Freitag, 27. März 2015

Von Menschen, ihren Geschichten und ihren Welten


Vor ein paar Wochen wurde mir das nur noch antiquarisch käufliche Buch Von der Aare bis zur Wolga zum Lesen übergeben. Die Lebensbeschreibung eines wandernden Schweizer Handwerkers. 1938 im Verlag Walter Loepthien, Meiringen und Leipzig, erschienen. Ein Juwel.
Hans Hermann Eichenberger ist der Erzähler der eigenen Lebensgeschichte. Eduard Röthlisberger bearbeitete seine von Hand geschriebenen Aufzeichnungen. Ob Röthlisberger der Verleger oder ein Schriftsteller war, ist mir nicht bekannt.
 
Er berichtet im Vorwort („Zum Geleit“), vom Besuch „eines Mannes, nahe der Grenze des patriarchalischen Alters“, der ihm 4 umfangreiche Hefte vorlegte. Er bat um Durchsicht seiner Erinnerungen und wollte wissen, ob Röthlisberger diese durchlesen und vielleicht verarbeiten wolle. Viele seiner Bekannten hätten ihn gedrängt, seine aussergewöhnlichen Erfahrungen aufzuschreiben. Er sei 24 Jahre lang als Handwerksbursche in der weiten Welt herumgekommen. Geboren wurde er 1860 in Zofingen, Kanton Aargau.
 
Röthlisberger erwärmt sich nach und nach für diesen alten Mann. Er nennt ihn Greis. Im Vorwort schrieb er: „Mit Händedruck scheiden wir. Unverzüglich vertiefe ich mich – es ist abends 6 Uhr, als ich damit beginne – in das Manuskript. Es ist nicht leicht, sich dem durch das Fehlen fast jeglicher Interpunktion entstandenen Wirrwarr zurechtzufinden. Unbekümmert um die elementarsten Gesetze der Orthographie ist das Ganze niedergeschrieben. Ich lese und lese und bin gefesselt, denn aus diesen Blättern spricht eine Lebensauffassung von geradezu erschütternder, fast kindlicher Einfachheit. Ich wende das letzte Blatt um, als draussen der neue Tag heraufdämmert."
 
„Eichenbergers Aufzeichnungen erschienen dann unter Beibehaltung seines Stils, jedoch in einer flüssigeren Form und unter seinem Namen.“ Röthlisberger begleitete das Kunstwerk dieses Mannes respektvoll in die Welt hinaus.
 
Schon das Geleitwort strahlt Aussergewöhnliches aus. Es packte mich. Ich las es Primo vor. Und sofort waren wir uns einig, dass dieses Buch mit seinen 146 Seiten vorgelesen werden muss. So hielten wir es. Die Geschichte wurde für uns lebendig. Es entstand ein gemeinsames Erlebnis, und wir freuten uns auch, dass wir die alte deutsche Frakturschrift immer noch problemlos lesen können.
 
Alle Erlebnisse sind kurz und bündig, dicht beschrieben und packten uns in ihrer Einfachheit. Auch wir erwärmten uns für diesen unerschrockenen, offensichtlich freundlichen und tüchtigen Mann.
 
Als er auf die Welt kam, waren die Verhältnisse in seiner Familie alles andere als intakt. Sein Vater starb, noch bevor er 2 Jahre alt war. Von seiner leiblichen Mutter wird in seinen Aufzeichnungen nicht gesprochen. Von der Stiefmutter schon. Einer Person, die dem gängigen Bild der Stiefmütter aus den Märchen entsprach.
 
Zank und Streit müssen Dauergäste gewesen sein. Nur bei der Grossmutter fand Eichenberger Liebe und viel Verständnis. Ihr durfte er alles berichten und seine Anliegen anvertrauen. Umso trauriger dann ihr Tod. Ein grosser Verlust. Er schrieb dazu: „Am Morgen des Sterbetages ging der Grossvater ins Dorf, um entsprechend dem Brauch zur Leiche anzusagen. Der Bruder marschierte derweil nach Wildegg zum Doktor. Ich legte mich zu der toten Grossmutter ins Bett, hielt ihren Hals umschlungen, klagte ihr, nun sei ich ganz allein und weinte bitterlich.“
 
Glück aber brachte ihm der Beruf. Es bot sich die Gelegenheit, eine Lehre als Kupferschmied anzutreten. Mir war das recht, schrieb er.
 
