen Abschrankungen wahr. Bis hieher werde die Tramlinie 4 verlängert. Hier entstehe die Endstationschlaufe – das wusste ich aus Publikationen. Und Teile der neuen Strassen- und Streckenführung hatte ich bereits im animierten Film „Virtuelle Fahrt Zürich West" gesehen.
Primo begleitete mich hinaus in die Realität, machte mich auf vieles aufmerksam. Alle paar Minuten stellte ich mein Rad wieder ab und fotografierte. Und wir liessen die neuen, noch unbekannten Silhouetten auf uns wirken. Spannend und aufregend zugleich. Es beschwingte mich, die Orte, die zu meiner Jugend gehören, aus neuer Warte und zum Teil umgestaltet zu sehen. Wir befanden uns auf einer Parallelstrasse zum bisher benützten Veloweg neben der Autobahn. Jetzt zeigte sich die Sicht auf die Rückseiten jener Häuserzeilen und Geschäftsbauten, die uns bis dahin nur von vorne her bekannt waren. Obwohl noch nicht alles, was geplant wurde, auch schon gebaut ist, wirkt das Neue ganz ähnlich wie in der Darstellung im animierten Film der VBZ (Verkehrsbetriebe Stadt Zürich). Strasse, Tramführung, Stationen und Veloweg sind bald vollendet. Sie wirken klar und übersichtlich, führen in 2 Etappen schnurgerade zum Knotenpunkt beim verlassenen GC-Fussballstadion und danach in neuer Richtung zur Hardbrücke.
Weisse Bauwände riegeln grosse Bauplätze ab. Dahinter, weit entfernt, wie auf einem Balkon, ist die Kirche Höngg zu sehen. Näher bei uns winkten Birken und Pappeln. Sie liessen den Eindruck aufkommen, hinter dieser langen Wand befinde sich ein Paradiesgarten. In ihrem Umfeld die südlich anmutende Container-Siedung für Emigranten. Die fröhlichen Fassadenfarben Gelb, Orange und Sand strahlen aus. Eindrücklich signalisieren 13 Satellitenschüsseln das Bedürfnis nach Kontakt mit der Heimat.
 
Und auf dieser Fahrt bin ich endlich einmal zum Engros-Markt für Früchte und Gemüse gelangt. Er lag immer jenseits meiner Wege. Er befindet sich an der Aargauerstrasse 1 beim Knotenpunkt, wo sich Aargauer- und Pfingstweidstrasse treffen, wo sich auch das Hardturm-Parkhaus und die Ruine Grasshopperstadion befinden. Hier wird täglich, ausgenommen sonntags, ab 04.45 Uhr auf 6300 m2 Verkaufsfläche in 3 Hallen gehandelt. Die Atmosphäre dieses Markts möchte ich bald einmal erleben und im dazugehörigen Restaurant essen.
 
Lustig empfanden wir die an der gerundeten Rückwand des verlassenen Fussballstadions ausgeschnittenen Fenster, die Aussicht bis zu den Bernoullihaus-Dächern und den Wohnbauten am Limmatufer zulassen.
 
Bei der Migros Herdern angekommen, hatte sich die Wissenslücke geschlossen. Nun kenne ich die Verbindung Altstetten‒Pfingstweid.
 
Von hier aus liessen sich noch die Bauten im letzten Abschnitt Hardturm- und Förrlibuckstrasse überblicken. Mit freier Sicht über die verlassenen Fussball-Trainingsplätze hinweg. Es zeigte sich ein Ort, an dem verdichtetes Bauen bereits vollzogen ist. Wohnbauten und Geschäftshäuser stehen dicht an dicht. „Der rote Block", eine hufeisenförmige Wohnsiedlung, die für sich beanspruchen kann, vor allen anderen Häusern hier als erste erbaut worden zu sein, tut mir gerade leid. Vor Jahrzehnten erbaut und mit ziegelrotem Verputz versehen, wurde sie als roter Block wahrgenommen und bei diesem Namen ist es bis heute geblieben. Jetzt aber steht nebenan ein knallrotes Haus und drängt sie optisch zur Seite.
 
Weiter stadteinwärts Richtung Hardbrücke wird es vornehm. Von hier aus gestaltete sich die Umwandlung vom Industriequartier zum modernen Zürich West. Hier gibt es Raum zwischen den neuen Geschäftshäusern. Hier wurde ein Quartierteil ganz neu und grosszügig gestaltet.
 
Und was war früher?
Als ich 1947 mit meinen Eltern und Geschwistern nach Zürich übersiedelte, gab es an unserem Wohnort an der Hardturmstrasse viele Fabriken. Südlich von ihr aber auch viele Wiesen, Viehweiden, Obst- und unzählige Familiengärten, den Bauernhof der Familie Johann Buob, eine Schafweide und das erste Fussballstadion „Förrlibuck". Auf einer Foto aus der Pionierzeit der Flugfotografie (1925) ist dieser Fussballplatz verewigt. Hier fand die Sportprüfung zum Schulabschluss statt. Primo, Schüler aus dem Limmatschulhaus, erinnert sich an die Limite, die gesetzt war: 1 km rennen in maximal 5 Minuten.
 
