Freitag, 4. September 2009

Das Reka-Freibad Albanago: Ideal für alle Generationen

Nach der Heimkehr, wieder in Paris, haben Mutter und Töchter über die Ferien nachgedacht. „Was war das Schönste?" wollte die Mutter wissen. Mena habe viele glückliche Momente aufgezählt. Das „absolut top super liebste Erlebnis“ sei aber das gemeinsame Schwimmen im Freibad gewesen, als sich die ganze Familie, also 3 Generationen, im Wasser tummelte und vor allem auch, weil ihre geliebte Khale (Tante) auch dabei war.
 
Nachdem meine persönliche Schwimmunterricht-Geschichte im zweiten Albonago-Blog bereits erzählt worden ist, knüpfe ich nun dort an, wo ich mich beklagte, man hätte früher nichts getan, um den Schülern das Vertrauen ins Wasser zu vermitteln.
In Albonago (Tessin) organisierte der Schwiegersohn für seine 7-jährige Mena Taucherbrille und Schnorchel und zeigte ihr, wie sie unter Wasser vorwärts kommen kann. Selber ein lustvoller Schwimmer, gelang ihm auf Anhieb, die Angst vor dem Absinken zu vertreiben und das Wasser als Spielplatz erfahrbar zu machen. Ein Glücksfall. Sie begriff sofort, schwamm nun unermüdlich Längen um Längen. Eins mit sich selber und eins mit dem Wasser. Wir applaudierten. Sie hörte kaum hin, wusste nun selber, was sie vollbracht hatte. Ich freute mich für sie. Solche Momente stärken das Selbstbewusstsein. Schön, dass die Familie den Rahmen bilden durfte, in dem sie aufgehoben war.
 
Noras Lieblingsplatz war anfänglich das Bassin für die Kleinkinder. Da sprang sie hinein, als ob das ein Trampolin sei. Ebenfalls unersättlich. Voller Lebensfreude. Später nahm ich sie auf die Treppenstufen ins grosse Bassin mit, die nach und nach ins tiefe Wasser führen. Langsam stieg sie an meiner Hand von Absatz zu Absatz, bis ihr das Wasser am Hals stand. „Tüüf, tüüf!“ (tief, tief!) rief sie glückselig, während Mena und Bappa um die Wette schwammen. Bappa spielte Krokodil, tauchte unter, schwamm vor oder hinter der Tochter her, zielte zu Nora, rief, das Krokodil komme und löste erschrocken-belustigte Schreie aus.
 
Später wurde Nora von Mama im grossen Bassin spazieren geführt. Sie hing im aufgeblasenen Schwimmring und schaute, wie Mena und Bappa unter Wasser verschwanden und wieder auftauchten. Zur gleichen Zeit begann jemand von der Familie, den Wasserball ins Spiel zu bringen. Das elektrisierte sie. Sie wollte ihn fangen, ihm nachspringen und war doch im Wasser. Intuitiv begannen ihre Füsse zu paddeln. Mama spürte, was da vorging und liess die Kleine, die jetzt komfortabel in der aufgeblasenen Schwimmhilfe lag, sachte los, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Und plötzlich merkten wir, dass sie „erlickt“ (entdeckt, erfasst) hatte, wie man schwimmt.
 
Als wir Ende Juli Noras Geburtstag feierten, gab es unter den Geschenken einen ungewöhnlichen Spielball mit einem Gruseleffekt, der vom schlabbernden Material (eine Art Slime, vermutlich ein Silikonprodukt) ausging. Der rosafarbene Ball war ein Kopf, Haare flatterten, wenn man ihn bewegte, und ein freundliches Gesicht machte ihn sympathisch. Nora war zuerst erschrocken. So etwas hatte sie noch nie gesehen, erkannte aber sofort, dass hier etwas Lustiges aufgetaucht war. Sie sagte mehrmals hintereinander vor sich her: „Pas peur! pas peur!“ (Keine Angst, keine Angst!).
 
Faszinierend zu erleben, wie sie die Angst erkannte und ihr Paroli bot. Dieser Schlabberball war für die 3-Jährige hochinteressant. Sie wollte ihn haben, darum wies sie die Angst zurück.
 
Ähnlich geschah es im Wasser. Sie vergass ihre Unsicherheit, als sich das Interesse am grossen Wasserball meldete. Auch ihn wollte sie haben, berühren, fortwerfen, wie sie es gesehen hatte. Und vergass dabei die vorherige Unsicherheit.
 
Diese Beobachtung freute vielleicht mich am meisten. Es war ein Entwicklungsschritt, den ich in Zeitlupe verfolgen durfte. Sich vergessen und vorher noch Angst zurückweisen, scheint ein Erfolgsrezept zu sein. Hätte ich diese Einsicht schon vor rund 60 Jahren gehabt, wäre ich vielleicht eine gute Schwimmerin geworden.
 
Angaben zum Schwimmbad in Albanago: Es ist 9 x 22 m gross und steht für alle Reka-Gäste von Mai bis Oktober täglich von 8 Uhr bis 22 offen.
 
Erwachsene können an der tiefsten Stelle – das Wasser am Hals – noch stehen. Ideal für Jung und Alt. Wir waren nicht die einzigen Grosseltern.
 
Wir schätzten dieses Bad auch, weil es sich innerhalb des Reka-Dorfs befindet, also keinen weiten Anmarschweg verlangt. Viele Familien erfrischten sich nach Ausflügen am Abend noch mit einem wohltemperierten Bad. Auch wir.
 
In diesem Reka-Dorf stehen auch Minigolf/Tischtennis/Streetball/Tischfussball und eine Bocciabahn zur Verfügung.

Und es ist ein Ort mit südlichem Lebensgefühl. In vielen Farben blühte gerade der Oleander. Zur Silhouette dieses Feriendorfes gehören Palmen, Zypressen, Pinien und Feigenbäume. Hier ist der Himmel offen und weit zu erfahren. Der Blick über Lugano. Abgehoben waren wir, wie das zu Ferien gehört.
Reka Albonago ist übrigens vom Schweizer Tourismusverband mit dem Gütesiegel ausgezeichnet worden. Dieses wird ausschliesslich an Betriebe vergeben, die besonders hohe Qualitätsanforderungen erfüllen.



Und zum Schluss verrate ich noch, was Nora antwortete, als auch sie nach dem schönsten Ferienerlebnis gefragt wurde. Sie habe keinen Moment gezögert und sofort gerufen: „Spaghetti!“
 
Ja, im Gasthaus „Miralago“ in Gandria fütterte sie der Grossvater mit Spaghetti con vongole.
 
Nora ist eine Geniesserin. Ihr Denken kreist in erster Linie ums Essen. Es gibt immer wieder lustige Episoden zu diesem Thema mit ihr.

Reka-Ferien Albonago: Freibad weckt alte Erinnerungen

Mena, die siebenjährige Enkelin vertraute mir schon am ersten Ferientag an, dass sie immer noch nicht schwimmen könne. Sie sagte es mit einem gewissen Bedauern und doch bewunderte ich sie. Es war eine Tatsache und sie verschleierte sie nicht. In Paris wird Schwimmen auch unterrichtet, jedoch nur im Hallenbad und so hofften wir zusammen, dass ihr hier in Albonago spielerische Fortschritte gelingen werden. Das grosse Freibad lud geradezu dazu ein.
 