Freude am Formen und Gestalten, Freude an seinem Beruf, sie ermöglichten ihm, sich grosse Wünsche zu erfüllen. Schon immer wollte er in die Welt hinaus, spürte den Drang, sie kennen zu lernen. Sein berufliches Können unterstützte ihn. So wurde er zum wandernden Handwerker.
 
Er arbeitete in der Schweiz, in Italien, Österreich, Ungarn, Serbien, Rumänien, Polen und Russland. Überall wurde er, wie gerufen, willkommen geheissen und eingestellt. Überall konnte er wertvolle Arbeit leisten und wurde als umgänglicher, tüchtiger und auch als sparsamer Schweizer geschätzt.
 
St. Petersburg faszinierte ihn ganz besonders. Schon die Reise dorthin war aussergewöhnlich. Im Nachtzug machte der Schaffner gegen morgens 4 Uhr auf Wolfsrudel aufmerksam. Diese hatten den Zug erwartet, weil Reisende hier Knochen und Brot aus den Fenstern werfen. Eichenberger staunte über den Kampf um diese Nahrung und auch darüber, wie die Tiere dem etwa 100 Km schnellen Zug nachjagten. Er sprach von Bestien, die sich rauften und den Artgenossen die Bissen streitig machten.
 
4 Tage gönnte er sich, um St. Petersburg kennen zu lernen. Dann fand er auch hier wieder rasch eine gute Arbeit. Ihn begeisterten in dieser riesigen Stadt mit ihren 246 Kirchen die weltlichen und kirchlichen Feiertage. Besonders das Fest der Newa-Weihe - Segnung des Flusses - bewegte ihn. Er erlebte den Zaren mit der ihn umgebenden Pracht. Und er fühlte sich wohl unter den russischen Menschen.
 
Später in Nischni-Nowgorod wurde ihm dann eines Tages bewusst, dass er immer nur ein Fremdling gewesen war. Und er entschloss sich, in die Schweiz, in seine Heimat, zurückzukehren. Aber die Schweiz sah in ihm, dem Mann mit dem gigantischen Schnurrbart und der fremdländischen Kleidung, anfänglich wie anderswo, auch einen Fremden.
 
Nach und nach fand er aber auch hier wieder Freunde und Geselligkeit. Er lebte auf. Und als er dann eine junge Frau kennen lernte und begriff, dass eines das andere verstand, heirateten sie. Als Überraschung für die Braut führte die Hochzeitsreise nach Wien. Dort feierte man gerade den 1. Mai, und das Hochzeitspaar begegnete dem Kaiser. Sie hätten Glück gehabt, schrieb er. „Die Kavalkade kam ganz nahe an unserem Wagen vorüber. Wir hatten uns erhoben. Ich nahm vor seiner Majestät den Hut in die Hand und verneigte mich. Der Kaiser salutierte freundlich.“
 
Seine Frau, die er liebevoll s‘ Müetti nannte, soll darob erschrocken sein. Er kenne den Kaiser doch nicht. – Er aber kannte ihn schon seit Jahren.
 
Wer kann schon solche Geschichten erzählen?
 
Vielleicht jener Mann, dem ich vor kurzem in Zürich an der Tramstation Paradeplatz begegnet bin?
 
Es war später Abend, und nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Auf der überdachten Bank sassen 2 Männer. Ein stiller Schweizer und ein Mann aus einem fernen, mir unbekannten Land. Der Schweizer hörte zu, was der Unbekannte erzählte. Dieser sprach ein gut verständliches Deutsch, doch die Aussprache liess an ein Land im mittleren Osten denken. Er trug eine vornehme Kleidung, die eine Uniform sein konnte, oder die ihn zu einem besonderen Volksstamm gehörend auszeichnete.
 
Wie ich später annahm, hatte der Schweizer diesem Mann vermutlich den Weg zur Tramstation gewiesen und wartete hier noch, bis das Gefährt eintraf. Der Paradeplatz ist eine wichtige Umsteigestation. Es kreuzen sich dort verschiedene Linien. Der Wegweisende wollte sicher sein, dass der Gast in die richtige Richtung fuhr.
 