Dieses Fussballfeld grenzte an die Herdern, heute Terrain von Migros Herdern. Zu jener Zeit ein grosses Familiengarten-Areal. Es reichte bis zu den Bahnlinien hin. Ein Fussweg führte sogar über die Geleisestränge hinweg zur Hohlstrasse hin. Es brauchte nur etwas Geduld, bis die Barriere jeweils für eine Weile hochgezogen wurde. Für Primo und mich ist der damalige Zugang zu dieser Geleiseüberquerung von der Hohlstrasse her noch gut sichtbar. In solchen Augenblicken wundern wir uns, wie sich der Bahnverkehr zu einem Geleisegerangel entwickelt hat.
Am Rande dieser Herdern haben nur wenige Familiengärten überlebt. Unter anderen auch der Schrebergarten und das Gartenhaus meines Vaters. Wir kennen seinen Nachfolger nicht, sehen immer nur, dass hier so liebevoll gegärtnert wird, wie einst. Es ist eine kleine Gruppe Hobbygärtner, die sich gewehrt hat, das Land zu verlassen, bevor die Bagger auffahren. Geplant sind hier Wohnhäuser, ein Schulhaus und ein Erholungspark. Ansätze dafür sind schon sichtbar. Die Auflösung der Gärten steht bevor.
 
Zum Umfeld dieses Orts gehören die Hochhäuser Prime Tower und Mobimo Tower, mit denen sich Zürich neuerdings brüstet. Andere werden folgen. Auf dem Heimweg schaute ich vom Sportweg her nochmals zurück. Da präsentierten sich die beiden Türme zusammen mit dem Migros-Hochhaus Herdern zu einer direkt liebenswürdigen Dreiergruppe. Wie wenn sie mit einander im Gespräch wären. Ich meinte, sie fragen zu hören: Wer von uns ist der grösste?
 
Das Gebiet Sportweg sei auch noch erwähnt. Auch es grundsätzlich ein Schrebergärtenareal. Mit vielen Wegen, schmalen Strassen, grösseren und kleineren Hütten. Abbruch-Firmen lagerten hier noch verwendbares Baumaterial. Hier suchte man z. B. nach einem Lavabo, gut erhaltenen Fenstern, Elektromaterial, usw. Es war ein schummeriger Ort, verkommen, ungepflegt, bei Regen verschlammt, bei Trockenheit voller Staub. Primo erinnert sich gut an den erdigen Geruch, der sich hier verströmte. Und an die interessanten Menschen, die dieses Ghetto belebten. Gärtner, Handwerker, Tüftler und Clochards. Diese Siedlung ist im Gelände des Engros-Marktes untergegangen.
 
Bald untergehen wird wohl auch das Gebäude der Seifensiederei Kolb an der Förrlibuckstrasse. Schon lange ist hier die Produktion eingestellt. Der Raum wird jetzt für Partys benützt.
 
Alle kleinen Nischengewerbe sind ausgestorben. Man braucht sie nicht mehr. Hütten und Häuser wurden abgebrochen, die Erde umgegraben, die Spuren verwischt. Es leben nur noch die Bilder in jenen Menschen, die hier alt geworden sind. Und bald können nicht einmal mehr Fotos das Leben von einst fühlbar oder zumindest verständlich machen.

Sonntag, 6. Februar 2011

Unter der Nebeldecke fanden wir Eisblumen und Masken

Eisblumen sind mir von Kindsbeinen an vertraut. Nicht alle Fenster unserer Wohnung waren mit Vorfenstern ausgerüstet. Dort, wo die warme Zimmerluft auf die einfache, kalte Fensterscheibe auftrat, entstanden Eiskristalle, die sich zu bizarren Pflanzenmustern ausformten. Wir Kinder wollten da mitgestalten und kratzten mit den Fingernägeln eigene Bilder ins Eis. Ich kann mich auch an Bahnfahrten mit Eisblumenfenstern in den alten, militärgrünen SBB-Wagen erinnern. Seitdem es Doppelverglasungsfenster gibt, sind diese mimosengefiederten Eisbilder aber aus meinem Blickfeld verschwunden.
 
Ihren Abbildern in Fotos und im Film wieder einmal zu begegnen, bot uns die die Ausstellung „Eisblumen, verborgene Wunderwelt im winterlichen Mikorkosmos“ an (Museum Gletschergarten, Luzern. Ursprünglich bis 8. Mai 2011 konzipiert, wurde sie bis auf weiteres verlängert).
 
In dieser Ausstellung verblüffte als erstes die „Eismaschine“, ein Eiskristallisator. Damit konnte das Wachstum eines Eiskristalls mit blossem Auge beobachtet werden.
 
