Dienstag, 9. Juni 2015

EXPO 2015 nur für Italienisch und Englisch Sprechende?

Eigentlich ist mir das aus Deutschland eingewanderte Wort „aussen vor“ für ausserhalb oder draussen immer noch fremd. Aber in Milano verstand ich seine Aussage wie nie zuvor.
 
Ich befand mich ausserhalb meiner Sprache. An der EXPO2015 dominieren Italienisch und Englisch. Wir haben in den von uns besuchten Pavillons nur 3 Auskuntfs-Personen angetroffen, mit denen ein vertieftes Gespräch entstehen konnte. Klar, das ist ein persönliches Problem von Primo und mir. Aber dass keine Ausstellungsführer in deutscher und vielleicht auch in andern Sprachen vorliegen, empfinden wir als Mangel. Eine Italienerin, die Drucksachen verkaufte, umarmte mich, entschuldigte sich für ihr Land, dass man nicht an die Deutschsprachigen gedacht habe. Viele würden sich darüber beklagen. Wir seien doch Nachbarn.

In der Rückschau wundere ich mich, wie gut verständlich unsere holprigen Sätze bei ihr angekommen sind. Wir verstanden einander in grosser Herzlichkeit. Und dank Letizia, die Italienisch gut versteht.

Im Schweizer Pavillon, Bereich Spirito di Basilea, begegneten wir dann Friedrich Nietzsche. Seine Büste sprach vom Sockel herab. Auf die weisse Figur wurde ein Film mit Ton gesendet, der den Philosophen lebendig erscheinen lässt. Wenn er spricht, bewegen sich Augen und Mund. Wir haben ihm zugehört und ihn gut verstanden. Er sprach deutsch.
 
Weil wir im Pavillon von Grossbritannien die englisch gesprochenen Erklärungen nicht verstanden, bemühten wir uns, das dargestellte Thema eigenständig zu ergründen. Primo ahnte, dass es sich um ein wichtiges Thema handle und verwies auf die Energie. Er erinnerte sich an Erkenntnisse aus der Ausstellung „Phänomena“ (Zürich, 1984). Ebenso dachte er an Erfindungen von Buckminster Fuller, als wir vor dem filigranen Gebilde standen. Die miteinander verbundenen, gleichschenkligen Dreiecke verwiesen auf ihn.
 
Schlussfolgerung: Hier wird pulsierende Energie dargestellt. Ausgelöst durch Besucher, die sich auf dem Glasboden bewegen und das Gebilde in einen Erregungszustand bringen.
Später entdeckte ich eine Beschreibung dazu. Es handelt sich um einen 17 m hohen virtuellen Bienenstock, der pulsiert. Am späten Abend sahen wir diesen als Kugel, von tausenden LED-Lämpchen farbig leuchten. Sie wirkte sphärisch. Sie bewegte viele Menschen. 
Von der Biene und mehr noch von unserem Verhältnis zu ihr, hängt unser Sein oder Nichtsein ab.
 
In der RAILTOUR-Informationsbroschüre habe ich schlussendlich auch noch deutsch geschriebene Hinweise zu den 48 Länder-Pavillons gefunden. Grossbritannien schreibt zu seinem Auftritt: Das Design ist durch die einzigartige Rolle, welche die Bienenstöcke in unserem Ökosystem haben inspiriert.Das weltweite Bewusstsein über die Auswirkungen der Nahrungsmittelproduktion und -verbrauch auf das Leben aller Menschen soll mit diesem Beitrag erhöht werden.
In diesem Pavillon für Grossbritannien führte ein Labyrinth-ähnlicher Weg ins Zentrum. Gestaltet mit hölzernen Kisten, in denen Wiesengras und Blumen wuchsen. So platziert, dass wir dieser Wiese auf Augenhöhe begegnen konnten. Formen und Grösse aller Halme ergaben den Eindruck von einem filigranen Gesamtkunstwerk. Sie hatten sich zu einem prächtigen Spitzenmuster formiert. Ihre Erde muss gesund sein. Und durstig waren sie nicht.
 
An anderen Orten beelendet es einen. Da wurden Moose oder Gräser wie Tapeten an die Wand platziert, wo nährendes Wasser davon rinnen muss und versickert. Es stimmte uns traurig, verdorrtes Grün zu sehen. Die Betreuung einiger Pflanzen erschien uns zur Zeit unseres Besuchs Ende Mai 2015 sorglos und entsprach dem Motto der gesamten Weltausstellung nicht.
 
Fortsetzung folgt.

Samstag, 6. Juni 2015

EXPO Milano: Highspeed-Besuche in vielen Ländern

Was würde auch mein ehemaliger Deutsch-Lehrer zum oben erwähnten Titel sagen? Er impfte uns vor beinahe 60 Jahren grosse Vorsicht den Fremdwörtern gegenüber ein. Sie zu gebrauchen, sei Glückssache.Glückssache jetzt für mich. Ich suchte nach einem Wort oder Wortspiel, das unser gegenwärtiges Leben charakterisiert und fand es zufällig in einer Comic-Sprechblase. Darin redete eine Figur vom Leben in einer Highspeed-Welt.
 
Alles vollzieht sich heute schnell, schneller als noch vor wenigen Jahren. Viele Orte sind in kurzer Zeit erreichbar. Menschen aus allen Kontinenten können reisen. Viele im Hochgeschwindigkeitszug oder im Flugzeug. Und eine Weltreise an die Expo Milano antreten. Wir reisten in der Eisenbahn dorthin. Zu dritt. In nur 4 Stunden befanden wir uns in Mailand. So nennen wir Milano im Schweizer Dialekt.
 
Nach der Ankunft  blieben wir eine Weile auf dem Perron stehen und liessen die schwungvoll überdachte Bahnhofhalle auf uns wirken. Mitreisende hasteten an uns vorbei, ihren persönlichen Zielen zu. Wir blieben einfach nur stehen, bis aus dem Lautsprecher ein Hinweis ertönte, es stehe kein Zug zur Abfahrt bereit. Bitte nicht einsteigen.
 
Diese Mitteilung, offensichtlich an uns gerichtet, wirkte wie ein Schub. Wir griffen zu den Rollkoffern, verliessen die Halle, fanden unser Hotel in der Nähe. Der Reiseanbieter RAILTOUR hatte unsere Vorgaben umgesetzt, Zimmer im Starhotel E.C.HO reserviert und uns mit den erforderlichen Fahrkarten für Eisenbahn-, Metro- und EXPO-Eintrittsbillette ausgerüstet. Wir waren mit allen Dienstleistungen und Informationen sehr zufrieden.
 
