Primo hatte die Anfrage eines Redaktionsmitarbeiters am
Telefon entgegengenommen. Ob ich meinen persönlichen Kraftort in ihrer
Zeitschrift vorstellen würde. Mit einer Foto und kurzem Text. Er habe
gleich zugesagt, informierte er weiter. Das freue mich doch, fügte er
noch an.
Ja schon, aber wo befindet sich denn mein Kraftort? wollte ich
wissen. Auf Schlierenberg! Oh schön. Stimmt. Noch nie habe ich dieses
Gebiet als meinen Kraftort bezeichnet, weil ich immer noch davon
ausging, dass ein solcher ein fixierter Platz sei. Beispielsweise ein
mystischer Ort aus alter Zeit, ein Ort, an dem besondere Energien zu
spüren sind.
Aber er hat recht. Schlierenberg ist unser Naherholungsgebiet mit
besonderem Stellenwert. Ein Moränenhügelzug linksseitig des
Gletscher-Auslaufs und letzter Ausläufer des Uetlibergs.
Es ist ein Ort zum Auslaufen, zum Sich-Auslüften. Für mich auch ein
geistiger Raum, in dem ich Antworten und Ideen auffangen kann. Hier
oben verändern wir uns alle. Hier ist es friedlich. Die
abwechslungsreiche Landschaft schenkt uns grosszügig Geborgenheit.
Die Wege führen zum Dunkelhölzliweiher, in den Wald, dem Waldrand
entlang und auf der asphaltierten Zubringerstrasse zu 3 Bauernhöfen und
ihren angrenzenden Feldern hin. Hier können wir das Wachstum der Saaten
verfolgen.
Bei Föhnwetter zeigt sich der Alpenkranz ganz nahe. Jahreszeiten
und Wetterlagen bestimmen die sich ständig wechselnden Stimmungen am
Himmel, auf dem Land und in den Gesichtern der Menschen, die uns hier
begegnen.
Bei schönem Wetter sitzen Gänse mitten auf der Strasse. Sie sonnen
sich auf dem warmen Asphalt vor dem zweiten Bauernhof und markieren,
dass sie hier zu Hause sind. Im grossen Gehege nebenan weiden Pferde. In
Boxen sehen wir manchmal neugeborene Kälber und auch Schweine.
Zahlreich hocken Rabenkrähen auf den Bäumen und überblicken, was hier
geschieht. Blitzschnell fliegen sie auf, wenn scheinbare Gefahr droht.
Schlierenberg ist nicht mehr Zürich. Alles Städtische ist
verblasst, wenn wir die Stadtgrenze etwas oberhalb der
VBZ-Bus-Endstation „Dunkelhölzli“ überschreiten. Nach den Grenzsteinen
haben wir bereits gesucht und solche gefunden. Schlierenberg gehört zur
„Stadt in der Agglomeration“, zu Schlieren. Gedanken zu Grenzen und zum
Diesseits/Jenseits kommen hier manchmal auch auf, wenn ich bergwärts
gehe und dort auf ein schmuckes, kleines Haus treffe, das den Namen „Zum Paradiesli“ trägt. Unter dem Dachfirst ist auf einem schwungvollen Spruchband alter Art noch die Botschaft des Erbauers zu lesen:
„Dies Häuschen, das ich selbst erbaute, ist freundlich zwar;
doch klein. Das einst man uns wird bauen, Das wird noch kleiner sein."
Noch nie habe ich hier die Tür zum Paradiesli offen vorgefunden
oder Bewohner getroffen. Es scheint ein richtiges Paradies zu sein, nur
für wenige zugänglich. Sein Umfeld ist geordnet, die eigene Statur
gesund und die Botschaft unter dem Dach wetterfest. Es muss also doch
immer wieder Leben im und ums Paradies herum sein.
Schlierenberg habe ich schon verschiedentlich in Blogs erwähnt.
Immer wieder aus einem anderen Blickwinkel und in anderem Zusammenhang.
Noch bin ich unschlüssig, ob einer allein genügen kann, um das Wesen
dieses offenen Ortes für die Zeitschrift in einer einzigen Foto
einzufangen. Schwierig empfinde ich die Aufgabe auch darum, weil ich
selbst ebenfalls abgebildet werden soll.
Und dann der Wetterfaktor. Kürzlich kamen wir gerade im Umfeld des
„Paradiesli“ daher, als Nebelschwaden aus dem Limmattal aufstiegen und
sich hier oben auflösten. Ein Schauspiel besonderer Art. Hier noch nie
so gesehen. Solch berührende Momente wären zum Fotografieren ein
Glücksfall, sind aber nicht bestellbar.
Gestern habe ich unter der Hochnebeldecke probeweise
Landschaftsausschnitte fotografiert. Heute hat mich Primo begleitet und
mich beim Fotografieren einbezogen. Ich bin aber unzufrieden, empfinde
mich als Störfaktor im Bild. Die Landschaft ist doch wichtig, nicht ich.
Weitere Anstrengungen und Geistesblitze sind nötig. Jetzt warten wir
vor allem, dass die Sonne die Nebeldecke irgendwo aufreisst und uns ein
günstiges Licht sendet. 5 Tage haben wir noch Zeit, um den idealen
Moment zu erhaschen, der unseren Aufnahmen die aussagekräftige
Ausstrahlung verleiht. Dann muss ich meinen Beitrag abgeben.
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