Ich wurde auf die beiden aufmerksam, weil der Unbekannte laut redete. Ich hörte, wie er dem Wegweisenden erzählte, er habe für seine Frau eine Flasche Champagner gekauft. Er hielt sie in die Höhe und verwies noch auf die dazugehörigen Gläser in der Papiertragtasche. Er öffnete den Reissverschluss seiner grossen Umhängetasche, die aus demselben khakifarbenen Stoff wie seine Kleidung geschaffen war. War es eine Uniform oder eine Tracht? Mit Bordüren, speziellen Knöpfen und Bändern dekoriert. Und nicht zu übersehen, dass sie aus edlem Stoff geschaffen war. Dieser Tasche entnahm er ein ziseliertes Tablett. Er wolle es ebenfalls seiner Frau schenken. Sie habe ihm schliesslich 2 Kinder geboren.
 
Dann fuhr Tram Nr 2 an der Station ein und entführte ihn.
 
Wer war dieser Fremde? Ein Eichenberger aus der heutigen Zeit? Ich weiss es nicht.

Donnerstag, 5. März 2015

Vermutlich raubte mir eine Elektrosteckdose den Schlaf

Diese Geschichte habe ich schon vor 20 Jahren aufgeschrieben. Ich nahm damals an einem 2-tägigen Seminar zum Thema Meditation teil.

Ich übernachtete in einem einfachen Gästehaus. Nach Mitternacht erwachte ich. Ich fühlte Übelkeit. Stickige Luft liess mich kaum atmen. Ich wollte das Fenster öffnen, doch mein Gleichgewicht war gestört. Ich fühlte mich wie auf hoher See. Meine Augen konnten einen eingeschlagenen Nagel an der Wand nicht mehr als ruhenden Punkt wahrnehmen. Geduldig wollte ich warten, bis sich diese Wellen glätten würden. Dann fiel mir ein, dass ich die Zimmertür öffnen sollte, falls ich am Morgen nicht aufstehen könnte. Ich schwankte zur Tür, drehte den Schlüssel, öffnete sie. Etwas später gelang es mir, auch noch das Fenster zu öffnen.
 
Der linke Arm war beängstigend verkrampft und strahlte in die Herzgegend aus. Nur keine Panik aufkommen lassen! Ruhig wollte ich warten, bis der Sturm vorüber sei. Ich versuchte, bewusst zu atmen. Es fiel mir schwer.
 
In einem vorgefundenen Merkblatt dieses Gästehauses war vermerkt, dass die Telefonnummern 20, 30 und 400 benützt werden dürfen, wenn Hilfe nötig sei. Der Apparat befinde sich in der Mitte des Korridors, hiess es. Meine Kräfte reichten aber für diesen Weg nicht aus.
 
Ich fragte mich, was geschehe, wenn ich mich einfach hinlege und alles loslasse. Ob ich dann sterbe? Ich war aber gar nicht bereit dazu. Zudem sah ich mannigfaltige Verwirrung voraus.
 
Am frühen Abend hatte ich noch nach Hause angerufen und erzählt, was mir am Seminar missfalle (es gab abschätzige, diskriminierende Reaktionen jenen Schülerinnen oder Schülern gegenüber, die sich mit den Anleitungen nicht sofort zurecht fanden).
 
Das grosse Ganze aber gefiel mir. Am Telefon erwähnte ich es jedoch noch nicht.
 
Jetzt überlegte ich mir, dass ich ein falsches Bild hinterlassen würde, wenn ich noch in dieser Nacht stürbe. Mein Mann wüsste nicht, dass ich auch wertvolle Erfahrung gemacht habe. Er hätte gewiss einen Groll gegen die Veranstalter und würde ausrufen, sie hätten seine Frau fertiggemacht. (Später bestätigte er meine Vermutung.)
 
Auch aus meinen Notizen wäre man nicht klug geworden. Da waren nur Stichworte aufgeschrieben.
 
Und da war noch ein Buch, über das man sich gewundert hätte. Ich hatte es aus der Hausbibliothek aufs Zimmer mitgenommen und noch eine Weile darin gelesen. Es behandelte das Tätigkeitswort „segnen". Angekommen war ich beim Kapitel „Das Zeitliche segnen". Was sich da alles zusammenfand und ein völlig falsches Bild abgegeben hätte! Ich legte mich wieder ins Bett, diesmal ans Fussende, um einer Elektrosteckdose auszuweichen. Dann packten mich die Rufe des Käuzchens, das sich ganz in der Nähe bemerkbar machte. Weil ich zu diesem Vogel eine ganz besondere Beziehung habe, horchte ich hin, wollte seine Botschaft verstehen. Darüber muss ich eingeschlafen sein.
 