Wir reisten mit der Metro ins Ausstellungsgelände. Und dort kam nochmals der Gedanke an eine Weltreise auf. Die Sicherheitskontrolle, wie sie am Flughafen üblich ist, wurde streng durchgeführt. Die Liste aller verbotenen Gegenstände würde hier einige Linien beanspruchen. Wichtig ist zu wissen: Auf dem Expo-Gelände gibt es keine Möglichkeit, Gepäck aufzubewahren.
 
Nach den erwähnten Schleusen trafen wir auf eine Schar Kinder. „Unsere Zukunft“, dachte ich. Wichtig wird sein, was ihnen Lehrer und Begleitpersonen hier vermitteln können. Immer wieder begegneten wir solchen Schwärmen. Begleitet von Spass und Lebensfreude.

Über eine hohe Treppe erreichten wir eine breite Brückenrampe. Sie überquerte Bahnlinien und eine Autobahn. Hier spielten Licht und Schatten mit Gittermustern, unterstützt von Sonne und Wind. Gepackt von ihren Bildern, die sie auf die Passerelle warfen, wurden wir nicht müde, empfanden den langen Anmarschweg sogar spannend. Am Abstieg der Passerelle zog uns ein unbekannter Blütenduft an. An der hohen Seitenwand wuchs eine flächendeckende Pflanze und ihre Blüten strömten verführerische Düfte aus. Sie verstand es, uns zu stoppen und einen Augenblick bei ihr zu verweilen. Dieser Duft wird noch lange mit der EXPO 2015 verbunden sein. Ein Militärpolizist nannte uns ihren Namen: Jasmin.
 
Auf dem EXPO-Gelände angekommen, zog es Letizia gleich zum Stand von GROM GELATO, dem sogenannt weltweit besten Glacé. Es erfrischte uns und wir wussten: Wir sind angekommen.

Danach fügten wir uns in die Hauptstrasse im Ausstellungsgelände ein. Aufgefächerte Sonnensegel überdachen sie. Sie filtern das Licht ohne das südliche Element in ihm zu verdrängen. Auf dieser breiten Strasse bewegten und bewegen sich sehr viele Menschen, ganz individuell. Wir haben keine Wegweiser, keine Befehle angetroffen. Es gab keine Gänge, wie z. B. in der Metro, wo Weg und Ziel vorgegeben sind. Jede Person entscheidet hier unabhängig, wohin sie gehen will. Mir fiel auf, dass sich alle Menschen, die uns am 1. Tag entgegenkamen, schneller bewegten als wir. Da waren wir noch die Staunenden, eben erst Eingetroffenen. Wir schlenderten, andere gingen zielbewusst einher. Oder befanden sich schon auf dem Rückweg.
Wir besuchten das EXPO-Gelände 3 x, jeweils am Nachmittag bis in den Abend hinein.
Am 1. Tag suchten wir Übersicht. Aber wir erreichten das Ende der Hauptstrasse noch nicht. (1.5 km lang) Unser Schritt veränderte sich erst am 2. Tag. Es war eine gewisse Übersicht und dazugehörige Zielstrebigkeit in uns gewachsen. Wir wussten jetzt besser, wohin es uns zog. Wir getrauten uns, auch hinter die Fassaden zu schauen, in Seitenwege einzubiegen und Pavillons zu betreten. Und wir mussten einsehen, dass eine so gigantische Ausstellung viele Tage, oder sogar einige Wochen beanspruchen würde, wollte man allen hier anwesenden Ländern gerecht werden.

Das Motto der Weltausstellung lautet 
DEN PLANETEN ERNÄHREN. ENERGIE FÜR DAS LEBEN.
Den Schweizer Pavillon entdeckten wir relativ rasch, und am Abend konnten wir schon beobachten, wie viel von der dort offerierten Nahrung weggenommen worden ist. Die obersten Räume in den Türmen waren beleuchtet.

Besucherinnen und Besucher dürfen im Schweizer Pavillon Nahrungsmittel beziehen. Salzpakete aus Schweizer-Salinen, Wasser, Apfelringe, Kaffee.

Es wird sich herausstellen, wie es um die Ansprüche der Gäste steht. Soviel ich weiss, dürfen sie dort für sich so viel wegnehmen, wie sie sich vorstellen, was ihnen zustehe. Es geht um das gerechte Verteilen. Wenn viele zu viel nehmen, hat es für andere zu wenig. Wird der eingelagerte Vorrat bis Ende Oktober ausreichen? Wenn die EXPO im Herbst ihre Tore schliesst, wissen wir, wie es um die Verantwortung den Ressourcen gegenüber steht.

Gerne würde ich dort oben unsichtbar verweilen und zuschauen, wie sich solche Freiheit manifestiert. Ob sie immer von Rücksicht begleitet ist.

Mir gefällt dieser Auftritt meines Heimatlandes. Ich werde bis Ende Oktober aufmerksam bleiben und auf Erfahrungen und Reaktionen hören.

Sonntag, 24. Mai 2015

Den Wallisern zuhören, wenn sie von der Seele reden

Der Film WINNA, Weg der Seelen wurde auch in Zürich gezeigt. Seine Geschichte spielt im Kanton Wallis. Dort leben immer noch Menschen, die alte Geschichten und altes Wissen respektvoll hüten. Die geografische Lage ihrer Heimat grenzte sie noch vor 100 Jahren im Winter von der Deutschschweiz ab. Darum sprechen echte Walliser immer noch von der Üsserschwyz (der Ausserschweiz), wenn sie uns, jenseits der Berge, meinen.
Diese Gegebenheiten brachten Menschen hervor, die eigenständig und sich selbst treu sein wollen. Beziehungen mit Wallisern verdanke ich viel. Sie nahmen mich mit in ihre Welt, ganz speziell in ihre Bergwelt. Sie erschlossen mir und meiner Familie viel vom Reichtum ihrer Mentalität und auch von ihrer warmherzigen, bodenständigen und klangvollen Sprache, ihrem Dialekt. Und seit jeher haben mich ihre Sagen angesprochen. Vor Jahrzehnten sendete das Schweizer Radio viele Walliser Sagen in unsere Stuben.
 
Als ich eine erste Filmbesprechung über den eingangs erwähnten Film las, war sofort klar, dass ich ihn sehen wollte. Es hiess, er sei eine Verbindung von Totensagen, übersinnlichen Erlebnissen und grandioser Walliser Bergwelt.
 