Sagte nicht Mao Tse-tung, jeder Mensch müsse schwimmen können? Ich fühlte mich immer persönlich angesprochen, wenn ich diese Forderung las. Meine Schwimmkünste waren von jeher mager und haben sich bis heute nicht wesentlich entwickelt.
 
Dazu gibt es eine alte Geschichte, die ich Mena erzählen musste. 1950–1951 bekam ich als Primarschülerin in Zürich auch Schwimmunterricht. Dieser fand für die Knaben im See und für die Mädchen in der Limmat statt. Schwimmunterricht im Hallenbad kannten wir noch nicht. Wenn ich mich recht erinnere, war dieser Unterricht bei Temperaturen ab etwa 18 Grad abzuhalten. Die Buben unserer Klasse wurden in die hölzerne Badeanstalt am Bürkliplatz geführt, wir Mädchen ins nahe gelegene Frauenbad am Stadthausquai.
 
Zuerst gab es für uns nur Trockenübungen. Wir mussten auf einen Faltschemel liegen und die Schwimmbewegungen einüben. Später wurden Aluminiumteller mit Löchern auf den Boden des Bades geworfen. Diese mussten wir heraufholen. Unmöglich für mich und meine Augen. Ich kann mich nicht erinnern, dass von unserer strengen Schwimmlehrerin etwas getan wurde, was das Vertrauen zum Wasser hätte fördern können. Vieles wurde beinahe militärisch vermittelt - zack-zack. Ja, es gab Kinder, die mit den Eltern öfters baden gingen und denen hier alles gelang, was vorgeschrieben wurde. Das war bei mir nicht der Fall. Nach und nach gelang es aber auch mir, die Länge des Bades zu schwimmen. Diese auch heute noch schöne Badeanstalt aus Holz gab mir eine gewisse Sicherheit. Ich konnte im Notfall an den Rand steuern und mich dort festhalten. Im Sommer musste dann eine Prüfung abgelegt werden. War sie erfolgreich, bekamen wir das "S", ein Stoffabzeichen, das an die Badehose genäht wurde.
 
Vor dieser Prüfung graute mir. Wir wussten es nicht im Voraus, wann sie stattfinden würde. Das hing vom Wetter und den Temperaturen ab. Eines Tages war es soweit. Wir wurden zur Bubenbadeanstalt am Bürkliplatz beordert. Ich kann mich gut erinnern, wie wir Mädchen dorthin liefen oder trotteten und dort zum niederen Sprungbrett geführt wurden. In Einerreihe traten wir an und nach kurzem Zögern sprang auch ich ins Wasser. Ich kann das Gefühl, das mich damals begleitete, gut hervorholen. Es war keine Angst dabei und das Auftauchen dann ganz angenehm, eine positive Überraschung.
 
Ich schwamm, wie alle anderen, eine leichte Schleife Richtung Quaibrücke, dorthin wo das Seewasser zur Limmat wird. Aber genau unter dieser Brücke verliess mich das Vertrauen, die Frauenbadeanstalt je zu erreichen. Ich schwamm zum Brückenkopf, klammerte mich an ihn und holte tief Atem. Wenn ich heute mit dem Limmatschiff hier durchfahre, frage ich mich jedes Mal, wo um Himmels Willen ich mich festkrallen konnte. Weit draussen im See sah ich einen Fischer in seinem kleinen Boot. Auf ihn vertraute ich. Er wird mich sehen und retten, das war meine Zuversicht.
 
Inzwischen waren die Mädchen meiner Klasse zum Frauenbad zurückgekommen. Die Schwimmlehrerin begleitete die ganze Schar in einem Weidling, hatte aber nicht bemerkt, dass ich zurückblieb. Es dauerte eine für mich lange Weile, bis sie atemlos angerudert kam, mich fand, mich ins Boot zog und zurückbrachte. Es ging nicht ohne wettern und schimpfen. Das war mir egal. Ich konnte es sogar verstehen. Sie hatte sicher Angst, ich sei ertrunken.
 
Die Mitschülerinnen wurden von unserem Lehrer abgeholt. Man fuhr gemeinsam zum Limmatplatz und kehrte ins Kornhaus-Schulhaus zurück. Ich musste zur Strafe in der Badi bleiben, einfach solange, bis es mir gelang, die vorgeschriebene Strecke dieses Bades in einem Zug zu schwimmen. Es gelang mir bald, denn hier war ich heimisch. Dann durfte ich ebenfalls in Schulhaus zurückfahren. Hat mir da jemand ein Tramabonnement gegeben? Ich weiss es nicht mehr. Oder hat mich jemand begleitet? Wenn ich zurückschaue, bin ich ganz allein. Als ich dann ins Schulzimmer trat, waren alle an der Arbeit. Es gab kein Aufsehen. Ich wurde weder ausgelacht, noch beschimpft, nur ruhig angewiesen, meinen Platz wieder einzunehmen.
 
Zu Hause getraute ich mich nicht, von diesem einschneidenden Erlebnis zu berichten. Wer scheitert  schon gern? Wir mussten immer alles rasch begreifen und anwenden können, waren oft überfordert, im Stress, auch wenn wir dieses Wort noch gar nicht kannten. Anfänglich plagten mich Bauchschmerzen. Ich konnte den Darm ein paar Tage nicht mehr entleeren. Aber irgendwann renkte sich alles wieder ein. Ich schwieg darüber, schloss das Erlebte als Geheimnis in mich ein.
 
Das ist meine Geschichte. Die hölzerne Männer- und Knabenbadeanstalt am Bürkliplatz gibt es schon lange nicht mehr. Eines Tages sackte sie ab. Die metallenen Schwimmtanks waren durchgerostet und trugen das Gebäude nicht mehr. Der ganze Komplex wurde entsorgt. Und ganz allgemein freute man sich dann an der freien Sicht auf den See.
 
Es war ganz still, als ich dieses Erlebnis zu Ende geschildert hatte. Das Mitgefühl von Mena, aber auch von unseren Töchtern Felicitas und Letizia war spürbar und wohltuend.
 
Wie sich Mena und Nora im Freibad entfalteten, erzähle ich in einem nachfolgenden Blog.

Donnerstag, 3. September 2009

Tonen: Unverhofft zeigte sich der Geist von Albonago TI

Er zeigte sich mir in einer Figur aus Lehm, die ich spielerisch geschaffen hatte. Im Reka-Dorf Albonago im Tessin, wo wir unsere diesjährigen Familienferien verbrachten, wurde nebst den Rekalino-Programmen für Kinder auch eines für Erwachsene angeboten. „Tonen im Freien“. Tonen heisst mit Ton (Lehm) arbeiten.
 
