Donnerstag, 6. August 2009

Französischkurs: Mit den Enkelkindern Zeit verbringen

Nora ist die zweitgeborene Enkelin. Eine vife Person, mit der ich mich gut verstehe. Aber manchmal mache ich einen Fehler. Ich nenne sie "Mena". Mena ist aber ihre 4 Jahre ältere Schwester. Auch ihrer Mutter passiere das manchmal, dass sie den falschen Namen ausspreche. Dann antwortet Nora souverän. Sie korrigiert wie eine gute Lehrerin. Sachlich weist sie auf den Irrtum hin und arbeitet jeweils weiter an der Sache, mit der sie sich gerade beschäftigt. Ohne aufzuschauen und uns anzuschauen, ohne zu reklamieren. Nora ist 3-jährig.
 
Sie spricht französisch, ohne jedoch schon Sätze perfekt formulieren zu können. Die Korrektur tönt dann so: „Mena: Anna Sophia, c'est Nora, c'est moi.“
 
Sie will sagen: Mena sei bei Anna und Sophia in den Ferien und die da spreche, sei Nora, c'est moi. (Das bin ich.)
 
Als wir das erstmals hörten, waren wir verblüfft und begeistert zugleich. Wiederholungen hat es gegeben. Sie verliefen jedesmal in gleich ruhiger Art. Und jedesmal freute ich mich, wie sich das Kind den eigenen Platz sichert.
 
Für mich ist es spannend zu erleben, wie sich die Sprache entwickelt, wie sich kleine Kinder ausdrücken und wie wir einander verstehen. Nora spricht grundsätzlich auf französischer Basis. Das ist die Umgangssprache in ihrem „Atelier“, einer betreuten Spielgruppe in Paris. Schweizerdeutsch hört sie von ihrer Mama. Während dem Aufenthalt bei uns Grosseltern fing sie zusätzliche schweizerdeutsche Begriffe auf und benützte sie an passender Stelle.
 
Einmal gingen wir miteinander einkaufen. Auf dem Weg schauten wir Bauarbeitern zu, wie sie Erde umgruben und im Bagger wegführten Ich erklärte dem Kind, hier werde eine Schule gebaut. Sie konnte das verstehen. Ich redete Schweizerdeutsch, und sie antwortete auf Französisch.
 
Das Wort Erde faszinierte sie. Sie nahm es in den Wortschatz auf. „Ärchde“, tönte es aus ihrer Kehle. Sie genoss den Klang dieses Worts, sprach es mehrmals aus und formatierte wohl damit ihren Hals für die schweizerdeutsche Sprache. Zu Hause dann berichtete sie der Mama von dieser Ärchde und vom Bagger, dem sie den Namen „camion-pelle“ gab. „pelle“ ist ihre kleine Schaufel, mit der sie im Sand spielen kann. Die Kombination der Schaufel mit dem Camion ist eine echte Wortschöpfung. Ich kann nur staunen.
 
Lachen kann ich über ihre Antwort, wenn sie ein Angebot ausschlägt: „Pas d'envie!“ (Keine Lust!), ebenso, wenn sie etwas holen muss und verhindern will, dass ich mich vom eingenommenen Platz entferne. Da heisst es dann in ganz ungelenkem Französisch: „Grosy attend 5 minutes, moi." Ich (Grosy = Grossmutter) solle 5 Minuten auf sie warten.
 
Weniger salonfähig ist der Ausdruck „pousse-toi!“ (hau ab!), wenn sie sich wehren muss. Der Existenzkampf beginnt schon früh.
 
An einem weiteren Tag sass ich mit Nora auf einer Steinbank vor dem Lebensmittelladen. Wir assen ein kleines Gebäck und beobachteten einen Hund, der angebunden auf seine Meisterin wartete. Er winselte, jammerte, war ungeduldig. Lange schauten wir ihm zu, wie er Angst hatte, total allein gelassen zu werden. Nora nahm Anteil an diesem Wesen, fühlte mit ihm.
 
Da unterbrach eine alte Frau, vermutlich aus Ex-Jugoslawien, unsere Beobachtung und sprach mich an. Auch sie habe sich um Enkel gekümmert, viel Zeit aufgewendet, mit ihnen alles geteilt, sie manches gelehrt, wie ich das eben auch mache und heute ....? ... sei sie nur noch die dumme Grossmutter. Dann ging sie weiter, schaute nicht mehr zurück. Wie traurig für sie.
 
Wenn ihre Enkel gerade in der Pubertät sind, sei ihnen verziehen. Wenn sie aber alles Gute verkennen, das ihnen diese mütterliche Frau geschenkt hat, dann sind sie zu bedauern.
 
Am besten, wir erwarten keinen Dank. Dann können wir nicht enttäuscht werden. Und wenn wir's genau überlegen, ist der Dank doch inbegriffen, wenn wir miterleben dürfen, wie Entfaltung geschieht. Manchmal leise, beinahe unbemerkt und doch stetig und plötzlich Überraschung auslösen kann.

Mittwoch, 29. Juli 2009

Manchmal werden Altstadt-Spaziergänge zu Begegnungen

Vergangene Woche holte ich am Empfang einer grossen Unternehmung eine Arbeit für unsere Werkstatt ab. Während ich wartete, bis sie mir ausgehändigt wurde, schaute ich mich im gepflegten Eingangsbereich etwas um. Es war halb 9 Uhr am Morgen. Noch bevor die Angestellten nach und nach eintrafen, erschien ein Chef, den ich vage kannte. Er kontrollierte diesen Ort. Ein Paket, an die Seitenwand der Theke angelehnt, störte ihn. „Was steht hier herum?" fragte er ungeduldig. Es werde in einer Stunde abgeholt, informierte die Telefonistin.
 
Nur wegen der gereizten Stimme schaute ich diesen offensichtlich pedantischen Mann näher an. Er war fein und gleichzeitig originell gekleidet. Und doch störte etwas an ihm. Er trug ungeschnürte, hellgelbe Turnschuhe.
 
Gerne hätte ich zu ihm gesagt, bevor er eine freundliche Angestellte barsch anfahre, sollte er doch zuerst seine Schuhe binden. Wer Perfektion fordere, sollte sie auch vorleben. Da wäre ich aber schön in eine Falle getappt.
 
Tags darauf bin ich in einem Modemagazin auf einen ähnlichen Turnschuh gestossen. Wieder ohne Schuhbändel. Die Zunge vermutlich fest verleimt. Später klärte mich unsere Tochter Letizia darüber auf, es handle sich um den beliebten Turnschuh aus den 1980er-Jahren, der nur leicht verändert ein Revival erfahren habe. Und jetzt ein „Must-have“ geworden sei.
 
