Den vorgesehenen Limmat-Spaziergang liess ich sofort fallen, als Vreni
wissen wollte, wo sich das Zentrum von Züri-West befinde, von dem sie
in der Zeitung immer wieder lese. Wir hatten uns beim Hardturm
getroffen, wollten Limmat-abwärts gehen, um unsere einstige Heimat „Am
Wasser“ zu besuchen. Dort lernten wir uns kennen, als unsere Kinder den
Kindergarten besuchten.
Also gab es einen 180-Grad-Richtungswechsel zu „Puls 5“, dem Ort,
wo sich Monumente des Industriezeitalters, oder Teile von ihnen, zu
neuem Leben erwecken liessen. Wir besuchten die sympathische
Migros-Filiale mit ihren grossen Fenstern und dem Blick in den begrünten
Hof und angrenzend die Giessereihalle, in der einige Ladengeschäfte und
ein Fitnesscenter eingerichtet sind. Da stiessen wir unverhofft auf
„basecamp 09“, das „festival science et cité“.
www.basecamp09.ch
informiert umfassend über diese spannende und lehrreiche Veranstaltung,
die das Leben auf unserer Erde erklärt und an unsere Verantwortung
appelliert. Der erwähnte Link führt auch zum „Rap Viedeo Contest“, auf
den ich besonders hinweisen möchte. Diese Veranstaltung wird noch in
verschiedenen Städten gastieren.
Der Turbinenplatz mit seinen vielen Birken und den eigenwilligen,
hölzernen Liegen kam nicht zur Geltung. Die aufgestellten Zelte,
Schiffscontainer und andere Ausstellungs-Gebilde bestimmten das Bild.
Immer wieder fragte Vreni: „Ist das jetzt der Schiffbau?“, wenn
sie irgendwo ein altes Gebäude erspähte. Sehr interessant für mich, wie
sich Namen und Fetzen von Berichten einprägen, wenn sie sowohl in der
Zeitung als auch im Fernsehen erscheinen. Das gibt es also wirklich, mag
sie gedacht haben, als ich auf ein kleineres, altes Gebäude hinwies, in
dem Kurt Aeschbacher seine Gäste für Fernsehsendungen empfängt.
Heute berührt es mich, wenn ich realisiere, wie die Architekten
dieses Trendquartiers mit den Zeugen aus alter Zeit umgehen. Sie liessen
jene Teile stehen, die alte Baukunst repräsentieren. Markant an der
Halle, in der einst Schiffe gebaut wurden, ist die mächtige
Eingangsfront mit dem aus rotem Backstein geschaffenen Halbkreis-Sturz.
Dann im Innern das Stahlträgergebälk, an dem die Laufkatze (der
Laufkran) in alle Richtungen geschickt werden konnte. Hier waren
verschiedene Berufsleute an der Arbeit. Die wichtigsten: Kesselschmied,
Metallgiesser, Mechaniker, Dreher, Kranführer.
Und heute werden in dieser Halle Schauspiele aufgeführt. Der
„Schiffbau“ ist die Zweigniederlassung des Zürcher Schauspielhauses
geworden.
Da ich selber in einer Fabrik, jedoch nicht aus der Metallbranche,
aufgewachsen bin (meine Eltern waren als Hauswarte angestellt), sind mir
solche Räume bekannt. Auf den ersten Blick fühle ich etwas
Heimatliches, aber gleichzeitig erinnere ich mich an einen gewissen
Mief, der sie umgab. Viel Grau, viel Lärm und Gestank. Und die Arbeiter
mussten um minimale Rechte kämpfen. Ich wünschte mir damals ein
menschenfreundlicheres Leben und eine hellere Zukunft.
Vreni und ich hatten den Schiffbau betreten. Wir standen in der
Eingangshalle, schauten nach den vielen alten Zeugen aus und sahen
selbstverständlich auch in das noble Restaurant hinein. Hier verfilzen
sich Vergangenheit und Gegenwart.
Die jungen Menschen feiern das Abgegriffene und Ausrangierte und
auch den gebrauchten, grauen Stein. Ich sehe darin einen beeindruckenden
Respekt unseren Vorfahren gegenüber. Auch ich bewundere immer noch die
Baukunst von einst, die als vorindustrielles Handwerk entstanden ist.
Jedes Produkt war ein unverwechselbares Original.
Wenig wertvolle Originale haben wir an unserem einstigen Wohnort
„Am Wasser“ in Zürich-Höngg vorgefunden. Störend sind speziell die
überdimensionierten Tankstellen. Da stand Vreni einfach da und schaute.
Und mir war es, als ob sich eine Computermaus über diesen Ort bewegte
und uns allerlei Stichworte aufscheinen liess. Da hatten wir als junge
Mütter viel erlebt. Schon längst verstorbene Menschen standen wieder
auf, traten für ein paar Minuten in unser Leben, holten gute und andere
Erinnerungen hervor. Und wir versuchten, das Milchgeschäft von Hubers,
die Metzgerei Baumann, den Salon Caroline und auf der anderen
Strassenseite die Schuhmacherwerkstatt von Turrins an ihre damaligen
Orte zu platzieren.
Dann entführte ich Vreni noch nach Zürich-Altstetten in mein neues
Zuhause. Diese Gegend war ihr völlig fremd. Sie muss ob all dem
Geschauten etwas orientierungslos geworden sein. Als ich sie dann zum
Farbhof begleitete und sie den Zweier (Tram Nr. 2) erspähte, leuchtete
ihr Gesicht. Diese Linie kannte sie. Ihr Heimweg war gesichert. Ab
Zürich-Stadelhofen konnte sie mit der Forchbahn heimfahren.
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