Am Morgen begrüsste ich den neuen Tag, begrüsste das Leben in mir. Ich fühlte mich wieder gesund. Nachdem ich die erlebte Geschichte nochmals überblickt hatte, erschien sie mir wie ein Hirngespinst und war doch wahr. Dann lachte ich. Und dieses Lachen räumte noch die allerletzten Verspannungen aus mir heraus.
 
Und bis heute gebe ich mir Mühe, möglichst keine einseitigen Bewertungen mehr auszusprechen.

Sonntag, 1. März 2015

Das Velo aus dem Winterschlaf geholt und ausgefahren

In den Wintermonaten tranken wir Milch aus der Packung. Jetzt aber pedale ich wieder zum Bauernhof und hole dort Frischmilch. Vor wenigen Tagen, als letzte Schneeflecken und Eiskristalle an den Strassenrändern verschwunden waren, eröffnete ich unsere persönliche, neue Milchsaison.
Es war ein besonders heiterer Tag. Die Sonne vermochte den zähen Hochnebel endlich aufzulösen und ihr Licht wieder in alle Winkel auszustrahlen. Auf der Strasse, im Bus und Tram war dieses Licht ein dankbares Gesprächsthema. So muss Freude an der wieder sichtbaren Sonne im hohen Norden empfunden werden, wenn die Polarnacht zu Ende ist und erste Sonnenstrahlen auftauchen. Diesen Augenblick nennen sie die Wiederkehr des Lichts.
 
Auf den Wiesen in meinem Umfeld hatte sich über Nacht Raureif gebildet. Er begann sich aufzulösen, als ich mit dem Velo zum Bauernhof nach Schlierenberg fuhr. Einige der gerade entstandenen Wassertröpfchen blitzten rot auf, als ob sie Kristalle wären.
 
Die Sonne wärmte meinen Rücken. Mein Schatten fuhr vor mir her, begleitete mich auch, als die Strasse der ursprünglichen Ost-West-Richtung nicht mehr folgte. Jetzt sah ich mein Abbild im angrenzenden Rapsfeld mitfahren. Ein lustiges Spektakel, nur für mich.
 
Auf der Rückfahrt wurde ich vom Licht geblendet. Und mein Schatten fuhr mir hinten nach. Ich konnte ihn nicht sehen, wusste aber, dass er mich immer noch begleite. Und es blitzten in mir die Worte Ende Fin auf, wie wir sie von Charlie Chaplin-Filmen kennen. Bald war ich zu Hause und meine heitere Ausfahrt auch zu Ende. Ich fühlte mich beschwingt.

Freitag, 6. Februar 2015

Sensible Naturen: Wenn Angst den Körper erzittern lässt

Nachdem ich im Blog vom 3.1.2015 den Schutzgatter-Begriff erklärte, kann ich heute eine Schutzgatter-Geschichte erzählen.
 
Das Ereignis, von dem ich berichten will, liegt einige Monate zurück. Ich dachte öfters daran und spielte mit dem Gedanken, in einem Blog davon zu erzählen. Aber ohne die Zustimmung der Hauptperson, einer jungen Frau, überliess ich die Notizen nur dem Tagebuch.
 
Die jungen Leute, die in unserem Haus wohnen, kommen und gehen, wie es ihre Arbeit oder ihr Studium bestimmt. Die Bekanntschaft mit ihnen ist flüchtig.
 
Aber heute gab es unerwartet ein Wiedersehen. Wir trafen uns in der Eingangshalle. Sie kam aus der Waschküche aus dem Untergeschoss und ich durch die Haustür. Wir grüssten, blieben einen Augenblick stehen, beäugten uns. Sie erkannte mich nicht sofort, weil ich eine wollene Mütze trug. Spontan sprudelte aber aus mir die Frage heraus, ob sie jene Person sei, die von der Laube heruntergesprungen sei. Ja! Da erkannte sie mich wieder. Unsere gemeinsame Geschichte würden mittlerweile alle ihre Bekannten kennen. Ich könne mir nicht vorstellen, wie oft sie von der lieben, alten Frau erzähle, die ihr geholfen habe. Und ja! Selbstverständlich dürfe ich darüber schreiben.
 
An jenem Tag wollte sie erstmals in unserem Haus ihre Wäsche waschen. Sie hatte sich in der Liste eingetragen und bei einem Kontrollgang bemerkt, dass die Vorgängerin das Zeichen gesetzt hatte, die Maschine sei wieder frei. Diese Vorgängerin war ich. Da ich den Trocknungsaum und die Waschküche im Voraus gewischt hatte, konnte ich meine Wäsche nur aus der Maschine nehmen und sie zu mir auf den Balkon tragen. Schnell war ich wieder aus der Waschküche verschwunden.
 