Eine Woche später schlendere ich mit Primo durch die Altstadt. Im Oberdorf ziehen mich wieder Turnschuhe in ihren Bann. In einem Schuhgeschäft sind sie so variantenreich und in vielen Farben vorhanden, dass sie 2 grosse Schaufenster füllen. Später wundere ich mich selbst, dass ich mit diesem „absoluten Schuhtrend“ in Berührung gekommen bin. So erzähle ich meinem Ehemann, vor den Auslagen stehend, die oben beschriebene Geschichte. Hier konnte ich ihm drei Modelle zeigen, die ohne Schnürsenkel auskommen.
 
In dieser Zeit beobachteten uns 2 Männer, die vom Alter her unsere Söhne sein könnten. Plötzlich standen sie neben uns und erkundigten sich, was der Grund unseres Interesses sei? Der zum Schlupfschuh gewordene Turnschuh. Keine Ahnung. Sie kannten die Neuauflage des beliebten Turnschuhs aus den 80er-Jahren nicht. Obwohl jetzt absoluter Schuhtrend. Als ich davon redete, war ich von dieser Mutation schon so begeistert, dass mein Hinweis wie Reklame wirkte. Meiner Natur entspricht eben ein Schuh, der keine besondere Zuwendung verlangt, also schnell angezogen ist. Damit erkläre ich den Männern mein Interesse.
 
Sie lachten verschmitzt über sich, weil sie uns falsch eingeschätzt hatten und nicht glauben konnten, dass Männer oder Frauen aus ihrer Elterngeneration auch noch Interesse an Mode, Veränderungen und Neuerungen hätten. Sie waren verblüfft, dass wir auf einen Modetrend hinweisen konnten. (Letizia sei Dank.) Sie erwarteten, dass wir Turnschuhe ablehnten, allem Neuen gegenüber skeptisch seien und wollten uns belehren. Unsere Antworten machten sie eine Weile sprachlos.
 
Einer der Männer hat in einem Call-Center gearbeitet und stellt offensichtlich immer noch gerne Fragen. Er wollte unser Alter wissen, ob wir ein Paar seien und wie lange wir schon zusammen lebten. 47 Jahre. Oh! ... Nach dieser Antwort wollte er auch noch wissen, wie man eine gute Partnerschaft gestalte. Ihm sei es noch nicht gelungen. Dann wurde auch noch gefragt, ob wir einen Computer hätten, und als ich auf unsere Homepage www.lorenzetti.ch hinwies, war die Verblüffung komplett.
 
Vermutlich standen wir mit diesen Männern eine halbe Stunde zusammen und fühlten uns danach fröhlicher als vordem, auf eine Art erfrischt. Ihnen mag es ähnlich ergangen sein. Wir gaben einander unsere www-Adressen und werden vielleicht wieder einmal voneinander hören.
 
Uns beiden ist gemeinsam, dass wir eine Situation zuerst komplett falsch einschätzten und die Korrektur lachend annehmen konnten.

Freitag, 17. Juli 2009

Ferienzeit: Die Kinder können nun ihre Träume ausleben

Schulferienzeit. Es ist still geworden in meiner Umgebung. Das Kinderlachen verstummt. Die Schaukel im Umfeld des Nachbarhauses verwaist. Die Schulhäuser geschlossen. Aus unserem Quartier mit seinem hohen Ausländeranteil werden viele Familien in ihre Heimatländer gereist sein. Hier fühlt es sich momentan wie in einem Bergdorf an.
 
Und es regnet. Die Temperaturen sind zurückgegangen. Mit dem Gedanken an die Bergdörfer frage ich mich, wie es sich jetzt für Pfadfinder in Zeltlagern anfühle und wie die Schlechtwetter-Programme aussehen.
 
Solche Gedanken führen mich in jene Zeiten zurück, als die Töchter noch zur Primarschule gingen und wir Eltern für sinnvolle Ferien verantwortlich waren. Und ihre eigenen Initiativen unterstützten.
 
In einem trockenen Sommer, als die Limmat wenig Wasser führte, bauten sie, zusammen mit befreundeten Kindern, eine Ruinenstadt. Sie schichteten am ausgetrockneten Flussrand Grundrisse von Häusern auf. Jedes Kind nahm sich seinen Bereich und grenzte ihn mit Steinen aus dem Flussbett ab. Darin wurde gewohnt, gespielt, gegessen und einander besucht. Und draussen dienten Rindenstücke, Teile von Ästen und Blättern als Schiffe, die die Limmat mit auf ihre Reise nahm. Es war ungefährlich. Die Kinder vergnügten sich tagelang. Viele Jahre, auch nachdem der Fluss zeitweise zu einem reissenden Strom geworden war, suchten wir nach Zeugen jener Zeit. Erstaunlich lange konnten wir sie noch finden. Das war auch ein Ziel. Die Kinder hofften, dass Archäologen diesen Ort einmal fänden und ihn als Römersiedlung interpretierten.
 
Erstaunlich auch, dass unser zukünftiger Schwiegersohn dieses Thema schon beim ersten Besuch bei uns im Bernoulli ansprach und sich wünschte, den Ort (am Fischerweg in Zürich) zu sehen.
 
Die Schulkameradin Jasmin und ihr kleiner Bruder kamen auch einmal zu Besuch in diese Ruinenstadt. Dem Kleinen gefiel es nicht. Es störte ihn vermutlich, dass sich seine Schwester nicht mehr nur ihm widmete. So deutete ich seine Reaktion. Unmutig riss er in Felicitas Wohnung einen „Zoccolo" (Holzschuh aus der Südschweiz) an sich und warf ihn ins Wasser. Dort schwamm das Raubstück wie ein kleinens Dampfschiff davon. Als Jasmins Mutter davon erfuhr, meldete sie sich und bot Ersatz an. Felicitas durfte mit ihr in die Stadt fahren und bekam dort das neueste Holzschuhmodell aus Schweden. Wunderschön, grün, noch nie gesehen. Die 6 Jahre jüngere Letizia staunte und sagte freimütig: „Hoffentlich wirft mir Robert meine Zoccoli auch noch ins Wasser."
 
Ein andermal wurde in unserem Garten ein Zirkuszelt eingerichtet. Leintücher wurden aufgespannt. Es wurde ein Programm ausgedacht, ein Programmheft gestaltet und Kunst- und Zauberstücke trainiert. Unglaublich, wie Kinder sich vielen Details widmen, wenn sie sich selbst ein Ziel gesetzt haben. Das Programmheft gibt es heute noch. Ich hatte es aufbewahrt und konnte es nun zurückgeben. All die Vorarbeiten waren vermutlich viel intensiver als die Aufführung selbst.
 