Die Sozialpädagogin und Maltherapeutin Jasmine Them Schmid leitete unsere Gruppe (10 Personen) an, eine Kugel zu formen. Sie zeigte den handwerklich richtigen Weg. Aufbauend, wie sich alles in der Natur entwickle. Schichten um Schichten wurden so zusammengefügt und zusammengeknetet, dass nach und nach die Kugelform entstehen konnte. Wichtig sei diese Bearbeitung, damit die Luft aus dem Material verdrängt werde. So wird Brüchigkeit verhindert. Auf keinen Fall soll ein Stück Lehm nur vom grossen Klumpen abgetrennt und sofort zu einer Kugel gerollt werden. Zu einfach. Der Lehm brauche unsere Hände, unsere Berührung, das Kneten, Formen, Spielen.
 
Auf halbem Weg zur Kugel hatten wir unser Werkstück in die rechte Hand und eine zweite von der Nachbarperson in die andere entgegenzunehmen, um sie zu fühlen und zu vergleichen. Gewicht und Form in der Hand zu erspüren, zu vergleichen. Erstaunlich. Wir begannen alle mit einem ungefähr gleich grossen Stück Ton. Die Gewichte fühlten sich dann aber ganz verschieden an. Es gab Kugeln, die leicht geworden waren, andere empfand ich schwer und dumpf.
 
Ich selbst war da erst auf dem Weg zur Kugelform, liess meine Hände ohne Befehle aus dem Kopf etwas machen. Es entstand ein Vielflächner, weil ich die Tonmasse gerne auf den Tisch klatschte. Die Kursleiterin bemerkte diese Abart und sie gefiel ihr. So blieb ich ihr einigermassen treu und wollte die Kugelform gar nicht mehr erreichen.
 
Neben mir werkte Nora in Zusammenarbeit mit dem Grossvater. Das 3-jährige Kind liebt Knetmassen über alles, kann sich damit verweilen, weil sie wandelbar sind und der Fantasie folgen können. Was da entstand, war einzig das Produkt der sinnlichen Erfahrung, der spielerischen Sprache von Händen und Fingern.
 
Trotzdem wunderte ich mich, wie Nora mitmachte und zu Beginn sogar sehr aufmerksam auf ihrem Stuhl sass und zuhörte. Für sie wurden 3 Plastikstühle übereinander geschoben. So sass sie mit den Erwachsenen auf gleicher Höhe. Nora erschien mir an diesem Abend älter, erwachsener und zu allen Spielereien, die Grossvater für sie einbaute, bereit. Sie störte niemanden. Tagsüber erlebten wir sie als Wiesel, umtriebig und gerne als Anführerin.
 
Nächster Schritt für uns alle, nachdem die Kugelform erreicht war: Spuren anbringen, Spuren zulassen. Nora und Grossvater rollten ihre Kugeln auf dem Kiesweg vor sich her. Einerseits setzten sich Kiesel fest, andererseits verpassten die Steine Grübchen, Löchlein, Striche usw. Ich drückte meine Masse an die grobe Hauswand mit ihren Steinquadern und rollte sie später einen Abhang hinunter. Und dann zeigte sich der Geist. Es hatten sich 2 markante Augen eingegraben, die Stirne trat hervor, eine Nase war eingezeichnet, nur der Mund fehlte. Den ritzte ich ein. Die Form eines Kopfes war ohne mein Zutun entstanden. Sie gefiel mir. Sofort erkannte ich eine alte, wissende Persönlichkeit. Ihre Gesichtshaut voller Runzeln. Alt und doch auf eine eigene Art lebendig. Der Ausdruck freundlich. So habe ich mein Werk belassen.
 
Es wurde ruhig gearbeitet. Obwohl wir kaum miteinander sprachen, fühlten wir uns verbunden und tags darauf, als wir uns im Reka-Dorf wieder begegneten, waren wir Bekannte.
 
Dieses Reka-Gelände ist ansehnlich. Auf einer Fläche von 33 000 m2 stehen 43 Ferienhäuschen und Ferienhäuser. Es befindet sich am Hang des Monte Brè, ungefähr auf halber Höhe.
 
Später konnte ich Frau Schmid nochmals treffen. Sie erzählte mir von ihren Motiven und Erfahrungen als Sozialpädagogin. In diesem Feriendorf ermöglicht sie den Kindern spielerische Konzentration, spielerisches Zusammenfinden, schöpferisch tätig zu sein. Hier gibt es keine Wertungen wie in der Schule. Alle Werke sind Originale, gehören zur Person, die sie geschaffen hat. Sie sind Ausdruck unserer Verschiedenheit.
 
Das gerade aktuelle Rekalino-Programm für die Kinder war mit dem Thema „Spuren“ überschrieben. Kinder in der Gruppe ab 6 Jahren haben sich darüber Gedanken gemacht. Welche Spuren hinterlassen Menschen, welche Tiere?
 
Abfall auf Strassen, Streifen am Himmel, Schmutz in der Luft, der Kuhfladen auf der Wiese und überall, wo wir nicht aufräumen, nicht sauber sind. Andererseits sind die kleinen Kunstwerke, die Kinder manchmal herstellen, Spuren ihrer Entwicklung, die wir erst später deuten können.
 
Wie ich verstand, wurden auch Steine spielerisch ausgelegt, um den Weg, der gegangen worden ist, später wieder zu finden. Dafür sind Ferien auch da, dass wir Zeit haben, solche Erfahrungen zu machen. Die Hast ablegen und in scheinbar unwichtigem Tun den Sinn zu finden oder sogar dem Geist von Albonago zu begegnen.
 
Frau Schmid sagte mir, sie habe 2 Wege vor sich gesehen, ihren Beruf als Sozialpädagogin auszuüben: In einem Heim, als „Feuerwehrfrau“ oder als Therapeutin, die Erfahrungen und Werte vermitteln und vorbeugen will, dass die „Feuerwehr“ gar nicht gerufen werden muss. Diesen hat sie gewählt.
 
Hinweise

Samstag, 22. August 2009

Die Anrufe aus den Call-Zentren nenne ich „Telefon-Terror“

Ich bin vorbelastet, habe kein Vertrauen in Angebote an der Haustür oder am Telefon. In meiner Jugend sah ich zu viele unseriöse Hausierer, die Frauen und Männern unnötige Dinge aufgeschwatzt haben.
 
Heute sind Haustürvertreter seltener anzutreffen, aber die Telefonanrufe aus den Call-Zentren nehmen zu. Und sie stören. Sie unterbrechen oftmals knifflige Arbeitsprozesse im ungünstigsten Augenblick. Und sie sind lästig, weil sie Angebote machen, ohne dass diese erwünscht sind. Ich kaufe nichts, das mir am Telefon von unbekannten Menschen angeboten wird. Es muss mir auch niemand ein Bedürfnis weismachen. Wenn ich etwas brauche, suche ich danach und zwar unabhängig und selbstständig.
 
Im vergangenen Juli 2009, als wir die an die Werkstatt gerichteten Telefonanrufe mit Service 21 nach Hause umleiteten, gab es keinen Tag ohne diese unerwünschten Angebote.
 