Eindrücklich auch das textlose, lexikonartige Buch mit dem unendlichen Formenreichtum der Schneekristalle. Seitenweise aneinandergereihte Formen. Jede ein unverwechselbares Original. Das 6-eckige Muster, das allen Schneesternen zugrunde liegt, wurde 1611 schon von Johannes Kepler beschrieben.
 
Primo und ich waren alleine im Ausstellungsraum, hatten alle Zeit, den Darstellungen dieser Bilderausstellung zum Phänomen Eisblumen zu folgen. Wir lernten unterscheiden: die Schneekristalle, der Raureif, die Eisblumen an Fenstern. Erstmals in einer Ausstellung dokumentiert, lernten wir das Haareis auf Waldböden und Stängeln kennen.
 
Ein bezaubernder Film führte diese Arten vor.
 
Raureif bildete sich an feuchtkalten Tagen auch auf Primos Bart auf der halbstündigen Velofahrt von der Werkstatt nach Hause.
Auch an diesem Tag fühlte es sich feuchtkalt an. Die Stadt war ohne Weitsicht, vom Nebel eingehüllt. Das Licht auf grau geschaltet. Freundlich und heiter dann die Stimmung im Hotel „Hofgarten“. Fein die Speisen, freundlich die Bedienung. Wir fühlten uns in den Ferien, liessen uns treiben und landeten schliesslich im Museum Bellpark in Kriens. Ausstellung Krienser Masken 19201970.
 
Ich sah die Freude über Primos Stirn huschen, als er die hohe Kunst der Maskenschnitzer sah. Und überall, wo eine Hobelbank steht, da sind wir zu Hause. Hier in Kriens wurde eine kleine Werkstatt nachgestellt. Mit Werkzeugen und einem Lindenholzblock, halbseitig bereits als Maske roh geschnitzt. Eindrücklich, diese beiden Seiten am gleichen Stück. Der ungeschlachte Klotz und das feinfühlig bearbeitete halbe Gesicht. In der Mitte die noch nicht ausgeformte Nase. Besser könnte die Herstellung dieses Kunsthandwerks gar nicht dargestellt werden. Ohne Worte, ohne Erklärungen rief sie Bewunderung hervor.
 
Wir haben jede Maske betrachtet. Es wird von Charakter- und Schreckmasken gesprochen. Primo verneigte sich schliesslich vor diesen Werken und vor den Künstlern auf der Fotowand.
 
Fasnacht spielt in unserem Leben keine Rolle. Von den Masken in dieser Ausstellung aber liessen wir uns gerne einnehmen. Auch die Geschichten eines alten Krienser Fasnächtlers, die ab Band zu hören waren, trugen dazu bei. Das lebhafte Erzählen und der klangvolle Dialekt berührten uns. Was wir sahen und hörten, ist ein Gesamtkunstwerk.
 
Auf dem Heimweg dann, wieder in Luzern, meinten wir in manchen Gesichtern eine Charaktermaske zu erkennen.
 
Die Ausstellung im Museum Bellpark Kriens ist noch lange zu bewundern: 14.11.2010 bis 26.02.2012.

Mittwoch, 2. Februar 2011

Der eigene Ort der Kraft, der kein Ort, sondern Raum ist

Primo hatte die Anfrage eines Redaktionsmitarbeiters am Telefon entgegengenommen. Ob ich meinen persönlichen Kraftort in ihrer Zeitschrift vorstellen würde. Mit einer Foto und kurzem Text. Er habe gleich zugesagt, informierte er weiter. Das freue mich doch, fügte er noch an.
 
Ja schon, aber wo befindet sich denn mein Kraftort? wollte ich wissen. Auf Schlierenberg! Oh schön. Stimmt. Noch nie habe ich dieses Gebiet als meinen Kraftort bezeichnet, weil ich immer noch davon ausging, dass ein solcher ein fixierter Platz sei. Beispielsweise ein mystischer Ort aus alter Zeit, ein Ort, an dem besondere Energien zu spüren sind.
 
Aber er hat recht. Schlierenberg ist unser Naherholungsgebiet mit besonderem Stellenwert. Ein Moränenhügelzug linksseitig des Gletscher-Auslaufs und letzter Ausläufer des Uetlibergs.
 
Es ist ein Ort zum Auslaufen, zum Sich-Auslüften. Für mich auch ein geistiger Raum, in dem ich Antworten und Ideen auffangen kann. Hier oben verändern wir uns alle. Hier ist es friedlich. Die abwechslungsreiche Landschaft schenkt uns grosszügig Geborgenheit.
 
Die Wege führen zum Dunkelhölzliweiher, in den Wald, dem Waldrand entlang und auf der asphaltierten Zubringerstrasse zu 3 Bauernhöfen und ihren angrenzenden Feldern hin. Hier können wir das Wachstum der Saaten verfolgen.
Bei Föhnwetter zeigt sich der Alpenkranz ganz nahe. Jahreszeiten und Wetterlagen bestimmen die sich ständig wechselnden Stimmungen am Himmel, auf dem Land und in den Gesichtern der Menschen, die uns hier begegnen.
 