Im Film wurde einer Schulklasse aufgetragen, in ihrem Umfeld nach Geschichten rund um die wandernden Seelen zu fragen. Antworten von verschiedenen Personen und Persönlichkeiten bilden das Gerüst des Films. Eine junge Seherin und Therapeutin kann die Seelen sehen. Sie berichtet, dass sie von dieser Gabe anfänglich sehr belastet worden sei. Nach einer besonderen therapeutischen Schulung kann sie heute ihre Begabung als Aufgabe verstehen.
 
Im Film sahen wir den Gratzug dargestellt. Die auf einem Bergkamm wandernde Prozession von unerlösten Seelen. Lichttragende Gestalten in weissen Umhängen. Altvordere sollen solche gesehen haben. Nachfahren sprechen im Film davon.
 
Mit dem Wort Seele wollen heute viele nichts mehr zu tun haben, weil es ein Leben nach dem Tod voraussetzt. Aber der Begriff der guten Seele – eines Menschen, der vorurteilslos auf andere zugehen und hilfsbereit handeln kann – ist immer noch geläufig.
 
Aus meinen ersten Lebensjahren in der Grossfamilie hüte ich immer noch Geschichten, die mit dem Tod und einem Leben danach verbunden sind. Als kleines Kind erlebte ich, wie Todesfälle die Verwandten veränderten. Sie wurden milder. Vor allem die sonst allwissenden Männer. Sie erzählten sich Geschichten, die ins Jenseits verwiesen. Ich hörte auch, wie sie von verwandten Toten träumten. Und später kamen ähnliche Geschichten aus der Familie meines Ehemannes hinzu. Immer gab es die Schwelle und das Leben danach. Manchmal wurden auch Zeichen erkannt, die einen Tod meldeten. Z. B. wenn ein Bild von der Wand fiel. Von solchen Zeichen wird auch im Film gesprochen.
 
Auch im erwähnten Gespräch mit der Seherin erfahren die Kinogäste, dass viele Seelen noch nicht heimgekehrt seien, die Schwelle einfach nicht übertreten wollen. Da befand sie sich im Film im Stockalperpalast in Brig VS und zeigte mit einer Geste, hier wimmle es von herumgeisternden Seelen.
 
In jungen Jahren, als ich in Paris arbeitete und mit einer Nonne aus dem Kloster der Helferinnen der armen Seelen (Les auxiliatrices des âmes du purgatoire) befreundet war, muss ich mich dort in Gesellschaft mit noch nicht heimgekehrten Seelen befunden haben. Gespürt habe ich sie nicht. Rückblickend denke ich daran. Dieser Orden war den sogenannt armen, also noch nicht erlösten Seelen gewidmet. Hier wurde für deren Erlösung gebetet.
 
Das Diesseits und das Jenseits waren in meiner Familie unangefochtene Dimensionen.
 
Allerlei Erfahrungen in meinem Leben deuten für mich darauf hin, dass unsere Seelen, nachdem sie ihren Körper auf der Erde zurückgelassen haben, zum Ursprung zurückkehren. Wir bringen das Leben, das wir gelebt haben, mit verschiedensten Leerblätzen (ein Dialektausdruck) zurück. Leerblätze sind Lehrstücke oder Lappen, an denen man flicken gelernt hat. Eigentlich Lehrblätze, doch mit ee steht's im Zürichdeutschen Wörterbuch (NZZ-Verlag).
 
Vielleicht? Wahrscheinlich? Oder möglich, dass unsere Diesseitserfahrungen im Jenseits wertvoll sind und in ferner Ferne nachgeborenen Menschen als geläutertes Wissen, Weisheit, Liebe und auch als spezielle Talente zur Verfügung stehen.
 
Ein Zitat von Raketeningenieur Wernher von Braun sitzt schon Jahre lang in meinen Gedanken und unterstützt sie:
 
Die Unsterblichkeit der Seele muss existieren. Als Wissenschafter weiss ich, dass nichts je verloren geht, sondern sich einfach verändert. Nach dem Tod muss ,die Seele‘ – oder wie man es nennen will – irgendwo sein, muss sich in etwas anderes umformen. Nichts löst sich je in nichts auf.

Donnerstag, 16. April 2015

Meine persönliche Briefmarke fand ihren Weg zurück

Zu meinem letztjährigen Geburtstag wurden mir persönlich gestaltete Briefmarken geschenkt. Die ganze Familie war an der Produktion beteiligt. Die Töchter, der Ehemann, der Schwiegersohn und die Enkelinnen. Alle stellten ein Sujet zur Verfügung, einige eine Foto, die andern ein extra dafür gemaltes Bild.
DIE POST – so der Name der Schweizerischen Post – ermöglicht es, mit dem Programm „WebStamp" persönliche Briefmarken herzustellen.
 
Letizia sammelte die Bilder und realisierte über das erwähnte Onlinetool einige Bogen Briefmarken zu den Tarifen Fr. 1.– für das Inland und Fr. 1.40 für Europa. Mit ihnen schmückte ich einen Teil der Weihnachts- und Neujahrspost.
 
Heute besitze ich nur noch 2 Exemplare, und diese hüte ich wie eine wertvolle Antiquität. Es sind 2 Stücke aus der Serie von Letizia, die eine Foto aus meiner Jugendzeit verwendete und sie mit der Zahl meines Alters, dem Text Grosy Grand-mère ici voilà und einer überragenden Königskrone gestaltete.
Ende Februar kam einer dieser Briefe als unzustellbar zurück. Er konnte unserem Freund Frank nicht zugestellt werden, weil er von Aachen weggezogen war. Die deutsche Post sandte deshalb den Umschlag in die Schweiz zurück. Und hier musste noch nach mir gefahndet werden. Ich war nachlässig gewesen, hatte keinen Absender auf den Umschlag gestempelt.
 
Da erwies sich der Code auf der Briefmarke als Wegweiser. Die zu ihr gehörende Auftragsnummer und Postleitzahl führten dann zu Letizia. Sie hatte die Briefmarken realisiert, ihr wurde der unzustellbare Brief zurückgegeben. Und sie schickte ihn sofort weiter zu mir, dass sich der Kreis der Reise schliesse und meine Glückwünsche an Franks neue Adresse nochmals starten konnten.
 
Als ich ihn über E-Mail informierte und nach der aktuellen Adresse fragte, schrieb er: „Das ist ja unvorstellbar. Ich wusste nicht, dass man bei Euch selber Briefmarken gestalten kann, finde es aber eine schöne Idee. Aber dass aufgrund dieser Marke dann ein absenderloser Brief zurückrecherchiert wurde, ist unglaublich.“
 
Ich sandte ihm den ursprünglichen Weihnachtsgruss, der in Aachen nicht zugestellt werden konnte im Umschlag der Schweizer Post, adressiert an Letizia. Und ich schob diesen auch noch in jenes Couvert, das Letizia für die Rücksendung zu mir benützt hatte.
 