Wegen meinem italienischen Familien-Namen wurde ich mehrmals in der Du-Form begrüsst: „Tu sei Rita?" (Du bist Rita?), offenbar um sofort ein kollegiales Klima zu schaffen und Bekanntschaft vorzutäuschen. In diesem Fall erreichte die Anrufende das Gegenteil. „Ich cha nüd Italienisch!“ (Ich spreche nicht Italienisch), so meine etwas barsche Reaktion. Sofort wurde das Telefon beendet.
 
Ein andermal rief ein Mann mit demselben italienischen Gruss an und schaltete sofort auf Hochdeutsch um, als ich im Dialekt antwortete. Aussergewöhnlich höflich, ohne dass es aufgesetzt wirkte.
 
Er wolle Herrn Lorenzetti sprechen. Der sei im Ausland. Um was es gehe? Ich sei die Ehefrau. Er könne ihm attraktive Krankenkassenprämien vermitteln und möchte deshalb einen Berater zu ihm schicken. Er nannte einen bekannten Namen. Aber wir seien doch schon jahrelang Mitglied exakt bei dieser Krankenkasse. Das sehe er eben nicht (auf seinem Bildschirm).
 
Und zudem sei ich für diese Sparte zuständig. „Ah, Sie sind der Finanzminister!“ wollte er auch noch wissen. So sei es. Ob wir denn mit den Versicherungsleistungen zufrieden seien. Das könne ich nicht beantworten, denn wir hätten noch keine grossen Leistungen gebraucht, keine Operationskosten, keinen Spitalaufenthalt. Zudem seien wir 70- und 71-jährig. Da lasse man sich nicht mehr auf Experimente ein. Klipp und klar sagte ich abschliessend: „Es gibt hier nichts zu ändern.“
 
Nachdem er uns zu unserer Gesundheit noch gratuliert hatte, wollte er wissen, wann denn mein Mann wieder in der Werkstatt anzutreffen sei. In ungefähr 2 Wochen. „Gut! Ich werde danach bei ihm anrufen und mit ihm sprechen.“
 
„Und dann" fuhr ich weiter, „wird er zu Ihnen sagen: Fragen sie meine Frau! Dafür ist sie zuständig.“
 
Er hat nicht mehr angerufen.
 
Obwohl das Gespräch sehr freundlich verlief, störte es mich doch extrem, dass nur der Familienvater für die Versicherungen zuständig sein soll.
 
Ich nahm mir vor, kein Gespräch mehr ausufern zu lassen und gleich zu Beginn klipp und klar zu sagen: „Ich gehe auf keine Telefon-Angebote ein. Wir müssen das Gespräch beenden. Adiö!“

Donnerstag, 6. August 2009

Französischkurs: Mit den Enkelkindern Zeit verbringen

Nora ist die zweitgeborene Enkelin. Eine vife Person, mit der ich mich gut verstehe. Aber manchmal mache ich einen Fehler. Ich nenne sie "Mena". Mena ist aber ihre 4 Jahre ältere Schwester. Auch ihrer Mutter passiere das manchmal, dass sie den falschen Namen ausspreche. Dann antwortet Nora souverän. Sie korrigiert wie eine gute Lehrerin. Sachlich weist sie auf den Irrtum hin und arbeitet jeweils weiter an der Sache, mit der sie sich gerade beschäftigt. Ohne aufzuschauen und uns anzuschauen, ohne zu reklamieren. Nora ist 3-jährig.
 
Sie spricht französisch, ohne jedoch schon Sätze perfekt formulieren zu können. Die Korrektur tönt dann so: „Mena: Anna Sophia, c'est Nora, c'est moi.“
 
Sie will sagen: Mena sei bei Anna und Sophia in den Ferien und die da spreche, sei Nora, c'est moi. (Das bin ich.)
 
Als wir das erstmals hörten, waren wir verblüfft und begeistert zugleich. Wiederholungen hat es gegeben. Sie verliefen jedesmal in gleich ruhiger Art. Und jedesmal freute ich mich, wie sich das Kind den eigenen Platz sichert.
 
Für mich ist es spannend zu erleben, wie sich die Sprache entwickelt, wie sich kleine Kinder ausdrücken und wie wir einander verstehen. Nora spricht grundsätzlich auf französischer Basis. Das ist die Umgangssprache in ihrem „Atelier“, einer betreuten Spielgruppe in Paris. Schweizerdeutsch hört sie von ihrer Mama. Während dem Aufenthalt bei uns Grosseltern fing sie zusätzliche schweizerdeutsche Begriffe auf und benützte sie an passender Stelle.
 
Einmal gingen wir miteinander einkaufen. Auf dem Weg schauten wir Bauarbeitern zu, wie sie Erde umgruben und im Bagger wegführten Ich erklärte dem Kind, hier werde eine Schule gebaut. Sie konnte das verstehen. Ich redete Schweizerdeutsch, und sie antwortete auf Französisch.
 
Das Wort Erde faszinierte sie. Sie nahm es in den Wortschatz auf. „Ärchde“, tönte es aus ihrer Kehle. Sie genoss den Klang dieses Worts, sprach es mehrmals aus und formatierte wohl damit ihren Hals für die schweizerdeutsche Sprache. Zu Hause dann berichtete sie der Mama von dieser Ärchde und vom Bagger, dem sie den Namen „camion-pelle“ gab. „pelle“ ist ihre kleine Schaufel, mit der sie im Sand spielen kann. Die Kombination der Schaufel mit dem Camion ist eine echte Wortschöpfung. Ich kann nur staunen.
 
Lachen kann ich über ihre Antwort, wenn sie ein Angebot ausschlägt: „Pas d'envie!“ (Keine Lust!), ebenso, wenn sie etwas holen muss und verhindern will, dass ich mich vom eingenommenen Platz entferne. Da heisst es dann in ganz ungelenkem Französisch: „Grosy attend 5 minutes, moi." Ich (Grosy = Grossmutter) solle 5 Minuten auf sie warten.
 
Weniger salonfähig ist der Ausdruck „pousse-toi!“ (hau ab!), wenn sie sich wehren muss. Der Existenzkampf beginnt schon früh.
 
An einem weiteren Tag sass ich mit Nora auf einer Steinbank vor dem Lebensmittelladen. Wir assen ein kleines Gebäck und beobachteten einen Hund, der angebunden auf seine Meisterin wartete. Er winselte, jammerte, war ungeduldig. Lange schauten wir ihm zu, wie er Angst hatte, total allein gelassen zu werden. Nora nahm Anteil an diesem Wesen, fühlte mit ihm.
 
Da unterbrach eine alte Frau, vermutlich aus Ex-Jugoslawien, unsere Beobachtung und sprach mich an. Auch sie habe sich um Enkel gekümmert, viel Zeit aufgewendet, mit ihnen alles geteilt, sie manches gelehrt, wie ich das eben auch mache und heute ....? ... sei sie nur noch die dumme Grossmutter. Dann ging sie weiter, schaute nicht mehr zurück. Wie traurig für sie.
 
Wenn ihre Enkel gerade in der Pubertät sind, sei ihnen verziehen. Wenn sie aber alles Gute verkennen, das ihnen diese mütterliche Frau geschenkt hat, dann sind sie zu bedauern.
 