Bei schönem Wetter sitzen Gänse mitten auf der Strasse. Sie sonnen sich auf dem warmen Asphalt vor dem zweiten Bauernhof und markieren, dass sie hier zu Hause sind. Im grossen Gehege nebenan weiden Pferde. In Boxen sehen wir manchmal neugeborene Kälber und auch Schweine. Zahlreich hocken Rabenkrähen auf den Bäumen und überblicken, was hier geschieht. Blitzschnell fliegen sie auf, wenn scheinbare Gefahr droht.
 
Schlierenberg ist nicht mehr Zürich. Alles Städtische ist verblasst, wenn wir die Stadtgrenze etwas oberhalb der VBZ-Bus-Endstation „Dunkelhölzli“ überschreiten. Nach den Grenzsteinen haben wir bereits gesucht und solche gefunden. Schlierenberg gehört zur „Stadt in der Agglomeration“, zu Schlieren. Gedanken zu Grenzen und zum Diesseits/Jenseits kommen hier manchmal auch auf, wenn ich bergwärts gehe und dort auf ein schmuckes, kleines Haus treffe, das den Namen „Zum Paradiesli“ trägt. Unter dem Dachfirst ist auf einem schwungvollen Spruchband alter Art noch die Botschaft des Erbauers zu lesen:
 
„Dies Häuschen, das ich selbst erbaute, ist freundlich zwar; doch klein. Das einst man uns wird bauen, Das wird noch kleiner sein."
 
Noch nie habe ich hier die Tür zum Paradiesli offen vorgefunden oder Bewohner getroffen. Es scheint ein richtiges Paradies zu sein, nur für wenige zugänglich. Sein Umfeld ist geordnet, die eigene Statur gesund und die Botschaft unter dem Dach wetterfest. Es muss also doch immer wieder Leben im und ums Paradies herum sein.
 
Schlierenberg habe ich schon verschiedentlich in Blogs erwähnt. Immer wieder aus einem anderen Blickwinkel und in anderem Zusammenhang. Noch bin ich unschlüssig, ob einer allein genügen kann, um das Wesen dieses offenen Ortes für die Zeitschrift in einer einzigen Foto einzufangen. Schwierig empfinde ich die Aufgabe auch darum, weil ich selbst ebenfalls abgebildet werden soll.
 
Und dann der Wetterfaktor. Kürzlich kamen wir gerade im Umfeld des „Paradiesli“ daher, als Nebelschwaden aus dem Limmattal aufstiegen und sich hier oben auflösten. Ein Schauspiel besonderer Art. Hier noch nie so gesehen. Solch berührende Momente wären zum Fotografieren ein Glücksfall, sind aber nicht bestellbar.
 
Gestern habe ich unter der Hochnebeldecke probeweise Landschaftsausschnitte fotografiert. Heute hat mich Primo begleitet und mich beim Fotografieren einbezogen. Ich bin aber unzufrieden, empfinde mich als Störfaktor im Bild. Die Landschaft ist doch wichtig, nicht ich. Weitere Anstrengungen und Geistesblitze sind nötig. Jetzt warten wir vor allem, dass die Sonne die Nebeldecke irgendwo aufreisst und uns ein günstiges Licht sendet. 5 Tage haben wir noch Zeit, um den idealen Moment zu erhaschen, der unseren Aufnahmen die aussagekräftige Ausstrahlung verleiht. Dann muss ich meinen Beitrag abgeben.

Sonntag, 9. Januar 2011

Wald ZH & Hallwil: Mit Brauchtumsfiguren auf Tuchfühlung

Silvester und Neujahr scheinen am Jahresende die abschliessenden Feste zu sein, doch gehört auch die Ankunft der drei Könige aus dem Morgenland zur Weihnachtsgeschichte. Darum feiern die orthodoxen Christen ihr Weihnachtsfest erst am 6. Januar. An diesem Tag gedenkt die katholische Kirche ebenfalls der Ankunft der 3 Weisen im Fest Epiphanie.
 
Und am 13. Januar geben die Appenzeller immer noch ihrem „alten Silvester“ die Ehre. Sie weigerten sich 1582, die damalige Kalenderreform anzunehmen. Obwohl sie schon längst auch zur üblichen Kalenderordnung gefunden haben, orientieren sie sich aber für ihren Silvester immer noch am Julianischen Kalender. Diese Feier steht noch bevor. Längst ist sie zu einem Magnet geworden. Die Kläuse, die an diesem Tag in Urnäsch AR unterwegs sind, geben den Blick frei in die vorchristliche Zeit.
 