Einmal, zu Beginn der Ferienzeit, schlug ich vor, dass wir in unserem Garten ein kleines Restaurant führen könnten. Sofort waren die Mädchen begeistert. Wir brauchten ein Restaurant-Schild mit der Aufschrift „Gasthaus zur Sonne" und eine vornehme Speisekarte mit dem Tagesmenu. Es gab viel zu schreiben, zu malen und zu dekorieren. Und ein schönes Tischtuch war auch gefragt. Der Erfolg war viel grösser als erwartet. Ausgelöst auch durch das italienisch temperierte Hallo von Primo, als er zum Essen nach Hause kam. Sofort liess er die Rolle als Familienvater fallen und liess sich als Gast in einem guten Haus beraten und bedienen. Nachbarn hatten uns schon lange beobachtet und klopften nach dem Mittagessen an unser Gartentor. Das markierte Gasthaus wirkte einladend. Sie kamen, wünschten Kaffee, plauderten, hatten Zeit und genossen diese Abwechslung. Das Servierpersonal aber war müde. Als dann alle Gäste weggegangen waren, atmeten die Mädchen auf. Aber gerade als sie die Wirtshaustafel abhängen wollten, kam noch Johann Buob daher. Der letzte Bauer vom Förrlibuck. Auch er ein willkommener Gast, vor allen für mich. Noch heute freue ich mich, dass er uns besucht hat. Bedächtig gehend, kam er an unseren Tisch und bestellte, augenzwinkernd, ein geistiges Wasser. Den Kirsch füllte ich für ihn in das kleine chinesische Trinkgefäss, das zu trillern anfängt, sobald getrunken wird. Das kannte er noch nicht. Es gefiel ihm, uns mit diesem Vogelgesang zu unterhalten und liess sich gerne mehrmals einschenken.
 
Die Kinder waren in der Zwischenzeit verschwunden, überliessen mir das Geschäft. Es sei sehr anstrengend gewesen.
 
In der Erinnerung sehe ich Herrn Buob auf seinen Stock gestützt, langsam heimwärts gehen und dann entschwinden. Gerade so, wie es meine Geschichten jetzt auch tun. Sie gehen dorthin zurück, wo sie gut aufgehoben sind.

Dienstag, 7. Juli 2009

Ausflug mit Frauen: Die Wallfahrt zu Orten am Jakobsweg

Die Jakobsmuschel ist überall gut bekannt. Feinschmecker lieben diese Meeresfrucht, und Wallfahrer schätzen ihr Symbol als Wegweiser auf dem Weg nach Santiago de Compostela (wikipedia.org/wiki/Jakobus_der_Ältere).
 
Ich freue mich immer, wenn ich dieses Zeichen an Wegkreuzungen erblicke. Dieser Pilgerweg, der vielen Menschen hilft, zu sich selbst zu finden, ist mir sympathisch. Einzelne Wegstücke innerhalb der Schweiz habe ich selber auch begangen, nach Santiago de Compostela bin ich allerdings noch nicht gekommen.
 
Auch unsere rutschfeste Plastikmatte im Badezimmer trägt die Jakobsmuschel. Wenn ich auf dieses plastische Symbol stehe, drücke ich es auf den Boden und verhindere, dass ich ausrutsche. Warum diese Matte mit der Jakobsmuschel geschmückt ist, weiss ich nicht. Vielleicht wegen des Bezugs zum Wasser, in dem sich die Muschel entwickelt. Vielleicht war sie als Mitbringsel von Santiago geschaffen. Gekauft habe ich sie in einem Ramschwarengeschäft. Sie hat mir gefallen, weil sie farblich keine dominante Rolle spielen will und mir dienen kann. Seit letztem Donnerstag spricht sie mich jetzt anders an. Sie erinnert mich an eine schöne Ausfahrt nach Beuron und Bärenthal-Gnadenweiler. Auch Orte am Jakobsweg.
 
Eingeladen von meiner Freundin und im Gefolge einer Frauengruppe führte die Reise ins deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Mütter und vermutlich auch Grossmütter schenkten sich einen freien Tag. Auch ich schob für diesen alle Aufgaben und Arbeiten zur Seite und genoss es, dass andere Weg und Ziel schon definiert hatten. Auf mir lastete diesmal keine Verantwortung. Tapetenwechsel. So nannten wir früher einen Ausflug. Das eigene Umfeld wurde zugunsten von unbekannten Orten, Räumen und fremder Architektur einfach für eine Weile ausgeklinkt.
 
Die Fahrt im Bus wurde am Rheinfall in Neuhausen (Kanton Schaffhausen) unterbrochen. Wir trafen am frühen Morgen ein. Es war noch ruhig. Touristenströme kamen später an. Die Morgensonne leuchtete gerade in die schäumenden und tosenden Wasser hinein und verpassten dem grössten Wasserfall von Europa eine glitzernde Aura. Von meinem Sitzplatz auf der Terrasse konnte ich beobachten, wie der breite Strom aus seinem Bett heraus- und herunterstürzte. Von einem Menschen würde ich sagen, dass er ahnungslos dahergekommen sei. Die Wassermassen schienen ihren Spass zu haben. Das träge Dahinfliessen wurde, einem Spektakel gleich, für eine Weile unterbrochen.
 
Beuron D fuhren wir über die Schwäbische Alb an. Eine der Organisatorinnen ist mit diesem reizvollen und unverdorbenen Landstrich familiär verbunden; darum konnte sie den Chauffeur unseres Autocars dazu bewegen, die Route über diese Alb zu benützen. Die Fahrt hinab ins Tal beeindruckte ebenso. Am meisten, als wir der jungen und lieblichen Donau begegneten und mit Abstand die Wucht des Felsgesteins, aus dem wir eben herunter- und herausgekommen waren, sahen. Für mich hat dieser Ort Ähnlichkeit mit der Doubs-Landschaft in der Schweiz, angrenzend an Frankreich. An beiden Orten markieren Juragesteinswände mit bizzaren Formen ein Tal. Und hier stehen auf besonders markanten Felsen wuchtige Burgen und Schlösser.
 
Zur Mittagszeit trafen wir in Beuron ein. Ein geschichtsträchtiger Ort mit imposanter Klosteranlage. Mir war bis anhin nur der Beuroner Kunstverlag, vor allem wegen seiner Kunstkarten und Kunstbücher, bekannt. 
 
Besuch der Wallfahrtskirche. Für uns gab es keine Führung und auch keinen Gottesdienst. Einfach etwas verweilen war angesagt. Jahreszahlen und architektonische Zuordnungen vergesse ich ohnehin schnell wieder. Aber dasein und einen spiritueller Raum auf sich wirken lassen, das ist gut.
 