Am besten, wir erwarten keinen Dank. Dann können wir nicht enttäuscht werden. Und wenn wir's genau überlegen, ist der Dank doch inbegriffen, wenn wir miterleben dürfen, wie Entfaltung geschieht. Manchmal leise, beinahe unbemerkt und doch stetig und plötzlich Überraschung auslösen kann.

Mittwoch, 29. Juli 2009

Manchmal werden Altstadt-Spaziergänge zu Begegnungen

Vergangene Woche holte ich am Empfang einer grossen Unternehmung eine Arbeit für unsere Werkstatt ab. Während ich wartete, bis sie mir ausgehändigt wurde, schaute ich mich im gepflegten Eingangsbereich etwas um. Es war halb 9 Uhr am Morgen. Noch bevor die Angestellten nach und nach eintrafen, erschien ein Chef, den ich vage kannte. Er kontrollierte diesen Ort. Ein Paket, an die Seitenwand der Theke angelehnt, störte ihn. „Was steht hier herum?" fragte er ungeduldig. Es werde in einer Stunde abgeholt, informierte die Telefonistin.
 
Nur wegen der gereizten Stimme schaute ich diesen offensichtlich pedantischen Mann näher an. Er war fein und gleichzeitig originell gekleidet. Und doch störte etwas an ihm. Er trug ungeschnürte, hellgelbe Turnschuhe.
 
Gerne hätte ich zu ihm gesagt, bevor er eine freundliche Angestellte barsch anfahre, sollte er doch zuerst seine Schuhe binden. Wer Perfektion fordere, sollte sie auch vorleben. Da wäre ich aber schön in eine Falle getappt.
 
Tags darauf bin ich in einem Modemagazin auf einen ähnlichen Turnschuh gestossen. Wieder ohne Schuhbändel. Die Zunge vermutlich fest verleimt. Später klärte mich unsere Tochter Letizia darüber auf, es handle sich um den beliebten Turnschuh aus den 1980er-Jahren, der nur leicht verändert ein Revival erfahren habe. Und jetzt ein „Must-have“ geworden sei.
 
Eine Woche später schlendere ich mit Primo durch die Altstadt. Im Oberdorf ziehen mich wieder Turnschuhe in ihren Bann. In einem Schuhgeschäft sind sie so variantenreich und in vielen Farben vorhanden, dass sie 2 grosse Schaufenster füllen. Später wundere ich mich selbst, dass ich mit diesem „absoluten Schuhtrend“ in Berührung gekommen bin. So erzähle ich meinem Ehemann, vor den Auslagen stehend, die oben beschriebene Geschichte. Hier konnte ich ihm drei Modelle zeigen, die ohne Schnürsenkel auskommen.
 
In dieser Zeit beobachteten uns 2 Männer, die vom Alter her unsere Söhne sein könnten. Plötzlich standen sie neben uns und erkundigten sich, was der Grund unseres Interesses sei? Der zum Schlupfschuh gewordene Turnschuh. Keine Ahnung. Sie kannten die Neuauflage des beliebten Turnschuhs aus den 80er-Jahren nicht. Obwohl jetzt absoluter Schuhtrend. Als ich davon redete, war ich von dieser Mutation schon so begeistert, dass mein Hinweis wie Reklame wirkte. Meiner Natur entspricht eben ein Schuh, der keine besondere Zuwendung verlangt, also schnell angezogen ist. Damit erkläre ich den Männern mein Interesse.
 
Sie lachten verschmitzt über sich, weil sie uns falsch eingeschätzt hatten und nicht glauben konnten, dass Männer oder Frauen aus ihrer Elterngeneration auch noch Interesse an Mode, Veränderungen und Neuerungen hätten. Sie waren verblüfft, dass wir auf einen Modetrend hinweisen konnten. (Letizia sei Dank.) Sie erwarteten, dass wir Turnschuhe ablehnten, allem Neuen gegenüber skeptisch seien und wollten uns belehren. Unsere Antworten machten sie eine Weile sprachlos.
 
Einer der Männer hat in einem Call-Center gearbeitet und stellt offensichtlich immer noch gerne Fragen. Er wollte unser Alter wissen, ob wir ein Paar seien und wie lange wir schon zusammen lebten. 47 Jahre. Oh! ... Nach dieser Antwort wollte er auch noch wissen, wie man eine gute Partnerschaft gestalte. Ihm sei es noch nicht gelungen. Dann wurde auch noch gefragt, ob wir einen Computer hätten, und als ich auf unsere Homepage www.lorenzetti.ch hinwies, war die Verblüffung komplett.
 
Vermutlich standen wir mit diesen Männern eine halbe Stunde zusammen und fühlten uns danach fröhlicher als vordem, auf eine Art erfrischt. Ihnen mag es ähnlich ergangen sein. Wir gaben einander unsere www-Adressen und werden vielleicht wieder einmal voneinander hören.
 
Uns beiden ist gemeinsam, dass wir eine Situation zuerst komplett falsch einschätzten und die Korrektur lachend annehmen konnten.

Freitag, 17. Juli 2009

Ferienzeit: Die Kinder können nun ihre Träume ausleben

Schulferienzeit. Es ist still geworden in meiner Umgebung. Das Kinderlachen verstummt. Die Schaukel im Umfeld des Nachbarhauses verwaist. Die Schulhäuser geschlossen. Aus unserem Quartier mit seinem hohen Ausländeranteil werden viele Familien in ihre Heimatländer gereist sein. Hier fühlt es sich momentan wie in einem Bergdorf an.
 
Und es regnet. Die Temperaturen sind zurückgegangen. Mit dem Gedanken an die Bergdörfer frage ich mich, wie es sich jetzt für Pfadfinder in Zeltlagern anfühle und wie die Schlechtwetter-Programme aussehen.
 
Solche Gedanken führen mich in jene Zeiten zurück, als die Töchter noch zur Primarschule gingen und wir Eltern für sinnvolle Ferien verantwortlich waren. Und ihre eigenen Initiativen unterstützten.
 
In einem trockenen Sommer, als die Limmat wenig Wasser führte, bauten sie, zusammen mit befreundeten Kindern, eine Ruinenstadt. Sie schichteten am ausgetrockneten Flussrand Grundrisse von Häusern auf. Jedes Kind nahm sich seinen Bereich und grenzte ihn mit Steinen aus dem Flussbett ab. Darin wurde gewohnt, gespielt, gegessen und einander besucht. Und draussen dienten Rindenstücke, Teile von Ästen und Blättern als Schiffe, die die Limmat mit auf ihre Reise nahm. Es war ungefährlich. Die Kinder vergnügten sich tagelang. Viele Jahre, auch nachdem der Fluss zeitweise zu einem reissenden Strom geworden war, suchten wir nach Zeugen jener Zeit. Erstaunlich lange konnten wir sie noch finden. Das war auch ein Ziel. Die Kinder hofften, dass Archäologen diesen Ort einmal fänden und ihn als Römersiedlung interpretierten.
 
Erstaunlich auch, dass unser zukünftiger Schwiegersohn dieses Thema schon beim ersten Besuch bei uns im Bernoulli ansprach und sich wünschte, den Ort (am Fischerweg in Zürich) zu sehen.
 
