Sonntag, 22. April 2018

Unser Zürich-Höngg — Schatten alter Erinnerungen

Dieser Tage kamen wir wieder einmal nach Höngg. Hier begann vor 55 Jahren das gemeinsame Leben.

Wir besuchten die Ausstellung der farbig ausstrahlenden FIERZ-BILDER in den Räumen der HÖNGGER-ZEITUNG.
Nach dem Ausstellungsbesuch begann unser Heimweg nach sehr langer Zeit wieder einmal auf dem Chilesteig den Rebhang hinunter, zum ersten gemeinsamen Zuhause «Am Wasser 145». Oben noch stillstehend, mit weitem Blick zur Innenstadt und an diesem Abend auch in die Alpen. Primo sinnierte später darüber, dass uns damals Weite von oben her und solche aus der Stube geschenkt worden seien. Wir wohnten im 3. Stock mit Blick auf die Limmat, die sich vor unseren Augen schlängelte. Weite umgab uns. Sie mag uns beeinflusst haben.
Das Haus war renovationsbedürftig und in keiner Weise komfortabel. Das WC pro Etage für alle Personen, nicht für die persönliche Familie. In der Stube stand ein kleiner Ofen. Mit Holz wärmten wir unser Zuhause. Im ersten Winter erlebten wir die Seegfrörni. Die Milchpackung, die ich in der mit einem Glasfenster abschliessbare Dachlukarne kühl halten wollte, gefror zum Eisklotz.

Wir fühlten uns glücklich an diesem Ort, weil wir unser Nest selber bauen konnten. Wir fühlten uns wohl, auch deshalb, weil Primo als Schreiner mit seinen Talenten für viele Reparaturen zuständig war.

Ein Beweis dafür: An einem Montagmorgen stand ein Polizist vor unserer Wohnungstür. Er sammelte Informationen. In der Nacht vom Freitag auf den Samstag sei die Polizei wegen einer Schlägerei in dieses Haus gerufen worden. Wie wir den Lärm erfahren hätten, wollte er wissen. Keine Ahnung! «Sie haben nichts gehört?» wollte er wissen. Und konnte es kaum glauben. Dann sagte er: «Einen solchen Schlaf möchte ich auch haben.»

7 Jahre gehörten wir hierher zu den Hönggern. Dann wurde das Haus verkauft und die Mieter fortgeschickt.

Heimweh bekamen wir nicht. Aber Erinnerungen sind wertvoll.

An diesem Abend nach dem Besuch im HÖNGGER war mir, wie wenn mein inneres Archiv Spass hätte, mir Bilder aus unserem damaligen Leben als eine Art Dia-Schau vorzutragen.

Da war z.B. Felicitas, die sich im Kindergarten mit Thomas anfreundete. Seine Familie lebte nur fünf Minuten von uns weg. Sie bewohnte ein sehr schönes Haus an der Limmat. Hin und wieder kam Thomas zu uns zu Besuch. Dann stürmte er sofort in die Stube, sprang aufs Sofa, schaute zum Fenster hinaus, sah den Verkehr auf der Europabrücke und rief jedesmal: Ihr habt einfach die beste Wohnung. Das grösste Schauspiel war für ihn die Sirene der Ambulanz. Sie elektrisierte ihn.
Kurz zuvor, bevor die Europabrücke eröffnet wurde, konnten wir Mütter noch auf der Brücke ohne Verkehr mit unseren Kindern im Kinderwagen spazieren. Heute ist so etwas nicht mehr vorstellbar.

Das Kino im Meierhof war auch so ein Ort, der in meinen Erinnerungen bebildert wurde, ebenso das Schulhaus, wo unsere erste Tochter ihre Schulzeit begann und wo im Herbst jeweils auf dem Schulhof eine bescheidene, geruhsame «Dorf-Chilbi» aufgebaut wurde. Ein Karussell, eine Schifflischaukel, ein kleiner Stand mit Schleckzeug, sie beglückten Kinder und Familien.

Ich erinnere mich auch an jenen Knaben, der auf dem Schulhausplatz immer dann auftrat, wenn sich hier etwas ereignete. Er spazierte mit einem Raben, der auf seiner Schulter sass. Er sprach mit ihm. Sie verstanden sich bestens. Wer die beiden entdeckte, stand still. Der Bursche lebte in Höngg, wusste offensichtlich immer genau, wo er Freude bringen und beachtet werden konnte.

Bevor das Hallenbad auf den Schulhausplatz gebaut wurde, war dieser weit offen. Am Abstimmungs-Sonntag kamen die Höngger jeweils aus verschiedenen Richtungen hierher. Das Schulhaus war ein sichtbarer Mittelpunkt. In bester Erinnerungen geblieben, ist mir jener Sonntag, als ich dort in Höngg erstmals als Frau abstimmen oder wählen durfte. Der Vikar aus der Katholischen Kirche nebenan grüsste uns und sagte: «Aha! Frau Schweizerin stimmt ab.»

Das Hallenbad wurde erst später auf dem Schulhausplatz aufgebaut. Noch immer empfinde ich diesen Ort, wie wir ihn heute sehen als eine Bausünde. Verschandelt und den schönen Platz verdunkelt.

An diesem erwähnten Abend in Höngg kamen wir auch an der Apotheke am Meierhofplatz vorbei. Sofort schauten wir uns an und signalisierten einander, dass wir uns gerade jetzt an jene persönliche Geschichte erinnerten, die sogar im Radio als wichtige Mitteilung ausgestrahlt wurde.

Am Morgen jenes Tages kaufte ich hier, wie auch schon, Augenwasser für Säuglinge, wie es die Hebamme in der Mütterberatung vorschrieb.

Gegen Abend telefonierte mir dann eine aufgeregte Nachbarin und wollte wissen, ob ich an diesem Tag in der Höngger-Apotheke Augenwasser gekauft habe. Ja! Ob ich dieses schon benützt habe?
Nein!

Oh, Gott sei dank rief sie entlastend. Sie hätte sofort an mich gedacht, nachdem die Mitteilung im Radio verlesen worden war. Würde ich diese Tropfen benützen, könnte unser Kind erblinden, hiess es.

Dass ich gefunden wurde, ist ein Wunder. In der Apotheke war ich nicht mit Namen bekannt. Alle, die an dieser Geschichte beteiligt waren, konnten dann dankbar aufatmen, als ich die ersehnte Antwort geben konnte, ich hätte die Tropfen noch nicht benützt. Bis man mich fand, muss die mich bedienende Apotheker-Helferin schrecklich gelitten haben.
Meiner Nachbarin Frau Baumann sei Dank!

Wer so etwas erlebt hat, denkt dankbar an die Schutzengel.

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