Ein feines und leichtes Mahl erwartete uns im Gäste- und Tagungshaus „Maria Trost“, das ebenfalls auf eine lange Vergangenheit zurückblicken kann. Herr Peter Zimmermann, der mit seiner Frau zusammen dieses Haus führt, erzählte uns sehr eindrücklich aus deren Geschichte und verriet uns etwas von seinem persönlichen Engagement, dieses zu erhalten und weiterzuführen.
 
Mit fühlbarer Hochachtung und Respekt wies er auf Besuche von Edith Stein hin, die sich in Beuron und explizit auch in diesem Haus wohl fühlte. Die Strasse, an der das Gasthaus steht, trägt ihren Namen. Und eine Gedenktafel hält ihr Andenken wach. (Edith Stein: Philosophin, katholische Nonne jüdischer Herkunft. In Auschwitz ermordet. Wurde von der katholischen Kirche heiliggesprochen.)
 
Das eigentliche Ziel unserer Reise signalisierte uns in Gnadenweiler ein luftiger Fahnenwald in gebührendem Abstand zum Heiligtum „Maria, Mutter Europas“, das vor kurzem erschaffen und 2008 eingeweiht worden ist. Noch jung und doch schon von voller Ausstrahlung. Ein lichtdurchfluteter Bau, der Innen und Aussen verbindet. Ein aus den Schriften des alten und neuen Testaments gültig übersetztes Bauwerk für die Menschen von heute. Ein Zeichen in der Landschaft zu Ehren Europas.
 
Bilder, die im Internet zur Verfügung stehen, vermitteln mir die wahre Ausstrahlung dieses Orts nicht ganz so, wie ich sie gesehen und gefühlt habe. Sie ist grösser. Landschaft, Architektur und Glaube sind an diesem Ort vereint. Und die barocke Marienfigur aus der „alpenländischen Schweiz“ verbindet alle hier anzutreffende Detailtreue theologischer Aussagen und wandelt sie zu einem lebendigen Heiligtum.
 
Mir persönlich sind die weiblichen und mütterlichen Elemente in der Religion wichtig, weil sie sich um das echte Leben sorgen.
 
Dieser Beitrag ist mit vielen Links versehen. Die Reise soll für Leserinnen und Leser nachvollziehbar werden. Mein Bericht soll Unaussprechbares nicht zerreden. In diesem Sinne hat es mir entsprochen, dass alle Orte, die wir besuchten, nicht mit tausend Worten übergossen worden sind.
Ein Buch zum Thema
Hinweis auf einen kleinen, grafisch ansprechenden Bildband, der alle Grundlagen und das Werk selbst beleuchtet. Fotos und Texte: P. Notker Hiegl: „Maria, Mutter Europas“, ISBN 978-3-87071-183-2.

Dienstag, 16. Juni 2009

Wie nennt man es: Glück, Fügung oder sogar Wunder?

Primo hat im letzten Augenblick einen Ersatz-Werkstattplatz gefunden. Es gab mir schon zu denken. Ausgerechnet das Umfeld, das ich im Blog über die Fahrt nach Fluntern abwertend beschrieb, gehört nun zur Umgebung der neuen Werkstatt. Zuerst dachte ich ans Sprichwort vom Teufel, der auch Fliegen fresse, wenn er nichts Besseres finde. Dann aber stellte es sich heraus, dass der neue Arbeitsplatz nicht von der Hardbrücke erschüttert wird und dass uns die Pfingstweidstrasse nicht zu nahe kommt.
 
Kurz bevor wir die Hoffnung auf eine Ersatz-Werkstatt wohl aufgegeben hätten, verstand Ueli Schenk von der Schreinerei Schenk GmbH unser Anliegen und lud Primo ein, sich einen Arbeitsplatz bei ihm einzurichten. Er arbeitet in den ehemaligen Stallungen von Welti-Furrer, als dieser noch eine Fuhrhalterei betrieb. So kommen wir jetzt wieder auf den Boden des Stadtkreises 5 zurück, auf dem wir aufgewachsen sind.
 
Noch diese Woche werden wir uns vom Atelier an der Müllerstrasse verabschieden. Dann können die Bagger auffahren und das alte Haus mit seiner über 100-jährigen Handwerksgeschichte abbrechen.
 
Mit grossem Interesse wende ich mich jetzt dem neuen Ort zu, schleiche wie ein Hund um die Gebäude, schnuppere, fotografiere, suche Übersicht innerhalb der verschachtelten Bauten. Ich freunde mich mit diesen alten Gebäuden an, suche nach Spuren ihrer Geschichte.
 
An einem fix verschlossenen Stalltor fand ich einen Hinweis auf Welti-Furrer, der mich berührte:
 
„Gegründet 18381988, 150 Jahre Welti Furrer, Stallungen 19251963.“
 
Welti Furrer war und ist für Zürich und auch international ein Begriff. Der Firmengründer Jakob Furrer figuriert denn auch auf der Liste „Persönlichkeiten der Schweiz“ in der Rubrik „Berühmte Schweizer Unternehmer und Firmengründer seit 1150“. Die Fuhrhalterei entstand schon 1838.
 
 
 
Ich kann mich gut an die Plakate dieses Unternehmens erinnern. Auf dem Schulweg gab es eine niedrig angebrachte Plakatwand beim Tramdepot Escher Wyss. Da sahen wir die Bilder auf Augenhöhe, und diese prägten sich ein. Ganz besonders in Erinnerung ist jenes virtuos gemalte Bild mit 2 trabenden Fuhrwerkpferden. Dass es nach Jahrzehnten nochmals aufgehängt wurde, war vielleicht ein Abschiedsgeschenk an die Bevölkerung von Zürich, als das Unternehmen 1993 in andere Hände überging.
 
Jetzt haben wir noch eine grosse Aufgabe vor uns. Die Gestaltung der Umzugsanzeige mit den Anfahrtswegen aus allen Himmelsrichtungen inkl. öffentlichem Verkehr.
 
Für unsere neue Adresse sind die Beschilderungen dürftig. Es fehlt mir das offizielle Haus-Nummernschild. Dann habe ich erfolglos nach dem Strassenschild „Pfingstweidstrasse“ gesucht. Nach meiner Auffassung sollten an jeder grösseren Kreuzung die wegführenden Strassen beschriftet sein. Das ist hier nicht der Fall. Wohl ist das Parkhaus mit „Pfingstweid“ beschriftet, aber der Fussgänger kann sich nirgends orientieren. Seit dem 9. Juni 2009 herrscht zudem Baustellen-Verkehr. Die Pfingstweidstrasse, eine städtische Expressstrasse, wird um- und eine neue Tramlinie eingebaut. Entfernt wurde eine schützende Insel in der Mitte des Fussgängerstreifens. Und mit ihr verschwand die auf einer Metallstange platzierte offizielle Strassentafel „Pfingstweidstrasse“.
 