Wer sie einmal gesehen und gehört hat, wird sie nicht mehr vergessen. Die schönen Kläuse bezaubern mit den kunstvollen Aufbauten, die sie auf ihren Köpfen tragen. Es sind Frauengestalten, die von Männern verkörpert werden. Die „Schö-Wüeschte“ (die nicht ganz Hässlichen) oder die „Wüeschte“ (Furchterregenden) widmen sich dem Vertreiben von bösen Geistern. Zum Ritual dieser Kläuse gehören die Zäuerli, die den Appenzellern eigene Art des Naturjodels. Diese ergreifenden Klänge müssen liebenswürdige Geisterbeschwörungen sein.
Am Tag vor Silvester meldeten sich plötzlich auch die Schnappesel aus Wald (Kanton Zürich) wieder bei uns. Nicht persönlich. Durch einen Zufall. Die Tochter Letizia googelte im Internet den Begriff „Schnappesel“ und landete auf der Homepage von „sunneland-oberland“. Sie staunte, dass da ihre Mutter zum gesuchten Begriff zitiert wird. Es war mir, als hätten mich diese Brauchtumsgestalten gerufen, auch wieder einmal beim Schlusstanz dabei zu sein. Es stand uns kein anderes Programm im Weg, und so fuhren wir am Silvesternachmittag nach Wald im Zürcher Oberland. Und gleich weiter im Postauto nach Faltigberg, dem Ort der Höhenklinik. Der Tag war auch hier trüb, und doch überraschte uns die Aussicht ins Tal, auf die gegenüberliegenden Hügelzüge, nach Dietzikon und Laupen und sogar bis zur Linthebene hin. Weiss der Schnee, grau und schwarz die Bäume und Landschaft. Ein sehr schönes Bild.
 
Wir schlenderten der Klinik entlang zum Wald hin und trafen dort auf 2 Figuren aus Schnee: ein Schneemann der üblichen und eine Frauenfigur ganz eigentümlicher Art, eine Schneefrau. Ich war elektrisiert. Es schien, diese Figur würde leben. Obwohl aus Schnee gebaut, hätte sie eine Brauchtumsfigur sein können. Ich ging ihr entgegen, wusste sofort, dass sie Gret heisse, Waldgret. Sie lachte. Sie lacht noch heute. Ich habe mich nämlich neben ihr fotografieren lassen. So kann ich auch exakt beschreiben, was sie auszeichnet: ein schön gerundeter Kopf mit dickem Hals, der Körper als Frauenkörper erkennbar, eine wohlproportionierte Taille, ein etwas nach aussen gestellter Rock. Der rechte Arm hält einen feingliedrigen, besenartigen Ast in der Hand. Auf dem Kopf trägt sie einen diademartigen Schmuck aus Tannnadelsprossen. Als Augen wurden ihr trockene Blätter in die Augenhöhlen gesteckt. 2 ungleiche, trichterartige Blätter, die dem Gesicht jene Lebendigkeit geben, die mich angesprochen hat. Auch der Mund ist mit einem länglichen, leicht gebogenen Blatt gestaltet, und diese Form weist die Waldgret als eine humorvolle, verschmitzte Persönlichkeit aus. Dank der Digitalkamera kann ich sie hin und wieder in meinem Computer begrüssen.

Zurück im Dorf, besuchten wir noch den Friedhof, auf dessen Gräbern viele lebendige Lichter flackerten und auch einen prächtigen Christbaum erleuchteten. Wir fanden da eine festliche, ganz und gar nicht tote Stimmung und konnten noch einer lieben Verwandten das Kerzengefäss aus dem Schnee befreien und das Licht darin anzünden. Von den Aussenwachten her hörten wir Schnappesel und Kläuse sich dem Dorfkern nähern. Es war Zeit, sich zuerst beim Bahnhof einzufinden und von dort aus die 7 Klaus-/Schnappeselpaare zum Schwertplatz zu begleiten, wo dann der Schlusstanz stattfand. Wir bewunderten deren ganztägigen Einsatz. Die körperliche Leistung besonders jener Männer, die den Glockenkranz tragen mussten, ist enorm. Der Festplatz vor dem Gasthaus Schwert war gefüllt. Man sah viele Familien und viele Kinder auf den Schultern ihrer Väter. Die Begeisterung aller und eine Art Verzauberung waren auch diesmal wieder zu spüren. Und für uns löste ein Ereignis das andere ab.
 
