Und doch konnte uns diese Stadt sofort für sich einnehmen. Nicht nur weil wir hungrig waren. Annecy ist ein Bilderbuch-Ort mit einer schönen Altstadt, dem Fluss Thion und dem See Lac d’Annecy. Er werde öfters mit Venedig verglichen, wurde uns gesagt. Er zieht Touristen an. Entsprechend der Sturm auf Zwischenverpflegungs-Stände und Gasthäuser.
Stehen geblieben sind wir eine ganze Weile bei einer jungen Frau, die mit einer Geige spielenden Marionette aufgetreten ist. Geschickt führte sie deren Bewegungen so, dass diese mit der Musik ab Band übereinstimmten. Schade, dass mein Fotoapparat keine Bilder mehr aufnehmen konnte.
Etwas später landeten Primo und ich im Gasthaus Le Ramoneur Savoyard, ohne zu wissen, wer ein ramoneur sei. Die Antwort gab uns dann der Dictionnaire und weitere Informationen fanden wir auf den papierenen Tellerunterlagen, den Tischsets.
Der Ramoneur ist Kaminfeger. Zur Zeit, als Savoyen noch nicht zu Frankreich gehörte, seien viele Kinder nach Paris ausgewandert. Dort wollten sie oder mussten sie Kaminfeger werden. Eine harte, undankbare Arbeit, denn jene, die sie anstellten, nützten sie aus. Sie wurden mager entlöhnt und vermutlich wie Sklaven behandelt. Die Arbeitgeber missbrauchten die jugendliche Konstitution und Kraft dieser Kinder. In der Schweiz kennen wir ebensolche Geschichten. Armut und Hungersnot und ein Leben ohne Perspektive brachten Eltern aus der Südschweiz damals dazu, ihre Kinder als Kaminfeger nach Mailand zu verdingen.
Von den Ramoneurs Savoyards weiss man offenbar, was ihnen half, die harten Bedingungen zu ertragen. Mit Singen. Singen auf den Dächern, in den Händen den Russ ihrer Arbeit und den Blick zu den Sternen gerichtet. So ungefähr habe ich den Text auf dem Tischset verstanden.
Diesen jungen Menschen ist das Gasthaus gewidmet. Es besteht seit 1990. Hier werden hochwertige Produkte von lokalen Produzenten verarbeitet. Hier haben wir eine liebevolle Kochkunst kennen gelernt. Und hier seien schon mehr als 30 Lehrlinge als Köche und Serviceangestellte ausgebildet worden. Ein Erfolg.
Aus einer umfangreichen Karte wählten wir Polenta und Saucissons. Polenta haben wir in Frankreich noch nie gegessen. Hier wurde diese Speise für jede Portion einzeln in einer kleinen, gusseisernen Schale gekocht und heiss mit Wärmeschutz-Handschuhen serviert. Separat die Saucissons in einer zu ihnen passenden, heissen Sauce. Und Brot zum Tunken. Sehr fein.
Dazu erwies sich das Amber-Bier als überraschende Ergänzung. Ein Mittagessen mit Geschichte. Das Dessert aus diesem Haus: Le voilà!
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