Gestern habe ich bei Herrn Schenk am Fenster seiner Werkstatt die Nummer „23“ entdeckt. In grossen Lettern, sauber und frisch. Sie sprach mich von weit her an. Er muss beobachtet haben, wie ich nach Orientierungsmöglichkeiten suchte. Ich hatte ihn auch darauf angesprochen. So ist das in den Industriebrachen. Die vorherige Ordnung zerfällt. Da heisst es für uns: Hilf dir selbst.
 
Die Pfingstweidstrasse als solche ist für Autofahrer gut bekannt. Auch das Parkhaus trägt, wie erwähnt, diesen Namen. Und von Johann Buob (geb. 1893), dem letzten Bauern im Stadtkreis 5 unterhalb des Escher-Wyss-Platzes, weiss ich, woher sich dieser Name ableitet. Man nannte die Wiese so, weil die Kühe zu Pfingsten dorthin auf die Weide getrieben wurden.
 
Von Weiden sehe ich hier keine Spuren mehr. Auch das Schrebergartenareal, das an die Geroldstrasse anlehnte, ist zur Baustelle geworden.
 
Uns gegenüber, im Maag-Areal, befindet sich die mittlerweile berühmte Fabrikhalle, die als Music- und Eventhall benützt wird und vielleicht stehen bleibt. Andere Gebäude auf diesem Terrain wurden schon abgebrochen, damit der Prime Tower heranwachsen kann. Hier befindet sich vermutlich die verrückteste Baustelle von Zürich.
 
Sterbe- und Werdeprozesse auch im Toni-Areal (vormals: Milchverarbeitungszentrale) im Förrlibuck. Dort soll ein Hochschul-Campus für ungefähr 5000 Studierende entstehen.
 
Und wir in den alten Stallungen, was blüht uns noch? Wird das Welti-Furrer-Areal eines Tages vielleicht in den Bereich der schützenswerten Bauten aufgenommen? Das könnte ich mir vorstellen. Was würde das für uns wohl heissen? Das grosse Hauptgebäude, eine Art vornehmer Fabrikbau, und die im rechten Winkel zurückversetzten Stallungen sind eine Einheit, haben Stil und erzählen Geschichte. Auch das Logo an der Fassade von Welti-Furrer, das geflügelte „W“ ist ein Unikat und steht für Qualität.
 
Mein Bruder Georg, einiges jünger als ich und mit einem Zukunftsblick ausgestattet, der ihm meist Recht gibt, hat begeistert reagiert, als er von unserem Glück erfuhr. Das sei ja total „Metropolitan aera“. Dieser neue Platz müsse man definitiv in die Kategorie „Smarter West End Schreinerei Lifestyle“ einordnen. Primo werde wohl in Kürze nach China und Russland liefern, wenn die Touristen bei der Lorenzetti-Schenk(e) landeten ...
 
Das sind Aussichten ... In erster Linie aber geteilte Freude. Noch ist es nicht so weit, dass Zürich mit seinen Towers grossstädtisch brillieren kann. Wir freuen uns im Moment hauptsächlich darüber, dass uns ein neuer Werkplatz zugefallen ist. Alles Weitere nehmen wir „vorzuä“ (eins nach dem andern).
 

Montag, 1. Juni 2009

Leben mit dem Abreisskalender, der auf mich wartete

Schon am Neujahrsabend nahm ich mir vor, die Geschichte vom Weisheitskalender aus dem Diderichs-Verlag eines Tages zu erzählen.
 
Ich fand ihn am 01.01.2009 in einer der Bücherkisten vor der Buchhandlung Barth im Zürcher Hauptbahnhof. Er war abgegriffen, die ersten Blätter wellten sich schon. Das Deckblatt schmuddelig. Ich erinnerte mich aber, dass auch ich dieses Ansichtsexemplar schon einmal in Händen hatte. Mangels grösserer Auswahl legte ich es Anfang Dezember wieder zurück und vergass dieses Thema.
 
Jetzt sah der Kalender erbärmlich und unappetitlich aus. Ich sah aber sofort, dass die schmutzigen Blätter nach etwa 3 Wochen abgezogen seien und dass ich seinen Rücken mit einem frischen Deckpapier renovieren könne. Es war höchste Zeit, einen Kalender zu kaufen. Eine Frau beobachtete mich und riet mir, im Laden um einen guten Preis zu feilschen.
 
Das war nicht nötig. Es genügte zu fragen, was dieser noch koste. Die Buchhändlerin offerierte ihn für drei Franken. Es sei das letzte verfügbare Exemplar. Ihr sichtbares Mitgefühl diesem strapazierten Stück gegenüber gefiel mir. Das war ja ein Geschenk.
 
Es bewahrheitete sich wieder einmal, dass das Äussere nicht auf das Innere schliessen muss. Auch die verschmutzten Blätter von Anfang Januar trugen wertvolle Gedanken vom Dalai Lama auf sich. Viele der Blätter mit seinen Weisheiten bewahre ich in einer schönen Schachtel auf. Vorher liegen sie gewisse Zeit auf meinem Schreibtisch. Solange, bis ich die Essenz verinnerlicht habe.
 
Vielleicht gelingt es mir eines Tages selbst, Aussagen aus meiner Lebenserfahrung auf einen Punkt zu bringen. Ich könnte versuchen, jeden Abend einen Satz zu notieren, der eine ganz persönliche Einsicht zusammenfasst. Die Idee schliesst an eine Kurserfahrung an. Während der Ausbildung im Seminar für Freiwillige im sozialen Bereich standen uns in der letzten Kursstunde immer die letzten 10 Minuten zur Verfügung, um Notizen zu machen. In diesem schmalen Zeitraum entstanden gute Zusammenfassungen, kurze, dichte Texte. Das Wichtigste des Tages hatte sich noch nicht mit früherem Wissen verschmolzen. Es lag obenauf und konnte leicht benannt werden.
 
Weil ich heute noch keinen „Eigenbrand“ vorsetzen kann, zitiere ich zum Abschluss den Dalai-Lama-Kalendertext von gestern: „Das Leben zwingt uns dazu, uns so kennen zu lernen, wie wir wirklich sind.“

Samstag, 16. Mai 2009

Ständig wechselnde Szenen mit Patienten im Wartezimmer

Im Wartezimmer entspann sich sofort eine heitere Atmosphäre, als jene Frau eintraf, die ihr Eintrittsformular auf einer festen Unterlage so in den Raum trug, als würde sie einen Imbiss servieren. Als ich meine Beobachtung schilderte, lachte sie verschmitzt. Ja, sie sei die Tochter eines Wirtepaars und in einem Gasthaus aufgewachsen.
 