Wir beide sahen uns nicht. Sie traf die Maschine leer an, füllte sie mit ihrer Wäsche und wollte sie in Betrieb setzen. Aus welchen Unstimmigkeiten es ihr nicht gelang, wissen wir nicht.
 
Sie brauchte Hilfe, entschloss sich, systematisch an den Wohnungstüren zu läuten, bis man ihr werde helfen können. Sie begann ihre Tournée auf dem Hochparterre und hätte mich angetroffen, wenn sie ihren vorgesehenen Weg nicht aufgegeben hätte. Sie hörte aber, wie die Tür zur Laube hinter ihr ins Schloss fiel. Sofort fühlte sie sich gefangen. Da wollte sie nur einen Ausweg finden und verschwinden. Sie hatte ihren privaten Schlüsselbund in der Waschküche auf dem Tisch liegen gelassen und ängstigte sich enorm, er könnte ihr gestohlen werden.
Was sie dann tat: Anstatt auf dem Laubengang an 2 Haustüren zu läuten – da hätte sie mich gleich getroffen –, wählte sie einen Sprung auf die Wiese. Die Laubenwand gab ihr fürs erste etwas Halt. Sie liess sich an ihr herunterfallen. Zitternd, aber unversehrt kam sie auf dem Erdboden an.
 
Jetzt befand sie sich im Freien, konnte aber nicht ins Haus zurückkehren. Unsere Haustüre ist immer abgeschlossen. Aber sie läutete intuitiv am richtigen Ort. Ihr stürmisches Läuten erreichte mich. Ich eilte hinaus, traf sie in einem erbärmlichen Zustand an. Sie zitterte. Noch nie habe ich einen Menschen so zittern gesehen – auch wenn ich weiss, was das Schutzgatter-Zittern ist. Ich versuchte, sie zu beruhigen, hielt sie am Arm, gab ihr Halt. Stossweise hörte ich, was abgelaufen sei. Zum Sprung sagte sich noch, wenn man jung sei, könne man sich einen solchen erlauben.
 
Ruhig gingen wir miteinander in die Waschküche hinunter. Der Schlüsselbund lag noch da. Ich konnte ihr zeigen, wie ich die Waschmaschine starte. Ohne Probleme gelang es auch diesmal. Der vorher empfundene Schreck zerstreute sich. Ruhe kehrte ein. Wir verabschiedeten uns, und ich stellte mir vor, dass wir einander immer wieder einmal im Treppenhaus begegnen würden. Monatelang kreuzten sich unsere Wege nicht mehr, obwohl sie immer noch im selben Haus wohnt.
 
Jetzt sprachen wir aber nochmals über unsere Geschichte, und ich hörte, welchen Beruf sie ausübt und dass sie noch ein Studium begonnen habe. Sie wundert sich, wie sie im Beruf Ruhe bewahren könne, wenn es darum gehe, andern Menschen Ängste abzunehmen. Mache sie aber selber Fehler, dann laste das schwer auf ihr. Diese Beschreibung passt auch auf mich.

Samstag, 3. Januar 2015

Visitenkarte: Worte, Gedanken aus dem Schüttelbecher

Wörter oder Sätze wurden angefordert, um mit ihnen die Rückseite meiner Visitenkarte zu gestalten. Eine lockere Ansammlung war gefragt. Keine Komposition. Keine wohlüberlegte Abfolge von Begriffen.
 
Lese ich sie heute, führen mich einzelne Aussagen sofort an ihre einstige Verwendung zurück. Sie erinnern an Aufgaben, persönliche Ansichten oder Erlebnisse, auch mit den Enkelinnen. Und sie dokumentieren, dass ich die Schriftsprache ganz gern mit einem Mundartausdruck würze.
 
Die Rückseite meiner Visitenkarte sieht so aus: 
Alles in Ordnung. Abgemacht. S'isch guet.
Mitgefühl und Zahlungsmoral. Es stört mich. Kontakte
und Geschichten. Schlagzeilen zum Sinnieren.
Licht und Schatten. Ungewohnte Perspektiven.
Versickerung und Quelle. En Chrampf. Charakter und Maske.
Singsang. Gwunder. Tuuch. Blöd parceque blöd.
Glogge und Blogge. Nüütig. Geschichten. Mitfühlen.
Begleiten. Schutzgatter. Tulpen. Elstern und
Rabenkrähen. Heiliger Hain. Isch guet? Langet das?
Prima chochet d'Lina. Und dänn: Amen.
Hinweise zu Mundartausdrücken
S'isch guet. = Es ist gut.
 