Auf einen Hinweis von Radio DRS 1 fuhren wir am 2. Januar 2011 nach Hallwil (Kanton Aargau), um noch das Bärzelitreiben zu erleben. Ohne Kenntnis des Orts liefen wir den wilden Gesellen gleich in die Arme. Ein Ausweichen war unmöglich. Ich kann mich nur an 3 Gestalten erinnern, die auf mich zukamen. Ein Strohmann, ein „Hobelspäniger“ und das Stechpalmenungeheuer. Jemand hielt eine Sammelbüchse vor mich hin. Als ich einen Batzen hineingeworfen hatte, wurde ich gleich vom „Stechpalmenen" gepackt. Erst später erlebte ich, wie die jungen Frauen kreischten und davonrannten, wenn ihnen die wilden Gesellen nachstellten. Aber ich als Grossmutter wurde zwar für einige Augenblicke in der stacheligen Umarmung gefangen gehalten, aber mir wurde freundlich „Ä guets Nöis Jahr" gewünscht, derweil Primo vom Strohmann gepackt und geschüttelt wurde. Kaum befreit, wurde auch er noch vom „Stechpalmenen" überfallen und ebenfalls mit einem wohlwollenden Glückwunsch und stacheligem Druck beschenkt. Die Dorfjugend führte den Umzug an, allen voran ein König. Nach und nach bewunderten wir den „Hobelspänigen", eine Figur, die rundum mit Hobelspänen bedeckt war, ebenso eine Gestalt mit einem Gewand voller Schneckenhäuser bekleidet. Es ging auch ein Kamel daher. Unter grobem Sackleinen marschierten 2 Männer und markierten sowohl die Beine wie auch die Höcker des Tiers. Vor ihnen her ging ein Mohr und führte sie.
 
Es gab Burschen, die Saublatern schwangen und einen treffen wollten. Der Begriff „Die Sau herauslassen" passte dazu. Nachdem nochmals ein Obolus in die Kasse fiel, wurden wir nicht mehr angegriffen.
 
Als wir dann später auf der Station auf die Seetalbahn warteten, wurden wir gefragt, woher wir kämen und wie es uns hier gefallen habe. Gut! Wir haben ein lustvolles, unverdorbenes Treiben gesehen, das der Jugend Spass macht und ihr Zusammenhalt gibt. Als ich erzählte, wir seien vom „Stechpalmenen" gepackt worden, sagte der Mann: „Siiie! Das bringt Glück!" So sind wir gespannt, wann und wo es sich im Lauf dieses neuen Jahres dann zeigen wird.

Samstag, 1. Januar 2011

In jedes neue Jahr nehmen wir die alten Erinnerungen mit

Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich gern. Sie sind mit dem Atemholen vergleichbar. Das Fest ist verklungen. Die Enkelkinder sind abgereist. Nach und nach findet unsere Wohnung zur alten Form zurück. Das Massenlager ist aufgehoben. Die Energie erlebnishungriger Kinder ist verflogen. Es ist still. Still auch ganz besonders, weil es jetzt wieder schneit.
 
Jetzt können sich die Erlebnisse in mir niederlassen, ihren Platz finden und mich dann in Ruhe lassen. Je älter ich werde, desto langsamer verlaufen die entsprechenden Prozesse. Erst danach fallen alle Anspannungen von mir ab.
 
Betrete ich aber unsere Stube, ist die Stimmung mit den Kindern wieder da. Hier steht doch noch unser prächtiger Christbaum, und um ihn tanzen die Erlebnisse des Heiligen Abends. Der Baum scheint die Freude immer noch auszustrahlen, dass er hier sein kann. Seine Nadeln und sein Harz duften. Er ist eben ein ganz besonderes Exemplar. Eines mit einem Vorleben.
 
Primo entdeckte ihn kurz vor Weihnachten in einer grossen Abfallmulde im Umfeld seiner Werkstatt und der benachbarten Event-Hallen. 5 Meter hoch, aufrecht gewachsen, stark, etliche Jahre alt. Gesund und schön. Und doch weggeworfen, rücksichtslos entsorgt. Dass er für weihnachtliche Stimmung einer Geschäftsfeier dienen musste, bezeugen die Beigaben im Containergrab. Ein paar rote und silberne Kugeln, grosse Schneesterne aus Karton und meterweise wattierter weisser Stoff.
 
Primo hat in seinem Berufsleben viele Parkbäume, die hätten geschreddert werden müssen, gerettet und aus ihrem Holz Raritäten hergestellt. Verständlich, dass ihn das Schicksal dieser Tanne im Abfallcontainer berührt hat. Er rettete auch sie und brachte sie heim. Vordem schnitt er sie auf die Masse unserer Stube zu und brachte auch die abgeschnittenen Äste heim. Diese schichtete er am Boden um den Stamm herum auf. Nichts ging verloren, was zum Baum gehört hatte. Entstanden ist eine ausstrahlende, dem Fest würdige Persönlichkeit.
 
Es gab viele Jubelrufe – „Oh wie schön! Oh wie schön!“ – als wir die Stube betraten und die Kinder im Glauben liessen, das Christkind hätte den Baum gebracht. Da gab es keine Zweifel, auch für die Erwachsenen nicht. Wohl können wir einen Baum in die Stube stellen, doch der Glanz, den ihm die flackernden Lichter bescheren, der kommt von anderswo her. Die Enkelkinder erlebten erstmals lebendiges Kerzenlicht und sie staunten.
 
Und vor diesem Baum sangen Mena und Nora Weihnachtslieder, deutsch und französisch. Sie hielten sich an den Händen. Ihre Freude, hier singen zu können, war gross.
 