Frank reagierte sofort, als die angekündigte Sendung eingetroffen war. Er antwortete auf die Glückwünsche. Und weiter schrieb er: „Und dann habe ich den von Dir beschriebenen Postweg nochmal schön gedanklich durch die einzelnen Umschläge nachvollziehen können. Das ist wirklich eine tolle Geschichte!!
Ich danke ganz herzlich dafür!“
 
Es ist eine perfekte Geschichte, empfinde ich. Sie zeigt, wie verantwortungsvoll die Institution Post in diesem Fall in Deutschland und in der Schweiz mit unseren Sendungen umgeht. Erst eine Unstimmigkeit aus ihrer Kundschaft zeigt dann die offensichtlich stets präsente Qualität auf.
 
Auch ich danke. Was wäre auch mein Leben ohne die Post?

Freitag, 27. März 2015

Von Menschen, ihren Geschichten und ihren Welten


Vor ein paar Wochen wurde mir das nur noch antiquarisch käufliche Buch Von der Aare bis zur Wolga zum Lesen übergeben. Die Lebensbeschreibung eines wandernden Schweizer Handwerkers. 1938 im Verlag Walter Loepthien, Meiringen und Leipzig, erschienen. Ein Juwel.
Hans Hermann Eichenberger ist der Erzähler der eigenen Lebensgeschichte. Eduard Röthlisberger bearbeitete seine von Hand geschriebenen Aufzeichnungen. Ob Röthlisberger der Verleger oder ein Schriftsteller war, ist mir nicht bekannt.
 
Er berichtet im Vorwort („Zum Geleit“), vom Besuch „eines Mannes, nahe der Grenze des patriarchalischen Alters“, der ihm 4 umfangreiche Hefte vorlegte. Er bat um Durchsicht seiner Erinnerungen und wollte wissen, ob Röthlisberger diese durchlesen und vielleicht verarbeiten wolle. Viele seiner Bekannten hätten ihn gedrängt, seine aussergewöhnlichen Erfahrungen aufzuschreiben. Er sei 24 Jahre lang als Handwerksbursche in der weiten Welt herumgekommen. Geboren wurde er 1860 in Zofingen, Kanton Aargau.
 
Röthlisberger erwärmt sich nach und nach für diesen alten Mann. Er nennt ihn Greis. Im Vorwort schrieb er: „Mit Händedruck scheiden wir. Unverzüglich vertiefe ich mich – es ist abends 6 Uhr, als ich damit beginne – in das Manuskript. Es ist nicht leicht, sich dem durch das Fehlen fast jeglicher Interpunktion entstandenen Wirrwarr zurechtzufinden. Unbekümmert um die elementarsten Gesetze der Orthographie ist das Ganze niedergeschrieben. Ich lese und lese und bin gefesselt, denn aus diesen Blättern spricht eine Lebensauffassung von geradezu erschütternder, fast kindlicher Einfachheit. Ich wende das letzte Blatt um, als draussen der neue Tag heraufdämmert."
 
„Eichenbergers Aufzeichnungen erschienen dann unter Beibehaltung seines Stils, jedoch in einer flüssigeren Form und unter seinem Namen.“ Röthlisberger begleitete das Kunstwerk dieses Mannes respektvoll in die Welt hinaus.
 
Schon das Geleitwort strahlt Aussergewöhnliches aus. Es packte mich. Ich las es Primo vor. Und sofort waren wir uns einig, dass dieses Buch mit seinen 146 Seiten vorgelesen werden muss. So hielten wir es. Die Geschichte wurde für uns lebendig. Es entstand ein gemeinsames Erlebnis, und wir freuten uns auch, dass wir die alte deutsche Frakturschrift immer noch problemlos lesen können.
 
Alle Erlebnisse sind kurz und bündig, dicht beschrieben und packten uns in ihrer Einfachheit. Auch wir erwärmten uns für diesen unerschrockenen, offensichtlich freundlichen und tüchtigen Mann.
 
Als er auf die Welt kam, waren die Verhältnisse in seiner Familie alles andere als intakt. Sein Vater starb, noch bevor er 2 Jahre alt war. Von seiner leiblichen Mutter wird in seinen Aufzeichnungen nicht gesprochen. Von der Stiefmutter schon. Einer Person, die dem gängigen Bild der Stiefmütter aus den Märchen entsprach.
 
Zank und Streit müssen Dauergäste gewesen sein. Nur bei der Grossmutter fand Eichenberger Liebe und viel Verständnis. Ihr durfte er alles berichten und seine Anliegen anvertrauen. Umso trauriger dann ihr Tod. Ein grosser Verlust. Er schrieb dazu: „Am Morgen des Sterbetages ging der Grossvater ins Dorf, um entsprechend dem Brauch zur Leiche anzusagen. Der Bruder marschierte derweil nach Wildegg zum Doktor. Ich legte mich zu der toten Grossmutter ins Bett, hielt ihren Hals umschlungen, klagte ihr, nun sei ich ganz allein und weinte bitterlich.“
 
Glück aber brachte ihm der Beruf. Es bot sich die Gelegenheit, eine Lehre als Kupferschmied anzutreten. Mir war das recht, schrieb er.
 
Freude am Formen und Gestalten, Freude an seinem Beruf, sie ermöglichten ihm, sich grosse Wünsche zu erfüllen. Schon immer wollte er in die Welt hinaus, spürte den Drang, sie kennen zu lernen. Sein berufliches Können unterstützte ihn. So wurde er zum wandernden Handwerker.
 
Er arbeitete in der Schweiz, in Italien, Österreich, Ungarn, Serbien, Rumänien, Polen und Russland. Überall wurde er, wie gerufen, willkommen geheissen und eingestellt. Überall konnte er wertvolle Arbeit leisten und wurde als umgänglicher, tüchtiger und auch als sparsamer Schweizer geschätzt.
 
St. Petersburg faszinierte ihn ganz besonders. Schon die Reise dorthin war aussergewöhnlich. Im Nachtzug machte der Schaffner gegen morgens 4 Uhr auf Wolfsrudel aufmerksam. Diese hatten den Zug erwartet, weil Reisende hier Knochen und Brot aus den Fenstern werfen. Eichenberger staunte über den Kampf um diese Nahrung und auch darüber, wie die Tiere dem etwa 100 Km schnellen Zug nachjagten. Er sprach von Bestien, die sich rauften und den Artgenossen die Bissen streitig machten.
 