Über eine halbe Stunde war sie umhergeirrt, bevor sie diese Praxis endlich gefunden hatte. Als ich dafür Verständnis signalisierte, freute sie sich. „Das hat mir heute noch niemand gesagt.“ Sie erholte sich rasch, und unser lockeres Gespräch bewegte sich rasch zum Humor hin. Erst recht, als sie aus dem Fragebogen laut vorlas: „Wer ist erziehungsberechtigt?“ Später getraute ich mich zu fragen, wie sie geantwortet habe. Mit keinem Wort. Doch dann erwachte ihr Schalk und sie schrieb, laut sprechend, ihr Ich sei dafür zuständig.
 
Dann wurde ich zum Hörtest gerufen. Als ich zurückkam, war sie verschwunden. Schade! Es wäre gewiss noch viel lustiger geworden.
 
Jetzt aber stand ein weiterer Hörtest an. Wie aussagekräftig sind eigentlich solche Tests? Ich war froh, dass ich mein Gehör nochmals prüfen und meine Erfahrungen vom ersten Mal einfliessen lassen konnte. Das Wichtigste ist die Fähigkeit zur vollkommenen Konzentration. Keine Gedanken, keine Ängste, keine Ablenkung. Wie in der Meditation: Nur da sein und atmen. Aber, als ich die Kopfhörer aufsetzte, aufrecht dasass, mich erdete, wie man so schön sagt, und dann meinen Atem, einem Fluss gleich, dahinströmen hörte, war ich sofort abgelenkt. Dieses Rauschen, was ist da los? Glücklicherweise wurde jene Person, die den Test durchführen musste, noch kurz weggerufen. Als sie zurückgekommen war, konnte ich die Frage stellen. Ich hätte meinen Atem gehört, weil die Kopfhörer meine Ohren dicht abschliessen, hiess es.
 
Solche Fragen müssen beantwortet werden. Besser noch fände ich, dass generell auf sie aufmerksam gemacht würde. Ich bin überzeugt, dass ich wegen meiner Erfahrung diesmal ein viel besseres Resultat liefern konnte. Das wünsche ich auch andern.
 
Zurück ins Wartezimmer. Szenenwechsel. Ein älterer Herr, eine ausstrahlende Persönlichkeit, war eingetreten. Die Ärztin sprach in sein Ohr: „In 5 Minuten.“ Er nickte und befahl: „Er soll zweimal läuten!“ Frau Doktor riet ihm, nach 5 Minuten vor die Tür zu gehen. Er schaute auf die Uhr und nickte erneut. Dann betrat eine weitere Patientin den Raum.
 
Da hatte ihn vielleicht sein Kurzzeitgedächtnis schon verlassen. Er fragte sie: „Ist das Taxi bestellt?“ Sie konnte es nicht wissen, huschte sofort an die Réception zurück und fragte danach. „Nein, kein Taxi bestellt." Die Telefonistin griff zum Hörer und verlangte das Auto für Herrn X. Offenbar ein wichtiger Kunde. Man kannte seinen Namen. Das Auto sei bereits unterwegs. Die Ärztin selber hatte es bestellt.
 
An einem Ort wie diesem, wo Hören das wichtige Thema ist, nahm ich alle Gespräche wie ein Hörspiel wahr. Obwohl ich die Szene beobachtet hatte, griff ich selbst nicht ein.
 
Dann ertönte die Hausglocke. Zweimal, wie gewünscht. Niemand reagierte. Nur ich hatte sie wahrgenommen und konnte informieren. Ein gutes Zeichen für mich, das sich wenig später mit dem neuen Hörtest-Ergebnis deckte.

Samstag, 9. Mai 2009

Ab Hardturm über Züri-West nach Höngg und Altstetten

Den vorgesehenen Limmat-Spaziergang liess ich sofort fallen, als Vreni wissen wollte, wo sich das Zentrum von Züri-West befinde, von dem sie in der Zeitung immer wieder lese. Wir hatten uns beim Hardturm getroffen, wollten Limmat-abwärts gehen, um unsere einstige Heimat „Am Wasser“ zu besuchen. Dort lernten wir uns kennen, als unsere Kinder den Kindergarten besuchten.
 
Also gab es einen 180-Grad-Richtungswechsel zu „Puls 5“, dem Ort, wo sich Monumente des Industriezeitalters, oder Teile von ihnen, zu neuem Leben erwecken liessen. Wir besuchten die sympathische Migros-Filiale mit ihren grossen Fenstern und dem Blick in den begrünten Hof und angrenzend die Giessereihalle, in der einige Ladengeschäfte und ein Fitnesscenter eingerichtet sind. Da stiessen wir unverhofft auf „basecamp 09“, das „festival science et cité“.
 
www.basecamp09.ch informiert umfassend über diese spannende und lehrreiche Veranstaltung, die das Leben auf unserer Erde erklärt und an unsere Verantwortung appelliert. Der erwähnte Link führt auch zum „Rap Viedeo Contest“, auf den ich besonders hinweisen möchte. Diese Veranstaltung wird noch in verschiedenen Städten gastieren.
 
Der Turbinenplatz mit seinen vielen Birken und den eigenwilligen, hölzernen Liegen kam nicht zur Geltung. Die aufgestellten Zelte, Schiffscontainer und andere Ausstellungs-Gebilde bestimmten das Bild. Immer wieder fragte Vreni: „Ist das jetzt der Schiffbau?“, wenn sie irgendwo ein altes Gebäude erspähte. Sehr interessant für mich, wie sich Namen und Fetzen von Berichten einprägen, wenn sie sowohl in der Zeitung als auch im Fernsehen erscheinen. Das gibt es also wirklich, mag sie gedacht haben, als ich auf ein kleineres, altes Gebäude hinwies, in dem Kurt Aeschbacher seine Gäste für Fernsehsendungen empfängt.
 
Heute berührt es mich, wenn ich realisiere, wie die Architekten dieses Trendquartiers mit den Zeugen aus alter Zeit umgehen. Sie liessen jene Teile stehen, die alte Baukunst repräsentieren. Markant an der Halle, in der einst Schiffe gebaut wurden, ist die mächtige Eingangsfront mit dem aus rotem Backstein geschaffenen Halbkreis-Sturz. Dann im Innern das Stahlträgergebälk, an dem die Laufkatze (der Laufkran) in alle Richtungen geschickt werden konnte. Hier waren verschiedene Berufsleute an der Arbeit. Die wichtigsten: Kesselschmied, Metallgiesser, Mechaniker, Dreher, Kranführer.
 
Und heute werden in dieser Halle Schauspiele aufgeführt. Der „Schiffbau“ ist die Zweigniederlassung des Zürcher Schauspielhauses geworden.
 