En Chrampf = eine grosse körperliche oder geistige Anstrengung.
 
Gwunder = Neugier.
 
Tuuch = bedrückt.
 
Blöd parceque blöd = Dialekt-Kombination mit Französisch:
dumm oder einfältig, weil dumm und einfältig.
 
Glogge = Glocken.
 
Nüütig = nichtig, wertlos.
 
Schutzgatter
= Eine schusselige Person. So nannte mich mein Vater, wenn ich unüberlegt losstürmte.
Abgeleitet ist dieser Begriff von den Einzelteilen eines Fallgatters,
die solange unruhig hin und her baumeln,
bis sie im Stadttor fixiert sind.
 
Langet das? = Reicht das?
 
Prima chochet d’Lina = Lina kocht prima.
 
Und dänn: Amen = Und dann: So sei es.
*
 
Wir befinden uns am Beginn eines neuen Jahrs. Jetzt ist es üblich, den Worten besonderen Glanz und auch Kraft zu verleihen und sie mit Glückwünschen zu segnen.
 
Das ist meine Absicht. Ich grüsse Leserinnen und Leser ganz herzlich.

Montag, 15. Dezember 2014

Ausschau gehalten nach einer Weihnachtsgeschichte

Eine Freundin fragte mich dieser Tage, ob ich schon eine Weihnachtsgeschichte geschrieben habe. Es wäre an der Zeit. Sind solche überhaupt noch gefragt?
Weihnachtsgeschichten, die für mich Weihnachtsgeschichten geblieben sind, verstehen wahrscheinlich nur noch Menschen, die über 60 Jahre alt sind. Armut und vom Schicksal erzwungene Bescheidenheit waren uns allen wohlbekannt. Aber Wunden in einer Stadt wie Paris, die lernte ich erst 1958 kennen. Dort, wo ich wohnte (6. Arrondissement), war ich Nachbarin eines Trümmerhaufens. Eine für Paris typisch grosse Wohnsiedlung lag am Boden. Es dauerte Jahre, bis alle Steine weggeräumt wurden.

In den Metro-Gängen begegnete ich vielen Kriegsinvaliden. Männern mit amputierten Beinen, Armen oder verlorenen Augen. Erschütternd. Zu dritt beschlossen wir, im Dezember 1958 Clochards unter einer bestimmten Seine-Brücke zu besuchen und ihnen Weihnachtsgebäck zu bringen. Meine beiden Freundinnen, ebenfalls aus der Schweiz stammend, waren Dienstboten in einer Arztfamilie. Maria hatte 8 Kinder zu betreuen, Pia war für die Küche zuständig. Die beiden: gute Seelen, die einander immer unterstützten und erst ruhten, wenn alle Arbeit getan war. Und mir half Pia noch, das anfängliche Heimweh zu überwinden.

Die Weihnachtsgebäcke für die Clochards kauften wir bei einem Bäcker. Wir hätten keine Zeit oder Möglichkeit gehabt, diese selber herzustellen.

Die rauen, wetterfesten Männer trafen wir unter einer Seine-Brücke an; sie sassen um ein Feuer. Wir sangen ihnen ein Weihnachtslied. Sie waren sehr überrascht. Sie hörten zu, nahmen die Gebäcke auch gerne an. Aber gleich danach schickten sie uns fort. Geht weg, damit Euch nichts passiert. Ihr seid zu schade für diesen Ort.

Viele unserer Geschichten, die wir als Jugendliche lasen, beschäftigten sich mit Armut und Auswegslosigkeit. Und wundersamer Hilfe, weil es Mitmenschen verstanden, nicht nur an sich selbst zu denken. Solche Geschichten halfen uns, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit zu entwickeln. So entstand auch der erwähnte Besuch bei den Clochards.

Heute helfen die entstandenen Hilfswerke, Not zu lindern. Die vielen Bettelbriefe, die seit Ende Oktober bei uns eingetroffen sind, sprechen davon. Mich stört nur, dass einige Organisationen ihren Aufrufen noch kleine Geschenke beigeben, damit wir uns verpflichtet fühlen, ihnen Geld zu senden. Nach meinem Verständnis wird so Geld verschwendet.