4 Tage gönnte er sich, um St. Petersburg kennen zu lernen. Dann fand er auch hier wieder rasch eine gute Arbeit. Ihn begeisterten in dieser riesigen Stadt mit ihren 246 Kirchen die weltlichen und kirchlichen Feiertage. Besonders das Fest der Newa-Weihe - Segnung des Flusses - bewegte ihn. Er erlebte den Zaren mit der ihn umgebenden Pracht. Und er fühlte sich wohl unter den russischen Menschen.
 
Später in Nischni-Nowgorod wurde ihm dann eines Tages bewusst, dass er immer nur ein Fremdling gewesen war. Und er entschloss sich, in die Schweiz, in seine Heimat, zurückzukehren. Aber die Schweiz sah in ihm, dem Mann mit dem gigantischen Schnurrbart und der fremdländischen Kleidung, anfänglich wie anderswo, auch einen Fremden.
 
Nach und nach fand er aber auch hier wieder Freunde und Geselligkeit. Er lebte auf. Und als er dann eine junge Frau kennen lernte und begriff, dass eines das andere verstand, heirateten sie. Als Überraschung für die Braut führte die Hochzeitsreise nach Wien. Dort feierte man gerade den 1. Mai, und das Hochzeitspaar begegnete dem Kaiser. Sie hätten Glück gehabt, schrieb er. „Die Kavalkade kam ganz nahe an unserem Wagen vorüber. Wir hatten uns erhoben. Ich nahm vor seiner Majestät den Hut in die Hand und verneigte mich. Der Kaiser salutierte freundlich.“
 
Seine Frau, die er liebevoll s‘ Müetti nannte, soll darob erschrocken sein. Er kenne den Kaiser doch nicht. – Er aber kannte ihn schon seit Jahren.
 
Wer kann schon solche Geschichten erzählen?
 
Vielleicht jener Mann, dem ich vor kurzem in Zürich an der Tramstation Paradeplatz begegnet bin?
 
Es war später Abend, und nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Auf der überdachten Bank sassen 2 Männer. Ein stiller Schweizer und ein Mann aus einem fernen, mir unbekannten Land. Der Schweizer hörte zu, was der Unbekannte erzählte. Dieser sprach ein gut verständliches Deutsch, doch die Aussprache liess an ein Land im mittleren Osten denken. Er trug eine vornehme Kleidung, die eine Uniform sein konnte, oder die ihn zu einem besonderen Volksstamm gehörend auszeichnete.
 
Wie ich später annahm, hatte der Schweizer diesem Mann vermutlich den Weg zur Tramstation gewiesen und wartete hier noch, bis das Gefährt eintraf. Der Paradeplatz ist eine wichtige Umsteigestation. Es kreuzen sich dort verschiedene Linien. Der Wegweisende wollte sicher sein, dass der Gast in die richtige Richtung fuhr.
 
Ich wurde auf die beiden aufmerksam, weil der Unbekannte laut redete. Ich hörte, wie er dem Wegweisenden erzählte, er habe für seine Frau eine Flasche Champagner gekauft. Er hielt sie in die Höhe und verwies noch auf die dazugehörigen Gläser in der Papiertragtasche. Er öffnete den Reissverschluss seiner grossen Umhängetasche, die aus demselben khakifarbenen Stoff wie seine Kleidung geschaffen war. War es eine Uniform oder eine Tracht? Mit Bordüren, speziellen Knöpfen und Bändern dekoriert. Und nicht zu übersehen, dass sie aus edlem Stoff geschaffen war. Dieser Tasche entnahm er ein ziseliertes Tablett. Er wolle es ebenfalls seiner Frau schenken. Sie habe ihm schliesslich 2 Kinder geboren.
 
Dann fuhr Tram Nr 2 an der Station ein und entführte ihn.
 
Wer war dieser Fremde? Ein Eichenberger aus der heutigen Zeit? Ich weiss es nicht.

Donnerstag, 5. März 2015

Vermutlich raubte mir eine Elektrosteckdose den Schlaf

Diese Geschichte habe ich schon vor 20 Jahren aufgeschrieben. Ich nahm damals an einem 2-tägigen Seminar zum Thema Meditation teil.

Ich übernachtete in einem einfachen Gästehaus. Nach Mitternacht erwachte ich. Ich fühlte Übelkeit. Stickige Luft liess mich kaum atmen. Ich wollte das Fenster öffnen, doch mein Gleichgewicht war gestört. Ich fühlte mich wie auf hoher See. Meine Augen konnten einen eingeschlagenen Nagel an der Wand nicht mehr als ruhenden Punkt wahrnehmen. Geduldig wollte ich warten, bis sich diese Wellen glätten würden. Dann fiel mir ein, dass ich die Zimmertür öffnen sollte, falls ich am Morgen nicht aufstehen könnte. Ich schwankte zur Tür, drehte den Schlüssel, öffnete sie. Etwas später gelang es mir, auch noch das Fenster zu öffnen.
 
Der linke Arm war beängstigend verkrampft und strahlte in die Herzgegend aus. Nur keine Panik aufkommen lassen! Ruhig wollte ich warten, bis der Sturm vorüber sei. Ich versuchte, bewusst zu atmen. Es fiel mir schwer.
 
In einem vorgefundenen Merkblatt dieses Gästehauses war vermerkt, dass die Telefonnummern 20, 30 und 400 benützt werden dürfen, wenn Hilfe nötig sei. Der Apparat befinde sich in der Mitte des Korridors, hiess es. Meine Kräfte reichten aber für diesen Weg nicht aus.
 
Ich fragte mich, was geschehe, wenn ich mich einfach hinlege und alles loslasse. Ob ich dann sterbe? Ich war aber gar nicht bereit dazu. Zudem sah ich mannigfaltige Verwirrung voraus.
 
Am frühen Abend hatte ich noch nach Hause angerufen und erzählt, was mir am Seminar missfalle (es gab abschätzige, diskriminierende Reaktionen jenen Schülerinnen oder Schülern gegenüber, die sich mit den Anleitungen nicht sofort zurecht fanden).
 
Das grosse Ganze aber gefiel mir. Am Telefon erwähnte ich es jedoch noch nicht.
 
Jetzt überlegte ich mir, dass ich ein falsches Bild hinterlassen würde, wenn ich noch in dieser Nacht stürbe. Mein Mann wüsste nicht, dass ich auch wertvolle Erfahrung gemacht habe. Er hätte gewiss einen Groll gegen die Veranstalter und würde ausrufen, sie hätten seine Frau fertiggemacht. (Später bestätigte er meine Vermutung.)
 