Da ich selber in einer Fabrik, jedoch nicht aus der Metallbranche, aufgewachsen bin (meine Eltern waren als Hauswarte angestellt), sind mir solche Räume bekannt. Auf den ersten Blick fühle ich etwas Heimatliches, aber gleichzeitig erinnere ich mich an einen gewissen Mief, der sie umgab. Viel Grau, viel Lärm und Gestank. Und die Arbeiter mussten um minimale Rechte kämpfen. Ich wünschte mir damals ein menschenfreundlicheres Leben und eine hellere Zukunft.
 
Vreni und ich hatten den Schiffbau betreten. Wir standen in der Eingangshalle, schauten nach den vielen alten Zeugen aus und sahen selbstverständlich auch in das noble Restaurant hinein. Hier verfilzen sich Vergangenheit und Gegenwart.
 
Die jungen Menschen feiern das Abgegriffene und Ausrangierte und auch den gebrauchten, grauen Stein. Ich sehe darin einen beeindruckenden Respekt unseren Vorfahren gegenüber. Auch ich bewundere immer noch die Baukunst von einst, die als vorindustrielles Handwerk entstanden ist. Jedes Produkt war ein unverwechselbares Original.
Wenig wertvolle Originale haben wir an unserem einstigen Wohnort „Am Wasser“ in Zürich-Höngg vorgefunden. Störend sind speziell die überdimensionierten Tankstellen. Da stand Vreni einfach da und schaute. Und mir war es, als ob sich eine Computermaus über diesen Ort bewegte und uns allerlei Stichworte aufscheinen liess. Da hatten wir als junge Mütter viel erlebt. Schon längst verstorbene Menschen standen wieder auf, traten für ein paar Minuten in unser Leben, holten gute und andere Erinnerungen hervor. Und wir versuchten, das Milchgeschäft von Hubers, die Metzgerei Baumann, den Salon Caroline und auf der anderen Strassenseite die Schuhmacherwerkstatt von Turrins an ihre damaligen Orte zu platzieren.
 
Dann entführte ich Vreni noch nach Zürich-Altstetten in mein neues Zuhause. Diese Gegend war ihr völlig fremd. Sie muss ob all dem Geschauten etwas orientierungslos geworden sein. Als ich sie dann zum Farbhof begleitete und sie den Zweier (Tram Nr. 2) erspähte, leuchtete ihr Gesicht. Diese Linie kannte sie. Ihr Heimweg war gesichert. Ab Zürich-Stadelhofen konnte sie mit der Forchbahn heimfahren.

Dienstag, 28. April 2009

Die Fahrt nach Fluntern – Mit dabei: Alltagskollege Stress

Ich fahre mit der S-Bahn weg. Heute steige ich schon auf der Station „Hardbrücke“ aus und will den Bus nach Fluntern benützen. Es ist 7 Uhr morgens, ungewöhnlich früh für mich. Für alltägliche Kommissionen zu früh. Es ist ein Arztbesuch fällig. Meine Ohren müssen schon wieder von Schmalzpfropfen befreit werden.
 
Darum bin ich heute mitten unter den Menschen, die zur Arbeit gehen und sich dem täglichen Stress unterziehen.
 
Dieser Lärm! Dieses Quitschen der Eisenbahnschienen und das Vibrieren der Fahrbahn, die über das aus Zürich hinausführende Schienennetz gespannt ist. Meine Ohren möchten aufschreien. Sie stechen mich. Und die Luft ist dreckig.
 
In solch einer Stimmung bedaure ich alle, die tagtäglich hier durchkommen und sich erschüttern lassen müssen. An der Busstation „Hardbrücke“ treffen sich zu viele Lärmquellen und stürmen auf uns ein. Täglich brausen 70 000 Autos über diese Fahrbahn. Unter ihr verkehren, ebenfalls täglich, 550 Züge der S-Bahnlinien.
 
Die Buslinie 33 zum Zürichberg führt oberhalb von Wipkingen an prächtigen Bauten aus der Jugendstilzeit, an noblen Familiensitzen und Villen vorbei. Bestandene Bäume scheinen diese etwas zu schützen, denn da, wo der Bus fährt, ist auch allgemeiner Verkehr. Und mit ihm Verschmutzung, Hektik und Abnützung. Da nützt die Adresse vom Zürichberg nicht mehr so viel. Von der einstigen Schönheit dieser Wohnlage ist einiges an Lack abgefallen.
 
Und erst dort, wo das Gasthaus „Vorderberg“ und ihm gegenüber die alte Kirche Fluntern stehen, fühle ich den Schmerz des Ortes beinahe körperlich. Störenfried ist eindeutig das Auto und die damit verbundenen Zwänge. In alter Zeit mögen Wege und Strassen, vermutlich 7 an der Zahl, von einem bedeutenden Mittelpunkt ausgegangen sein. Dieser ist aber nicht mehr zu finden. „Vorderberg“ und Kirche sind grundsätzlich Schmuckstücke, aber ihren Plätzen ist die Seele geraubt worden. Musste vielleicht schon dafür gekämpft werden, dass diese historischen Bauten überhaupt noch dastehen dürfen? Das weiss ich nicht.
 
Unter der Linde neben der alten Kirche stehend, überblicke ich den Ort. Am meisten beeindruckt mich die einfühlsame Schleife der Tramlinienführung. Als einzige vermag sie es, eine Insel zu schaffen und Fahrgäste zu beschützen. Wehmütig aufbegehrend, denke ich wieder einmal: Was doch dem Auto alles geopfert worden ist! Kein Wunder, dass man darüber nachdenkt, ob eine Seilbahn vom Bahnhof Stettbach zum nahe gelegenen Zoo gewisse Verkehrsprobleme lösen könnte.
 
Dann verabschiede ich mich von der Linde und mache mich auf den Weg zum Arzt. Eine halbe Stunde später sind meine Ohren gereinigt und ein anschliessender Hörtest gemacht. Mit einem Medikament, das mein Hörproblem heilen soll, bin ich wieder entlassen. Ich freue mich über den guten Bescheid und kehre sehr gern nach Altstetten, an den stillen Waldrand, zurück.
 
Am Abend dann, vor dem Einschlafen, wiederholt sich vieles. Kaum habe ich die Augen geschlossen, sehe ich Menschen auf mich zukommen, weitergehen und andere auftauchen. Wir schauen uns flüchtig in die Augen, erkennen uns aber nicht. Es bedroht mich niemand, aber ich befinde mich mit ihnen im Stress. Wir alle hasten vorbei. Glücklicherweise kann ich die Augen öffnen. Dann ist der Spuk vorbei. Schliesse ich sie wieder, bin ich gleich wieder unter Druck. Während die Menschen, denen ich am Morgen begegnet bin, vielleicht unter Zeitdruck litten, wurde mein Druck (vor allem auf der Brust) durch die verordnete Pille ausgelöst. Statt dass sie damit begann, mich zu heilen, löste sie bedrohliche Nebenwirkungen aus und zeigte mir diese in den am Morgen geschauten Bildern.
 