Im gleichen Zeitraum haben uns auch masslos viele Reklamen für Spielzeug, Luxusartikel und kulinarische Köstlichkeiten erreicht. Der Abtransport solcher Druckerzeugnisse wird für mich mehr und mehr zum Problem. Diese Lasten! Bald muss es eine Organisation von jungen Leuten geben, die für die alten das Papier an die Strasse schleppen. Nicht alle Leute wohnen am Trottoirrand. Nicht alle wohnen in einem Haus mit Lift.

Und die Spielzeuganbieter bewiesen, dass Weihnachten eben ein Geschäft ist. Sie lieferten Prospekte mit Bestell-Listen. Die Kinder brauchten nur den entsprechenden Kleber an die richtige Stelle zu setzen, damit Eltern und Grosseltern die gewünschten Dinge problemlos bestellen oder einkaufen können. Es mag sein, dass allen gedient ist. Die Kinder wissen genau was sie wollen. Da wird der Umtausch nach dem Fest abnehmen. Aber ist das Weihnachten?

Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich als Kind im Vorschulalter oder in der Primarschule Wünsche formuliert hätte. Auch bei uns gab es Geschenke, aber nicht auf Bestellung. Die Mutter nähte und strickte sowohl für die Puppe wie auch für einen selbst. Es gab immer ein Geschenk. Dieses war aber nicht angefordert. Damals wohnten wir noch auf dem Land. Die Verführung durch Reklame war minim. Es gab auch noch keine spezielle Mode für Kinder, die wir hätten beanspruchen wollen. Wir freuten uns auf den Christbaum, die Lichter, die Lieder und später auch noch auf die Feier in der Kirche, wenn das elektrische Licht gelöscht wurde und nur noch die Kerzen brannten und wir Stille Nacht, Heilige Nacht sangen. Das war Weihnachten.

Am 25. Dezember tischte Mutter meist ihren vorbereiteten Hackbraten mit den versteckten Eiern auf und zum Dessert gab es Schlagrahm mit zerbröselten Meringueschalen.

Und jetzt erzähle ich noch eine richtige Weihnachtsgeschichte
Genau gesagt ist es eine Nacherzählung:

Eingeladen von einem befreundeten Unternehmer, der seinen Angestellten zusätzlich zum Lohn immer auch Kulturerlebnisse vermitteln wollte, erlebte ich 1993 das Lateinamerikanische Weihnachtskonzert mit Los Ramos. (Oscar Ramos und Monica Pososanto).

Sie spielten lateinamerikanische Weihnachtsmusik in seiner Montagehalle und sangen Lieder. Ramos hatte die Harfe aus Südamerika mitgebracht und auf ihre Geschichte verwiesen. Sie sei nach Europa heimgekommen.*

Ich erlebte dieses Konzert als ein bewegendes, heiteres Fest. Die Musik: einen mittragend in Welten der Lebensfreude. Einleitend sagte Ramos ganz selbstverständlich, dieses Konzert gelte den beiden Menschen, die am meisten für die Menschheit getan hätten: Maria und Josef.

Und dann erzählte er die Geschichte von Grossmutters Jesus-Figur:

Im Haushalt der Familie lebte auch ein Affe. Grossmutter musste ihn einmal mit einem Stock züchtigen, weil er unartig war. Das hat er ihr nicht verziehen.

Eines Tages konnte er sich von seiner Kette losreissen und die Grossmutter angreifen. Sie war allein zu Hause. Alle Tanten waren fortgegangen. Trotzdem gelang es ihr, den Affen in ein Zimmer einzusperren. Dort verwüstete er aber alles. Er tobte, schleuderte jeden Gegenstand von seinem Platz. Auch die geliebte Jesus-Figur wurde geschlagen. Und diese war doch Grossmutters Ort ihres Glaubens. Er liess auch sie zu Boden fallen. Sie verlor in diesem Vandalenakt einen Arm. Zur Freude der Grossmutter nur einen Arm. Dieser konnte problemlos wieder befestigt werden. Alle andern Gegenstände gingen kaputt.

Ramos sagte weiter, jetzt sei diese Figur berühmt, weil sie nach Europa reisen durfte. Bald werde sie aber zur Grossmutter zurückkehren.