Auch aus meinen Notizen wäre man nicht klug geworden. Da waren nur Stichworte aufgeschrieben.
 
Und da war noch ein Buch, über das man sich gewundert hätte. Ich hatte es aus der Hausbibliothek aufs Zimmer mitgenommen und noch eine Weile darin gelesen. Es behandelte das Tätigkeitswort „segnen". Angekommen war ich beim Kapitel „Das Zeitliche segnen". Was sich da alles zusammenfand und ein völlig falsches Bild abgegeben hätte! Ich legte mich wieder ins Bett, diesmal ans Fussende, um einer Elektrosteckdose auszuweichen. Dann packten mich die Rufe des Käuzchens, das sich ganz in der Nähe bemerkbar machte. Weil ich zu diesem Vogel eine ganz besondere Beziehung habe, horchte ich hin, wollte seine Botschaft verstehen. Darüber muss ich eingeschlafen sein.
 
Am Morgen begrüsste ich den neuen Tag, begrüsste das Leben in mir. Ich fühlte mich wieder gesund. Nachdem ich die erlebte Geschichte nochmals überblickt hatte, erschien sie mir wie ein Hirngespinst und war doch wahr. Dann lachte ich. Und dieses Lachen räumte noch die allerletzten Verspannungen aus mir heraus.
 
Und bis heute gebe ich mir Mühe, möglichst keine einseitigen Bewertungen mehr auszusprechen.

Sonntag, 1. März 2015

Das Velo aus dem Winterschlaf geholt und ausgefahren

In den Wintermonaten tranken wir Milch aus der Packung. Jetzt aber pedale ich wieder zum Bauernhof und hole dort Frischmilch. Vor wenigen Tagen, als letzte Schneeflecken und Eiskristalle an den Strassenrändern verschwunden waren, eröffnete ich unsere persönliche, neue Milchsaison.
Es war ein besonders heiterer Tag. Die Sonne vermochte den zähen Hochnebel endlich aufzulösen und ihr Licht wieder in alle Winkel auszustrahlen. Auf der Strasse, im Bus und Tram war dieses Licht ein dankbares Gesprächsthema. So muss Freude an der wieder sichtbaren Sonne im hohen Norden empfunden werden, wenn die Polarnacht zu Ende ist und erste Sonnenstrahlen auftauchen. Diesen Augenblick nennen sie die Wiederkehr des Lichts.
 
Auf den Wiesen in meinem Umfeld hatte sich über Nacht Raureif gebildet. Er begann sich aufzulösen, als ich mit dem Velo zum Bauernhof nach Schlierenberg fuhr. Einige der gerade entstandenen Wassertröpfchen blitzten rot auf, als ob sie Kristalle wären.
 
Die Sonne wärmte meinen Rücken. Mein Schatten fuhr vor mir her, begleitete mich auch, als die Strasse der ursprünglichen Ost-West-Richtung nicht mehr folgte. Jetzt sah ich mein Abbild im angrenzenden Rapsfeld mitfahren. Ein lustiges Spektakel, nur für mich.
 
Auf der Rückfahrt wurde ich vom Licht geblendet. Und mein Schatten fuhr mir hinten nach. Ich konnte ihn nicht sehen, wusste aber, dass er mich immer noch begleite. Und es blitzten in mir die Worte Ende Fin auf, wie wir sie von Charlie Chaplin-Filmen kennen. Bald war ich zu Hause und meine heitere Ausfahrt auch zu Ende. Ich fühlte mich beschwingt.

Freitag, 6. Februar 2015

Sensible Naturen: Wenn Angst den Körper erzittern lässt

Nachdem ich im Blog vom 3.1.2015 den Schutzgatter-Begriff erklärte, kann ich heute eine Schutzgatter-Geschichte erzählen.
 
Das Ereignis, von dem ich berichten will, liegt einige Monate zurück. Ich dachte öfters daran und spielte mit dem Gedanken, in einem Blog davon zu erzählen. Aber ohne die Zustimmung der Hauptperson, einer jungen Frau, überliess ich die Notizen nur dem Tagebuch.
 
Die jungen Leute, die in unserem Haus wohnen, kommen und gehen, wie es ihre Arbeit oder ihr Studium bestimmt. Die Bekanntschaft mit ihnen ist flüchtig.
 
Aber heute gab es unerwartet ein Wiedersehen. Wir trafen uns in der Eingangshalle. Sie kam aus der Waschküche aus dem Untergeschoss und ich durch die Haustür. Wir grüssten, blieben einen Augenblick stehen, beäugten uns. Sie erkannte mich nicht sofort, weil ich eine wollene Mütze trug. Spontan sprudelte aber aus mir die Frage heraus, ob sie jene Person sei, die von der Laube heruntergesprungen sei. Ja! Da erkannte sie mich wieder. Unsere gemeinsame Geschichte würden mittlerweile alle ihre Bekannten kennen. Ich könne mir nicht vorstellen, wie oft sie von der lieben, alten Frau erzähle, die ihr geholfen habe. Und ja! Selbstverständlich dürfe ich darüber schreiben.
 
An jenem Tag wollte sie erstmals in unserem Haus ihre Wäsche waschen. Sie hatte sich in der Liste eingetragen und bei einem Kontrollgang bemerkt, dass die Vorgängerin das Zeichen gesetzt hatte, die Maschine sei wieder frei. Diese Vorgängerin war ich. Da ich den Trocknungsaum und die Waschküche im Voraus gewischt hatte, konnte ich meine Wäsche nur aus der Maschine nehmen und sie zu mir auf den Balkon tragen. Schnell war ich wieder aus der Waschküche verschwunden.
 
Wir beide sahen uns nicht. Sie traf die Maschine leer an, füllte sie mit ihrer Wäsche und wollte sie in Betrieb setzen. Aus welchen Unstimmigkeiten es ihr nicht gelang, wissen wir nicht.
 
Sie brauchte Hilfe, entschloss sich, systematisch an den Wohnungstüren zu läuten, bis man ihr werde helfen können. Sie begann ihre Tournée auf dem Hochparterre und hätte mich angetroffen, wenn sie ihren vorgesehenen Weg nicht aufgegeben hätte. Sie hörte aber, wie die Tür zur Laube hinter ihr ins Schloss fiel. Sofort fühlte sie sich gefangen. Da wollte sie nur einen Ausweg finden und verschwinden. Sie hatte ihren privaten Schlüsselbund in der Waschküche auf dem Tisch liegen gelassen und ängstigte sich enorm, er könnte ihr gestohlen werden.
Was sie dann tat: Anstatt auf dem Laubengang an 2 Haustüren zu läuten – da hätte sie mich gleich getroffen –, wählte sie einen Sprung auf die Wiese. Die Laubenwand gab ihr fürs erste etwas Halt. Sie liess sich an ihr herunterfallen. Zitternd, aber unversehrt kam sie auf dem Erdboden an.
 