Um meiner grossen Unruhe auszuweichen, lasse ich dann ab Computer eine Tonsequenz meiner 2½-jährigen Enkelin Nora in der Endlosschlaufe ertönen. Der Sprache noch nicht ganz mächtig, versucht sie in dieser Aufnahme, ein französisches Kinderlied zu singen. Berührend sind ihre Ansätze, Wörter zu formen. Indem ich mich ganz auf sie konzentriere, kann ich meine Angst fahren lassen. Und später getraue ich mich sogar noch, den Blutdruck zu messen. Erschreckend hoch. Und ich war der Meinung, ich hätte mich beruhigt. Ich schon, doch der Körper muss mit Chemie fertig werden und kann weder auf mich noch auf die kleine Nora hören.
 
Das Schöne an der ganzen Sache: Ich habe wieder einmal erfahren, wie Bilder mein Denken und Fühlen unterstützen können. Interessant finde ich, dass die frisch eingespeisten Bilder von jenem Morgen gleich zur Belehrung eingesetzt worden sind.
 
Und das Medikament habe ich abgesetzt. Die beschriebenen Nebenwirkungen waren nicht die einzigen.

Freitag, 10. April 2009

Die Schüler von heute und das Klassenfoto von einst

Es wird wieder geschrien. Die Kinder spüren den Frühling. Sie rennen, spielen und kämpfen. Jedes ringt um einen eigenen guten Platz, will jemand sein, will im Spiel gewinnen.
 
Schüler gehen jetzt oft an meinem Bürofenster vorbei. Die wandelnden Farben lenken mich jeweils von der Arbeit ab. Seitdem die Sträucher radikal geschnitten worden sind, ist ein Durchschlupf zwischen 2 Zäunen sichtbar geworden. Jetzt sind Wege über die grosse Wiese beliebt. Die Kinder schätzen die Abkürzung zum Schulhaus. Ein schöner Weg, weich und grün. Völlig neu ist diese Situation auch für uns Anwohner, weil jetzt vermehrt Papierfötzel herumfliegen und herumliegen.
 
Auch heute Morgen war ich gar nicht begeistert, als ich, schwer beladen, auf dem Heimweg am Pausenplatz des Schulhauses Chriesiweg vorbei kam und aufgerufen wurde, einen Ball, der über den hohen Maschenzaun geflogen war, zurückzuwerfen. Nein! Dazu war ich gar nicht in der Lage. Der Rücken jaulte schon seit Minuten wegen meiner Lasten. Ich hatte Mühe, die Taschen und Säcke auszubalancieren und heimzutragen. Mit Buhrufen übergossen, ging ich weiter. Aber ein schlechtes Gewissen konnten mir die Primarschüler nicht anhängen. Darf man der Jugend nicht mehr zutrauen, einem verlorenen Ball selber nachzurennen? Eine Strecke von 20 Metern ist meiner Meinung nach zumutbar. Oder dürfen die Schüler den Pausenplatz vielleicht nicht verlassen? Noch als ich darüber nachdachte, kam ein junger Mann daher und erfüllte den Wunsch.
 
Vor ein paar Tagen wieder eine ganz andere Situation: Wieder Pause. Wieder Fussball spielende Buben. Und ganz vorne am Zaun, ein Schüler der betete. Mit gefalteten Händen stand er da. Der Blick ins Leere gerichtet. Ganz still, ganz versunken. Erfüllte er eine Pflicht? Oder brauchte er Hilfe? An wen wandte er sich? Mit dem Rücken zu seinen Kollegen, war er von ihnen getrennt. Aber nichts deutete darauf hin, dass er ausgegrenzt worden wäre. Er muss sich diese stille Ecke ausgesucht haben. Als sich unsere Blicke trafen, kam er in die Welt und zu seinen Kollegen zurück.
 
Und ich verreise seit einigen Tagen öfters in meine eigene, weit zurückliegende Kinderwelt. Ich hatte unserer Tochter davon erzählt, dass im Internet unter www.klassenfotoarchiv.ch eine Sammlung von rund 50 000 Schulklassen-Fotografien aus der Zeit von 1927‒1995 aufgerufen werden könne. Sie setzte sich sofort an den Computer und durchforstete die Schulhäuser aus dem Zürcher Industriequartier. Wir fanden 4 von 5 Geschwistern meiner Herkunftsfamilie.
 
Eine Foto von 1948 mit mir als Drittklässlerin bewegte mich ganz besonders. Ich wusste, dass es diese gab. Meine Eltern konnten sie sich aber nicht leisten, weil der damalige Umzug vom Zürcher Oberland in die Stadt Zürich zu viel Geld verschluckt hatte. Mutter erklärte mir, dass es noch mehrere Gelegenheiten für eine Klassenfoto geben werde. Wenn ich mich auf diesem Bild anschaue, erinnere ich mich augenblicklich an die finanziellen Sorgen, die mir als Kind nicht verborgen blieben. Wie wohl hätte ich mich gefühlt, wenn ich den Eltern unter diesen Umständen überhaupt keine Auslagen verursacht hätte.
 
Aber ich sehe auch anderes. Frau Anna Huber, die Lehrerin, die mich als Zuzügerin im Schulhaus Kornhaus in ihrer Klasse liebenswürdig willkommen hiess. Diese Foto habe ich bestellt. Sie liegt jetzt auf meinem Schreibtisch und zieht mich immer wieder in ihren Bann. In dieser Klasse habe ich als 39. Schülerin die Stadtkinder und das Leben in Zürich kennen gelernt. Mein Platz ist am Rande dieser Foto. Der besorgte, ins Leere gerichtete Blick ähnelt dem betenden Buben aus dem Schulhof Chriesiweg. Nach und nach erinnere ich mich an viele Namen. Geschichten steigen auf.
 
Diese Fotosammlung verdankt der Lehrmittelverlag des Kantons Zürich dem Fotografen Walter Haagmans und seinem Vater Hubert Haagmans. Die Aufnahmen stammen aus der Zeit von 1927‒1995. Die Originale befinden sich heute im Staatsarchiv. Das im Internet abrufbare Klassenfoto-Archiv wurde zum Jubiläum von 175 Jahre Volksschule Kanton Zürich aufgebaut. Ein Rundgang durch diese Zeiträume ist spannend. Allein das Aussehen der Kinder, ihre Kleider, Frisuren, ihre Schuhe lassen den Wandel verfolgen. Die grossen Klassen wurden zunehmend kleiner und die Gesichter der Lehrer und Lehrerinnen verloren die Strenge.
 
Ich frage mich jetzt: Was ist aus allen geworden? Nur von wenigen weiss ich es.