Gerne wüsste ich, welche Momente in ihren Herzen einen ewigen Platz gefunden haben, von denen sie als Erwachsene dann erzählen. Für jetzt aber muss mir der Glanz, den ich in ihren Augen gesehen habe, genügen.
 
Nora hatte irgendwo den Ausdruck „Du meine Güte!“ aufgefangen. Schnell begriff sie, dass wir es lustig fanden, wenn sie ihn an mehr oder weniger passenden Stellen anbrachte. Sie verwendete ihn nicht in Momenten, die erschreckten. Für sie ist diese Güte Ausdruck einer heiteren Überraschung. Und doch habe ich ihn am Weihnachtsfest nicht gehört. Für ein solches Fest kannte sie noch keine Worte.
 
Auch das neue Jahr kennen wir noch nicht. Ich benütze die Gelegenheit, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zum Übergang ins Jahr 2011 von Herzen alles Gute zu wünschen.

Freitag, 24. Dezember 2010

Die Geschichte von Johann Hinrich Wicherns Adventskranz

In einer Zeitschrift stiess ich dieser Tage auf die Besprechung eines Weihnachtsgeschichtenbuchs, das mir gerade noch gefehlt hatte. Einerseits soll ich die Enkelkinder mit Geschichten füllen, wie meine Tochter dies aussprach, andererseits tauche ich immer wieder gerne in alte Weihnachtsgeschichten ein, weil sie weniger rational gestaltet sind. Mir gefallen Geschichten, die der Seele gut tun. Solche, in denen wir miterleben können, wie sich Menschen verändern, wie Wundersames geschieht und solches noch mit nüchternen Überlegungen erklärt werden kann.
 
Das im Verlag Urachhaus erschienene Buch Als Weihnachten beinahe ausgefallen wäre konnte ich kaufen. Vom Kapitel „Advent im Rauhen Haus" will ich erzählen.
 
Es geht hier um verwahrloste Kinder und Jugendliche aus dem Armenviertel von Hamburg in der Zeit ab 1832. In der Geschichte wird erzählt, dass ein Johann Hinrich Wichern das sogenannte „Ruges Hus“ (Raues Haus) ins Leben rief. Ein Zuhause für Kinder, die kein eigenes mehr hatten. Wir können uns damalige Armut und Verwahrlosung wohl kaum vorstellen. Solche Kinder aufzunehmen und sie zu einem menschenwürdigen Leben hinführen, erfordert ein ganz grosses Charisma.
 
In diesem Rauhen Haus galt die Losung, dass man eine Familie und jeder jedem Bruder sei. Aber die Jungen aus schlimmstem sozialen Elend waren noch nicht fähig, solche Forderung zu erfüllen. 2 ungefähr gleich starke Burschen beanspruchten die Führung. Beiden folgten ungefähr je die Hälfte der Buben. Es wurde gestritten, einander geplagt. Es muss eine hochaufgeladene Stimmung geherrscht haben, die zu jenem Zeitpunkt niemand entschärfen konnte. Einer der Anführer hatte sich eine Kerze beschafft und drohte, bald werde es brennen. Schlussendlich beschafften sich alle Knaben, auch jene der Gegnergruppe, eine Kerze. Und niemand wusste eigentlich, was denn brennen sollte.
 
Und dann war es ein kleines Kind, das die Atmosphäre entspannte. Als die Frau, die den Kindern jeweils das Frühstück zubereitete, an einem Morgen auf dem Weg ins Rauhe Haus unterwegs war, fand sie auf der Strasse ein kleines, dunkelhäutiges Kind, fast nackt auf der Strasse liegen. Sie hob es auf, nahm es an ihren Arbeitsort mit. Dort wurde der Kleine in der warmen Stube in den Holzkorb gelegt. Und ab diesem Moment hörten die Raufereien unter den Burschen auf. Sie achteten darauf, dass es diesem kleinen Gast gut gehe. Gab es doch noch Streit, fing der Kleine zu brüllen an und bewirkte, dass sie sich beruhigten.
 
Die Händel rückten nun weg von ihnen. Dieser neugeborene Mensch verwandelte sie, weil er klein und verwundbar war, aber auch, weil er immer wieder auf sich und sein Wohl aufmerksam machte. Sie lernten die Ehrfurcht vor dem Leben kennen. Die Burschen setzten sich zu ihm neben den Holzkorb und schauten nach ihm, fühlten sich vielleicht verantwortlich. Einmal stimmte Vater Johann ein Adventslied an und die Burschen sangen mit. Der Kleine aber, solcher Stimmung fremd, weinte und schluchzte. Einer der Rädelsführer holte nun seine Kerze aus dem Hosensack, entzündete sie am Ofen, brachte sie dem Kleinen vor die Augen und beruhigte ihn augenblicklich. Und weiter heisst es in der Geschichte, Vater Johann sei behilflich gewesen, dass die Kerze am Korbrand sicher befestigt wurde, damit der Kleine das beruhigende Licht und seine Bewegung gut sehen könne. Und dann sei noch ein zum Holzkorb passendes Gestell gebaut worden, auf dem dann nach und nach täglich eine weitere Kerze aus einem der Hosensäcke dazu kam.
 