Jetzt befand sie sich im Freien, konnte aber nicht ins Haus zurückkehren. Unsere Haustüre ist immer abgeschlossen. Aber sie läutete intuitiv am richtigen Ort. Ihr stürmisches Läuten erreichte mich. Ich eilte hinaus, traf sie in einem erbärmlichen Zustand an. Sie zitterte. Noch nie habe ich einen Menschen so zittern gesehen – auch wenn ich weiss, was das Schutzgatter-Zittern ist. Ich versuchte, sie zu beruhigen, hielt sie am Arm, gab ihr Halt. Stossweise hörte ich, was abgelaufen sei. Zum Sprung sagte sich noch, wenn man jung sei, könne man sich einen solchen erlauben.
 
Ruhig gingen wir miteinander in die Waschküche hinunter. Der Schlüsselbund lag noch da. Ich konnte ihr zeigen, wie ich die Waschmaschine starte. Ohne Probleme gelang es auch diesmal. Der vorher empfundene Schreck zerstreute sich. Ruhe kehrte ein. Wir verabschiedeten uns, und ich stellte mir vor, dass wir einander immer wieder einmal im Treppenhaus begegnen würden. Monatelang kreuzten sich unsere Wege nicht mehr, obwohl sie immer noch im selben Haus wohnt.
 
Jetzt sprachen wir aber nochmals über unsere Geschichte, und ich hörte, welchen Beruf sie ausübt und dass sie noch ein Studium begonnen habe. Sie wundert sich, wie sie im Beruf Ruhe bewahren könne, wenn es darum gehe, andern Menschen Ängste abzunehmen. Mache sie aber selber Fehler, dann laste das schwer auf ihr. Diese Beschreibung passt auch auf mich.

Samstag, 3. Januar 2015

Visitenkarte: Worte, Gedanken aus dem Schüttelbecher

Wörter oder Sätze wurden angefordert, um mit ihnen die Rückseite meiner Visitenkarte zu gestalten. Eine lockere Ansammlung war gefragt. Keine Komposition. Keine wohlüberlegte Abfolge von Begriffen.
 
Lese ich sie heute, führen mich einzelne Aussagen sofort an ihre einstige Verwendung zurück. Sie erinnern an Aufgaben, persönliche Ansichten oder Erlebnisse, auch mit den Enkelinnen. Und sie dokumentieren, dass ich die Schriftsprache ganz gern mit einem Mundartausdruck würze.
 
Die Rückseite meiner Visitenkarte sieht so aus: 
Alles in Ordnung. Abgemacht. S'isch guet.
Mitgefühl und Zahlungsmoral. Es stört mich. Kontakte
und Geschichten. Schlagzeilen zum Sinnieren.
Licht und Schatten. Ungewohnte Perspektiven.
Versickerung und Quelle. En Chrampf. Charakter und Maske.
Singsang. Gwunder. Tuuch. Blöd parceque blöd.
Glogge und Blogge. Nüütig. Geschichten. Mitfühlen.
Begleiten. Schutzgatter. Tulpen. Elstern und
Rabenkrähen. Heiliger Hain. Isch guet? Langet das?
Prima chochet d'Lina. Und dänn: Amen.
Hinweise zu Mundartausdrücken
S'isch guet. = Es ist gut.
 
En Chrampf = eine grosse körperliche oder geistige Anstrengung.
 
Gwunder = Neugier.
 
Tuuch = bedrückt.
 
Blöd parceque blöd = Dialekt-Kombination mit Französisch:
dumm oder einfältig, weil dumm und einfältig.
 
Glogge = Glocken.
 
Nüütig = nichtig, wertlos.
 
Schutzgatter
= Eine schusselige Person. So nannte mich mein Vater, wenn ich unüberlegt losstürmte.
Abgeleitet ist dieser Begriff von den Einzelteilen eines Fallgatters,
die solange unruhig hin und her baumeln,
bis sie im Stadttor fixiert sind.
 
Langet das? = Reicht das?
 
Prima chochet d’Lina = Lina kocht prima.
 
Und dänn: Amen = Und dann: So sei es.
*
 
Wir befinden uns am Beginn eines neuen Jahrs. Jetzt ist es üblich, den Worten besonderen Glanz und auch Kraft zu verleihen und sie mit Glückwünschen zu segnen.
 
Das ist meine Absicht. Ich grüsse Leserinnen und Leser ganz herzlich.

Montag, 15. Dezember 2014

Ausschau gehalten nach einer Weihnachtsgeschichte

Eine Freundin fragte mich dieser Tage, ob ich schon eine Weihnachtsgeschichte geschrieben habe. Es wäre an der Zeit. Sind solche überhaupt noch gefragt?
Weihnachtsgeschichten, die für mich Weihnachtsgeschichten geblieben sind, verstehen wahrscheinlich nur noch Menschen, die über 60 Jahre alt sind. Armut und vom Schicksal erzwungene Bescheidenheit waren uns allen wohlbekannt. Aber Wunden in einer Stadt wie Paris, die lernte ich erst 1958 kennen. Dort, wo ich wohnte (6. Arrondissement), war ich Nachbarin eines Trümmerhaufens. Eine für Paris typisch grosse Wohnsiedlung lag am Boden. Es dauerte Jahre, bis alle Steine weggeräumt wurden.

In den Metro-Gängen begegnete ich vielen Kriegsinvaliden. Männern mit amputierten Beinen, Armen oder verlorenen Augen. Erschütternd. Zu dritt beschlossen wir, im Dezember 1958 Clochards unter einer bestimmten Seine-Brücke zu besuchen und ihnen Weihnachtsgebäck zu bringen. Meine beiden Freundinnen, ebenfalls aus der Schweiz stammend, waren Dienstboten in einer Arztfamilie. Maria hatte 8 Kinder zu betreuen, Pia war für die Küche zuständig. Die beiden: gute Seelen, die einander immer unterstützten und erst ruhten, wenn alle Arbeit getan war. Und mir half Pia noch, das anfängliche Heimweh zu überwinden.

Die Weihnachtsgebäcke für die Clochards kauften wir bei einem Bäcker. Wir hätten keine Zeit oder Möglichkeit gehabt, diese selber herzustellen.