Die Schulkameradin Jasmin und ihr kleiner Bruder kamen auch einmal zu Besuch in diese Ruinenstadt. Dem Kleinen gefiel es nicht. Es störte ihn vermutlich, dass sich seine Schwester nicht mehr nur ihm widmete. So deutete ich seine Reaktion. Unmutig riss er in Felicitas Wohnung einen „Zoccolo" (Holzschuh aus der Südschweiz) an sich und warf ihn ins Wasser. Dort schwamm das Raubstück wie ein kleinens Dampfschiff davon. Als Jasmins Mutter davon erfuhr, meldete sie sich und bot Ersatz an. Felicitas durfte mit ihr in die Stadt fahren und bekam dort das neueste Holzschuhmodell aus Schweden. Wunderschön, grün, noch nie gesehen. Die 6 Jahre jüngere Letizia staunte und sagte freimütig: „Hoffentlich wirft mir Robert meine Zoccoli auch noch ins Wasser."
 
Ein andermal wurde in unserem Garten ein Zirkuszelt eingerichtet. Leintücher wurden aufgespannt. Es wurde ein Programm ausgedacht, ein Programmheft gestaltet und Kunst- und Zauberstücke trainiert. Unglaublich, wie Kinder sich vielen Details widmen, wenn sie sich selbst ein Ziel gesetzt haben. Das Programmheft gibt es heute noch. Ich hatte es aufbewahrt und konnte es nun zurückgeben. All die Vorarbeiten waren vermutlich viel intensiver als die Aufführung selbst.
 
Einmal, zu Beginn der Ferienzeit, schlug ich vor, dass wir in unserem Garten ein kleines Restaurant führen könnten. Sofort waren die Mädchen begeistert. Wir brauchten ein Restaurant-Schild mit der Aufschrift „Gasthaus zur Sonne" und eine vornehme Speisekarte mit dem Tagesmenu. Es gab viel zu schreiben, zu malen und zu dekorieren. Und ein schönes Tischtuch war auch gefragt. Der Erfolg war viel grösser als erwartet. Ausgelöst auch durch das italienisch temperierte Hallo von Primo, als er zum Essen nach Hause kam. Sofort liess er die Rolle als Familienvater fallen und liess sich als Gast in einem guten Haus beraten und bedienen. Nachbarn hatten uns schon lange beobachtet und klopften nach dem Mittagessen an unser Gartentor. Das markierte Gasthaus wirkte einladend. Sie kamen, wünschten Kaffee, plauderten, hatten Zeit und genossen diese Abwechslung. Das Servierpersonal aber war müde. Als dann alle Gäste weggegangen waren, atmeten die Mädchen auf. Aber gerade als sie die Wirtshaustafel abhängen wollten, kam noch Johann Buob daher. Der letzte Bauer vom Förrlibuck. Auch er ein willkommener Gast, vor allen für mich. Noch heute freue ich mich, dass er uns besucht hat. Bedächtig gehend, kam er an unseren Tisch und bestellte, augenzwinkernd, ein geistiges Wasser. Den Kirsch füllte ich für ihn in das kleine chinesische Trinkgefäss, das zu trillern anfängt, sobald getrunken wird. Das kannte er noch nicht. Es gefiel ihm, uns mit diesem Vogelgesang zu unterhalten und liess sich gerne mehrmals einschenken.
 
Die Kinder waren in der Zwischenzeit verschwunden, überliessen mir das Geschäft. Es sei sehr anstrengend gewesen.
 
In der Erinnerung sehe ich Herrn Buob auf seinen Stock gestützt, langsam heimwärts gehen und dann entschwinden. Gerade so, wie es meine Geschichten jetzt auch tun. Sie gehen dorthin zurück, wo sie gut aufgehoben sind.

Dienstag, 7. Juli 2009

Ausflug mit Frauen: Die Wallfahrt zu Orten am Jakobsweg

Die Jakobsmuschel ist überall gut bekannt. Feinschmecker lieben diese Meeresfrucht, und Wallfahrer schätzen ihr Symbol als Wegweiser auf dem Weg nach Santiago de Compostela (wikipedia.org/wiki/Jakobus_der_Ältere).
 
Ich freue mich immer, wenn ich dieses Zeichen an Wegkreuzungen erblicke. Dieser Pilgerweg, der vielen Menschen hilft, zu sich selbst zu finden, ist mir sympathisch. Einzelne Wegstücke innerhalb der Schweiz habe ich selber auch begangen, nach Santiago de Compostela bin ich allerdings noch nicht gekommen.
 
Auch unsere rutschfeste Plastikmatte im Badezimmer trägt die Jakobsmuschel. Wenn ich auf dieses plastische Symbol stehe, drücke ich es auf den Boden und verhindere, dass ich ausrutsche. Warum diese Matte mit der Jakobsmuschel geschmückt ist, weiss ich nicht. Vielleicht wegen des Bezugs zum Wasser, in dem sich die Muschel entwickelt. Vielleicht war sie als Mitbringsel von Santiago geschaffen. Gekauft habe ich sie in einem Ramschwarengeschäft. Sie hat mir gefallen, weil sie farblich keine dominante Rolle spielen will und mir dienen kann. Seit letztem Donnerstag spricht sie mich jetzt anders an. Sie erinnert mich an eine schöne Ausfahrt nach Beuron und Bärenthal-Gnadenweiler. Auch Orte am Jakobsweg.
 
Eingeladen von meiner Freundin und im Gefolge einer Frauengruppe führte die Reise ins deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Mütter und vermutlich auch Grossmütter schenkten sich einen freien Tag. Auch ich schob für diesen alle Aufgaben und Arbeiten zur Seite und genoss es, dass andere Weg und Ziel schon definiert hatten. Auf mir lastete diesmal keine Verantwortung. Tapetenwechsel. So nannten wir früher einen Ausflug. Das eigene Umfeld wurde zugunsten von unbekannten Orten, Räumen und fremder Architektur einfach für eine Weile ausgeklinkt.
 
Die Fahrt im Bus wurde am Rheinfall in Neuhausen (Kanton Schaffhausen) unterbrochen. Wir trafen am frühen Morgen ein. Es war noch ruhig. Touristenströme kamen später an. Die Morgensonne leuchtete gerade in die schäumenden und tosenden Wasser hinein und verpassten dem grössten Wasserfall von Europa eine glitzernde Aura. Von meinem Sitzplatz auf der Terrasse konnte ich beobachten, wie der breite Strom aus seinem Bett heraus- und herunterstürzte. Von einem Menschen würde ich sagen, dass er ahnungslos dahergekommen sei. Die Wassermassen schienen ihren Spass zu haben. Das träge Dahinfliessen wurde, einem Spektakel gleich, für eine Weile unterbrochen.
 