Und das sei die Geburtsstunde des Adventskranzes gewesen, hiess es. Wicherns Kranz ist aber lichtvoller als derjenige in der Schweiz. Er trägt je eine Kerze für jeden Tag im Advent.
 
Noch vor Jahren hätte ich diese Erzählung einfach als eine erbauende Geschichte aufgefasst. Aber heute, mit dem Zugang zum Internet, habe ich dort bestätigt gefunden, dass es dieses Rauhe Haus gegeben hat und immer noch gibt. Mit grossem Interesse habe ich die entsprechenden Beiträge über Johann Hinrich Wichern gelesen. Er lebte von 1808 bis 1881 und wird als bedeutendste sozialpolitische Persönlichkeit der evangelischen Diakonie in Deutschland bezeichnet. War er mit unserem schweizerischen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi 1746‒1828 seelenverwandt?
 
Im Internet wird übrigens ebenfalls darauf hingewiesen, dass der Adventskranzbrauch 1839 von Wichern im Rauhen Haus eingeführt worden sei.

Freitag, 17. Dezember 2010

Füsse, Schuhe, Beschwerden, Fussabdrücke im Schnee

Die Füsse haben aufgejault, als ich sie beim ersten Schnee in die schweren Winterschuhe zwängte. Gewohnt an leichtes und bewegliches Schuhwerk, empfanden sie die warmen, aber schweren Schuhe als grosse Last. Knochen und Fersen beklagten sich in Form von Schmerzen, obwohl es Schuhe sind, die meine Füsse seit Jahren kennen und mich an viele Orte hingetragen haben.
 
Auch neue Schuhe wurden nicht sofort akzeptiert. Das ganze Knochengerüst will neuerdings mitreden, wenn es eine Veränderung gibt. Mit zunehmendem Alter meldet sich in diesem Bereich eine anspruchsvolle Sensibilität und fordert geduldige Gewöhnung.
 
Am Morgen des 15.12.2010, als ich zum Einkaufen wieder in den Winterschuhen unterwegs war, fühlte ich keine Probleme mehr. Es lag leichter Schnee und dieser wirkte stossdämpfend. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich locker gehen konnte. Ich freute mich, schaute auf den Boden, der mir sofort allerlei Geschichten zu erzählen begann.
In den Schnee gedrückt, sah ich grobe, filigrane, absatzbetonte und ganz flache Sohlen. Männerfüsse, Frauenfüsse, Kinderfüsse, aber auch Pfoten von Hunden und Spuren von Vögeln. Dekoriert war der Schnee mit letzten locker verstreuten Blättern und Samen von den hier heimischen Bäumen. Ein schönes Bild.
 
Fortan schaute ich nur noch auf meinen Weg, auf die nächsten Schritte. Und ich sah, dass wir alle, die diesen Weg benützen, unsere Spuren hinterlassen. Unwissend, dass wir dabei das Muster von vorher zerstören. Im Dialekt nennen wir das „vertrampe“ (zertreten). Ein Stück weiter hatte ein Auto sogar alle Fussspuren auf dem Trottoir überwalzt. Wieder einmal dachte ich: Der Schnee deckt zu, aber er deckt auch auf.
 
Er deckt auf, dass viele, sehr viele Menschen den gleichen Weg gehen, aber nichts voneinander wissen. Kämen alle zur selben Stunde daher, es wäre ein ungemütliches Gedränge. Da würden gewiss die Ellbogen eingesetzt, um den eigenen Platz und das Fortkommen zu behaupten. Schwache würden beiseite geschoben und möglicherweise „vertrampet“.
 
Auf dem Heimweg hörte ich die Glocke von der kleinen Kirche am Suteracher läuten, wie üblich am Mittwochmorgen zu dieser Zeit. Ich fühlte mich, wie schon oft hier oben, in einem Dorf. Jetzt war ich allein unterwegs. In der Zwischenzeit hatten die umliegenden Schulhäuser die vorher noch herumalbernden Kinder verschluckt. Es war ruhig, friedlich. Jetzt, auf dem Rückweg, erspähte ich noch einige Partien mit frischem, unberührtem Schnee. Als Kind wäre ich sofort dorthin gesprungen, um meinen persönlichen Fussabdruck zu deponieren. Damals noch auf dem Land wohnhaft, gefiel es mir und meinen Freundinnen auch, uns in den Schnee zu setzen und mit ausgestreckten Armen, die Wirbelsäule abrollend, auf den Rücken zu liegen. Wenn wir sorgfältig aufstanden, sahen wir die eigene Abbildung. Das bin ich! Das waren wichtige Momente im Leben als Kind.
 
Und heute freue ich mich einfach an diesem unberührten Flecken Schnee und wünsche ihm, dass er bis zur Schmelze so belassen werde. Achtsamkeit ist mir wichtiger geworden.