Die rauen, wetterfesten Männer trafen wir unter einer Seine-Brücke an; sie sassen um ein Feuer. Wir sangen ihnen ein Weihnachtslied. Sie waren sehr überrascht. Sie hörten zu, nahmen die Gebäcke auch gerne an. Aber gleich danach schickten sie uns fort. Geht weg, damit Euch nichts passiert. Ihr seid zu schade für diesen Ort.

Viele unserer Geschichten, die wir als Jugendliche lasen, beschäftigten sich mit Armut und Auswegslosigkeit. Und wundersamer Hilfe, weil es Mitmenschen verstanden, nicht nur an sich selbst zu denken. Solche Geschichten halfen uns, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit zu entwickeln. So entstand auch der erwähnte Besuch bei den Clochards.

Heute helfen die entstandenen Hilfswerke, Not zu lindern. Die vielen Bettelbriefe, die seit Ende Oktober bei uns eingetroffen sind, sprechen davon. Mich stört nur, dass einige Organisationen ihren Aufrufen noch kleine Geschenke beigeben, damit wir uns verpflichtet fühlen, ihnen Geld zu senden. Nach meinem Verständnis wird so Geld verschwendet.

Im gleichen Zeitraum haben uns auch masslos viele Reklamen für Spielzeug, Luxusartikel und kulinarische Köstlichkeiten erreicht. Der Abtransport solcher Druckerzeugnisse wird für mich mehr und mehr zum Problem. Diese Lasten! Bald muss es eine Organisation von jungen Leuten geben, die für die alten das Papier an die Strasse schleppen. Nicht alle Leute wohnen am Trottoirrand. Nicht alle wohnen in einem Haus mit Lift.

Und die Spielzeuganbieter bewiesen, dass Weihnachten eben ein Geschäft ist. Sie lieferten Prospekte mit Bestell-Listen. Die Kinder brauchten nur den entsprechenden Kleber an die richtige Stelle zu setzen, damit Eltern und Grosseltern die gewünschten Dinge problemlos bestellen oder einkaufen können. Es mag sein, dass allen gedient ist. Die Kinder wissen genau was sie wollen. Da wird der Umtausch nach dem Fest abnehmen. Aber ist das Weihnachten?

Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich als Kind im Vorschulalter oder in der Primarschule Wünsche formuliert hätte. Auch bei uns gab es Geschenke, aber nicht auf Bestellung. Die Mutter nähte und strickte sowohl für die Puppe wie auch für einen selbst. Es gab immer ein Geschenk. Dieses war aber nicht angefordert. Damals wohnten wir noch auf dem Land. Die Verführung durch Reklame war minim. Es gab auch noch keine spezielle Mode für Kinder, die wir hätten beanspruchen wollen. Wir freuten uns auf den Christbaum, die Lichter, die Lieder und später auch noch auf die Feier in der Kirche, wenn das elektrische Licht gelöscht wurde und nur noch die Kerzen brannten und wir Stille Nacht, Heilige Nacht sangen. Das war Weihnachten.

Am 25. Dezember tischte Mutter meist ihren vorbereiteten Hackbraten mit den versteckten Eiern auf und zum Dessert gab es Schlagrahm mit zerbröselten Meringueschalen.

Und jetzt erzähle ich noch eine richtige Weihnachtsgeschichte
Genau gesagt ist es eine Nacherzählung:

Eingeladen von einem befreundeten Unternehmer, der seinen Angestellten zusätzlich zum Lohn immer auch Kulturerlebnisse vermitteln wollte, erlebte ich 1993 das Lateinamerikanische Weihnachtskonzert mit Los Ramos. (Oscar Ramos und Monica Pososanto).

Sie spielten lateinamerikanische Weihnachtsmusik in seiner Montagehalle und sangen Lieder. Ramos hatte die Harfe aus Südamerika mitgebracht und auf ihre Geschichte verwiesen. Sie sei nach Europa heimgekommen.*

Ich erlebte dieses Konzert als ein bewegendes, heiteres Fest. Die Musik: einen mittragend in Welten der Lebensfreude. Einleitend sagte Ramos ganz selbstverständlich, dieses Konzert gelte den beiden Menschen, die am meisten für die Menschheit getan hätten: Maria und Josef.

Und dann erzählte er die Geschichte von Grossmutters Jesus-Figur:

Im Haushalt der Familie lebte auch ein Affe. Grossmutter musste ihn einmal mit einem Stock züchtigen, weil er unartig war. Das hat er ihr nicht verziehen.

Eines Tages konnte er sich von seiner Kette losreissen und die Grossmutter angreifen. Sie war allein zu Hause. Alle Tanten waren fortgegangen. Trotzdem gelang es ihr, den Affen in ein Zimmer einzusperren. Dort verwüstete er aber alles. Er tobte, schleuderte jeden Gegenstand von seinem Platz. Auch die geliebte Jesus-Figur wurde geschlagen. Und diese war doch Grossmutters Ort ihres Glaubens. Er liess auch sie zu Boden fallen. Sie verlor in diesem Vandalenakt einen Arm. Zur Freude der Grossmutter nur einen Arm. Dieser konnte problemlos wieder befestigt werden. Alle andern Gegenstände gingen kaputt.

Ramos sagte weiter, jetzt sei diese Figur berühmt, weil sie nach Europa reisen durfte. Bald werde sie aber zur Grossmutter zurückkehren.

Nach dem Konzert habe ich die Figur angeschaut. Sie war auf ein Podest gestellt und mit Christrosen geschmückt worden. Eine mit feinen Zügen bearbeitete Figur. Ramos erzählte, dass es eine besondere Figur sei, die immer stehend aufgestellt werde. Auch in der Krippe liege sie nicht.

Diese Geschichte, am Anfang des Konzertes erzählt, öffnete uns vermutlich ganz besonders für die damals noch eher unbekannten Klänge der südamerikanischen Kultur. Ramos wies denn auch daraufhin, dass wir Menschen Vorstellungen und Phantasie bräuchten. Ohne sie wäre Musik nicht denkbar. Ebenso verhalte es sich mit dem religiösen Glauben.

Und jetzt, nach 21 Jahren, wo befindet sich die Jesus-Figur? Und die Grossmutter, ist sie verstorben? Hat man ihr die Figur stehend ins Grab mitgegeben, oder verehrt ihre Familie diese mit Erinnerungen an sie?

Hinweis
* Im Blogatelier ist ein ausführlicher und eindrücklicher Bericht von Margrit Haller-Bernhard erschienen, in dem sie die Musik der Guarani als "Musik aus dem ehemaligen Paradies" beschreibt.