Beuron D fuhren wir über die Schwäbische Alb an. Eine der Organisatorinnen ist mit diesem reizvollen und unverdorbenen Landstrich familiär verbunden; darum konnte sie den Chauffeur unseres Autocars dazu bewegen, die Route über diese Alb zu benützen. Die Fahrt hinab ins Tal beeindruckte ebenso. Am meisten, als wir der jungen und lieblichen Donau begegneten und mit Abstand die Wucht des Felsgesteins, aus dem wir eben herunter- und herausgekommen waren, sahen. Für mich hat dieser Ort Ähnlichkeit mit der Doubs-Landschaft in der Schweiz, angrenzend an Frankreich. An beiden Orten markieren Juragesteinswände mit bizzaren Formen ein Tal. Und hier stehen auf besonders markanten Felsen wuchtige Burgen und Schlösser.
 
Zur Mittagszeit trafen wir in Beuron ein. Ein geschichtsträchtiger Ort mit imposanter Klosteranlage. Mir war bis anhin nur der Beuroner Kunstverlag, vor allem wegen seiner Kunstkarten und Kunstbücher, bekannt. 
 
Besuch der Wallfahrtskirche. Für uns gab es keine Führung und auch keinen Gottesdienst. Einfach etwas verweilen war angesagt. Jahreszahlen und architektonische Zuordnungen vergesse ich ohnehin schnell wieder. Aber dasein und einen spiritueller Raum auf sich wirken lassen, das ist gut.
 
Ein feines und leichtes Mahl erwartete uns im Gäste- und Tagungshaus „Maria Trost“, das ebenfalls auf eine lange Vergangenheit zurückblicken kann. Herr Peter Zimmermann, der mit seiner Frau zusammen dieses Haus führt, erzählte uns sehr eindrücklich aus deren Geschichte und verriet uns etwas von seinem persönlichen Engagement, dieses zu erhalten und weiterzuführen.
 
Mit fühlbarer Hochachtung und Respekt wies er auf Besuche von Edith Stein hin, die sich in Beuron und explizit auch in diesem Haus wohl fühlte. Die Strasse, an der das Gasthaus steht, trägt ihren Namen. Und eine Gedenktafel hält ihr Andenken wach. (Edith Stein: Philosophin, katholische Nonne jüdischer Herkunft. In Auschwitz ermordet. Wurde von der katholischen Kirche heiliggesprochen.)
 
Das eigentliche Ziel unserer Reise signalisierte uns in Gnadenweiler ein luftiger Fahnenwald in gebührendem Abstand zum Heiligtum „Maria, Mutter Europas“, das vor kurzem erschaffen und 2008 eingeweiht worden ist. Noch jung und doch schon von voller Ausstrahlung. Ein lichtdurchfluteter Bau, der Innen und Aussen verbindet. Ein aus den Schriften des alten und neuen Testaments gültig übersetztes Bauwerk für die Menschen von heute. Ein Zeichen in der Landschaft zu Ehren Europas.
 
Bilder, die im Internet zur Verfügung stehen, vermitteln mir die wahre Ausstrahlung dieses Orts nicht ganz so, wie ich sie gesehen und gefühlt habe. Sie ist grösser. Landschaft, Architektur und Glaube sind an diesem Ort vereint. Und die barocke Marienfigur aus der „alpenländischen Schweiz“ verbindet alle hier anzutreffende Detailtreue theologischer Aussagen und wandelt sie zu einem lebendigen Heiligtum.
 
Mir persönlich sind die weiblichen und mütterlichen Elemente in der Religion wichtig, weil sie sich um das echte Leben sorgen.
 
Dieser Beitrag ist mit vielen Links versehen. Die Reise soll für Leserinnen und Leser nachvollziehbar werden. Mein Bericht soll Unaussprechbares nicht zerreden. In diesem Sinne hat es mir entsprochen, dass alle Orte, die wir besuchten, nicht mit tausend Worten übergossen worden sind.
Ein Buch zum Thema
Hinweis auf einen kleinen, grafisch ansprechenden Bildband, der alle Grundlagen und das Werk selbst beleuchtet. Fotos und Texte: P. Notker Hiegl: „Maria, Mutter Europas“, ISBN 978-3-87071-183-2.

Dienstag, 16. Juni 2009

Wie nennt man es: Glück, Fügung oder sogar Wunder?

Primo hat im letzten Augenblick einen Ersatz-Werkstattplatz gefunden. Es gab mir schon zu denken. Ausgerechnet das Umfeld, das ich im Blog über die Fahrt nach Fluntern abwertend beschrieb, gehört nun zur Umgebung der neuen Werkstatt. Zuerst dachte ich ans Sprichwort vom Teufel, der auch Fliegen fresse, wenn er nichts Besseres finde. Dann aber stellte es sich heraus, dass der neue Arbeitsplatz nicht von der Hardbrücke erschüttert wird und dass uns die Pfingstweidstrasse nicht zu nahe kommt.
 
Kurz bevor wir die Hoffnung auf eine Ersatz-Werkstatt wohl aufgegeben hätten, verstand Ueli Schenk von der Schreinerei Schenk GmbH unser Anliegen und lud Primo ein, sich einen Arbeitsplatz bei ihm einzurichten. Er arbeitet in den ehemaligen Stallungen von Welti-Furrer, als dieser noch eine Fuhrhalterei betrieb. So kommen wir jetzt wieder auf den Boden des Stadtkreises 5 zurück, auf dem wir aufgewachsen sind.
 
Noch diese Woche werden wir uns vom Atelier an der Müllerstrasse verabschieden. Dann können die Bagger auffahren und das alte Haus mit seiner über 100-jährigen Handwerksgeschichte abbrechen.
 
Mit grossem Interesse wende ich mich jetzt dem neuen Ort zu, schleiche wie ein Hund um die Gebäude, schnuppere, fotografiere, suche Übersicht innerhalb der verschachtelten Bauten. Ich freunde mich mit diesen alten Gebäuden an, suche nach Spuren ihrer Geschichte.
 
An einem fix verschlossenen Stalltor fand ich einen Hinweis auf Welti-Furrer, der mich berührte:
 
„Gegründet 18381988, 150 Jahre Welti Furrer, Stallungen 19251963.“
 
Welti Furrer war und ist für Zürich und auch international ein Begriff. Der Firmengründer Jakob Furrer figuriert denn auch auf der Liste „Persönlichkeiten der Schweiz“ in der Rubrik „Berühmte Schweizer Unternehmer und Firmengründer seit 1150“. Die Fuhrhalterei entstand schon 1838.
 
 
 
Ich kann mich gut an die Plakate dieses Unternehmens erinnern. Auf dem Schulweg gab es eine niedrig angebrachte Plakatwand beim Tramdepot Escher Wyss. Da sahen wir die Bilder auf Augenhöhe, und diese prägten sich ein. Ganz besonders in Erinnerung ist jenes virtuos gemalte Bild mit 2 trabenden Fuhrwerkpferden. Dass es nach Jahrzehnten nochmals aufgehängt wurde, war vielleicht ein Abschiedsgeschenk an die Bevölkerung von Zürich, als das Unternehmen 1993 in andere Hände überging.
 
Jetzt haben wir noch eine grosse Aufgabe vor uns. Die Gestaltung der Umzugsanzeige mit den Anfahrtswegen aus allen Himmelsrichtungen inkl. öffentlichem Verkehr.
 
Für unsere neue Adresse sind die Beschilderungen dürftig. Es fehlt mir das offizielle Haus-Nummernschild. Dann habe ich erfolglos nach dem Strassenschild „Pfingstweidstrasse“ gesucht. Nach meiner Auffassung sollten an jeder grösseren Kreuzung die wegführenden Strassen beschriftet sein. Das ist hier nicht der Fall. Wohl ist das Parkhaus mit „Pfingstweid“ beschriftet, aber der Fussgänger kann sich nirgends orientieren. Seit dem 9. Juni 2009 herrscht zudem Baustellen-Verkehr. Die Pfingstweidstrasse, eine städtische Expressstrasse, wird um- und eine neue Tramlinie eingebaut. Entfernt wurde eine schützende Insel in der Mitte des Fussgängerstreifens. Und mit ihr verschwand die auf einer Metallstange platzierte offizielle Strassentafel „Pfingstweidstrasse“.
 
Gestern habe ich bei Herrn Schenk am Fenster seiner Werkstatt die Nummer „23“ entdeckt. In grossen Lettern, sauber und frisch. Sie sprach mich von weit her an. Er muss beobachtet haben, wie ich nach Orientierungsmöglichkeiten suchte. Ich hatte ihn auch darauf angesprochen. So ist das in den Industriebrachen. Die vorherige Ordnung zerfällt. Da heisst es für uns: Hilf dir selbst.
 
Die Pfingstweidstrasse als solche ist für Autofahrer gut bekannt. Auch das Parkhaus trägt, wie erwähnt, diesen Namen. Und von Johann Buob (geb. 1893), dem letzten Bauern im Stadtkreis 5 unterhalb des Escher-Wyss-Platzes, weiss ich, woher sich dieser Name ableitet. Man nannte die Wiese so, weil die Kühe zu Pfingsten dorthin auf die Weide getrieben wurden.
 
Von Weiden sehe ich hier keine Spuren mehr. Auch das Schrebergartenareal, das an die Geroldstrasse anlehnte, ist zur Baustelle geworden.
 
Uns gegenüber, im Maag-Areal, befindet sich die mittlerweile berühmte Fabrikhalle, die als Music- und Eventhall benützt wird und vielleicht stehen bleibt. Andere Gebäude auf diesem Terrain wurden schon abgebrochen, damit der Prime Tower heranwachsen kann. Hier befindet sich vermutlich die verrückteste Baustelle von Zürich.
 
Sterbe- und Werdeprozesse auch im Toni-Areal (vormals: Milchverarbeitungszentrale) im Förrlibuck. Dort soll ein Hochschul-Campus für ungefähr 5000 Studierende entstehen.
 
Und wir in den alten Stallungen, was blüht uns noch? Wird das Welti-Furrer-Areal eines Tages vielleicht in den Bereich der schützenswerten Bauten aufgenommen? Das könnte ich mir vorstellen. Was würde das für uns wohl heissen? Das grosse Hauptgebäude, eine Art vornehmer Fabrikbau, und die im rechten Winkel zurückversetzten Stallungen sind eine Einheit, haben Stil und erzählen Geschichte. Auch das Logo an der Fassade von Welti-Furrer, das geflügelte „W“ ist ein Unikat und steht für Qualität.
 
Mein Bruder Georg, einiges jünger als ich und mit einem Zukunftsblick ausgestattet, der ihm meist Recht gibt, hat begeistert reagiert, als er von unserem Glück erfuhr. Das sei ja total „Metropolitan aera“. Dieser neue Platz müsse man definitiv in die Kategorie „Smarter West End Schreinerei Lifestyle“ einordnen. Primo werde wohl in Kürze nach China und Russland liefern, wenn die Touristen bei der Lorenzetti-Schenk(e) landeten ...
 
Das sind Aussichten ... In erster Linie aber geteilte Freude. Noch ist es nicht so weit, dass Zürich mit seinen Towers grossstädtisch brillieren kann. Wir freuen uns im Moment hauptsächlich darüber, dass uns ein neuer Werkplatz zugefallen ist. Alles Weitere nehmen wir „vorzuä“ (eins nach dem andern).
 

Montag, 1. Juni 2009

Leben mit dem Abreisskalender, der auf mich wartete

Schon am Neujahrsabend nahm ich mir vor, die Geschichte vom Weisheitskalender aus dem Diderichs-Verlag eines Tages zu erzählen.
 
Ich fand ihn am 01.01.2009 in einer der Bücherkisten vor der Buchhandlung Barth im Zürcher Hauptbahnhof. Er war abgegriffen, die ersten Blätter wellten sich schon. Das Deckblatt schmuddelig. Ich erinnerte mich aber, dass auch ich dieses Ansichtsexemplar schon einmal in Händen hatte. Mangels grösserer Auswahl legte ich es Anfang Dezember wieder zurück und vergass dieses Thema.
 
Jetzt sah der Kalender erbärmlich und unappetitlich aus. Ich sah aber sofort, dass die schmutzigen Blätter nach etwa 3 Wochen abgezogen seien und dass ich seinen Rücken mit einem frischen Deckpapier renovieren könne. Es war höchste Zeit, einen Kalender zu kaufen. Eine Frau beobachtete mich und riet mir, im Laden um einen guten Preis zu feilschen.
 
Das war nicht nötig. Es genügte zu fragen, was dieser noch koste. Die Buchhändlerin offerierte ihn für drei Franken. Es sei das letzte verfügbare Exemplar. Ihr sichtbares Mitgefühl diesem strapazierten Stück gegenüber gefiel mir. Das war ja ein Geschenk.
 
Es bewahrheitete sich wieder einmal, dass das Äussere nicht auf das Innere schliessen muss. Auch die verschmutzten Blätter von Anfang Januar trugen wertvolle Gedanken vom Dalai Lama auf sich. Viele der Blätter mit seinen Weisheiten bewahre ich in einer schönen Schachtel auf. Vorher liegen sie gewisse Zeit auf meinem Schreibtisch. Solange, bis ich die Essenz verinnerlicht habe.
 
Vielleicht gelingt es mir eines Tages selbst, Aussagen aus meiner Lebenserfahrung auf einen Punkt zu bringen. Ich könnte versuchen, jeden Abend einen Satz zu notieren, der eine ganz persönliche Einsicht zusammenfasst. Die Idee schliesst an eine Kurserfahrung an. Während der Ausbildung im Seminar für Freiwillige im sozialen Bereich standen uns in der letzten Kursstunde immer die letzten 10 Minuten zur Verfügung, um Notizen zu machen. In diesem schmalen Zeitraum entstanden gute Zusammenfassungen, kurze, dichte Texte. Das Wichtigste des Tages hatte sich noch nicht mit früherem Wissen verschmolzen. Es lag obenauf und konnte leicht benannt werden.
 
Weil ich heute noch keinen „Eigenbrand“ vorsetzen kann, zitiere ich zum Abschluss den Dalai-Lama-Kalendertext von gestern: „Das Leben zwingt uns dazu, uns so kennen zu lernen, wie wir wirklich sind.“