Nach dem Konzert habe ich die Figur angeschaut. Sie war auf ein Podest gestellt und mit Christrosen geschmückt worden. Eine mit feinen Zügen bearbeitete Figur. Ramos erzählte, dass es eine besondere Figur sei, die immer stehend aufgestellt werde. Auch in der Krippe liege sie nicht.

Diese Geschichte, am Anfang des Konzertes erzählt, öffnete uns vermutlich ganz besonders für die damals noch eher unbekannten Klänge der südamerikanischen Kultur. Ramos wies denn auch daraufhin, dass wir Menschen Vorstellungen und Phantasie bräuchten. Ohne sie wäre Musik nicht denkbar. Ebenso verhalte es sich mit dem religiösen Glauben.

Und jetzt, nach 21 Jahren, wo befindet sich die Jesus-Figur? Und die Grossmutter, ist sie verstorben? Hat man ihr die Figur stehend ins Grab mitgegeben, oder verehrt ihre Familie diese mit Erinnerungen an sie?

Hinweis
* Im Blogatelier ist ein ausführlicher und eindrücklicher Bericht von Margrit Haller-Bernhard erschienen, in dem sie die Musik der Guarani als "Musik aus dem ehemaligen Paradies" beschreibt.

Dienstag, 2. Dezember 2014

November-Tagebuch. Von der Busfahrt bis zur Pilgerfahrt

Mein Anfahrtsweg in die Zürcher Innenstadt beginnt öfters mit einem Fussmarsch hinunter zum Farbhof (Busstation und Tram-Endstation.)
 
An diesem Tag, von dem ich erzählen will, war alles anders. Es stand kein wartendes Tram an der Station, das den Blick auf die Mitte der Schleife hätte abdecken können. Die Sicht auf den mächtigen Tulpenbaum war frei. Hei! dachte ich, wie schön du bist, auch mit Deinem durchlässig gewordenen Kleid. Und am Boden, dir zu Füssen, das rostrote Blättermeer. Der Anblick: bühnenreif. In Gedanken dankte ich der „Grün Stadt Zürich", dass diese Farbenpracht nicht in einem Übereifer gleich weggeblasen worden ist. 
Der Fotoapparat lag in der Tasche. Ich konnte das schöne Bild, das ich da sah, gleich einfangen. Aber erst zu Hause entdeckte ich, dass mich aus dem Stamm ein weibliches Gesicht anblickte. Aus einer quer verlaufenen Verletzung entstand in der Rinde der Mund, aus abgeschnittenen Ästen die Augen. Über ihnen, ebenfalls von überwuchernder Rinde entstanden, könnte eine Schutzbrille gesehen werden.
 
Wer je eine Ausstellung der Künstlerin Margaretha Dubach gesehen hat, wird verstehen, wer mich die Magie in den Dingen erkennen lehrte.
 
Später, als mich der Bus ins Stadtinnere und über die Bahnhofbrücke führte, wunderte ich mich, dass die Beleuchtung der Weihnachtsdekoration am Limmatquai eingeschaltet war. 2 Stunden nach Sonnenaufgang? Vielleicht zur Probe.
Mit dieser künstlichen Baumallee sind wir vertraut. Sie erfreut uns seit Jahren. Sie pflegt die Tradition. Sie kann Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste wecken und das Weihnachtsgefühl aufkommen lassen. Erst seit gestern nehme ich an, dass sie viel robuster gebaut worden ist als ihr Vorgänger.
 
Aus einem Zeitungsausschnitt vom Dezember 1977 habe ich nämlich erfahren, dass die damaligen 42 Metallchristbäume grosse finanzielle Sorgen bereiteten. Winterstürme müssen ihnen zugesetzt haben. Pro Sturm seien von den 2184 Glühbirnen jeweils 250 beschädigt worden. Weiter wurde informiert, dass zusätzlicher Schaden von offenbar akrobatisch begabten Glühbirnen- und Christbaumkugel-Dieben verursacht worden sei.
 
Am Central angekommen, verliess ich den Bus und eilte ans Limmatufer, wolle mich vergewissern, ob die Lichter an den Bäumen noch brannten. Ja! Sie standen für eine Foto bereit.
 
Danach führte mein Weg auf der rechten Limmattalseite weiter. Die Höhenmeter, die ich von zu Hause nach dem Farbhof abwärts ging, mögen jenen, die ich jetzt noch aufwärts gehen musste, ungefähr entsprechen. Ich kam aber an keinem Ort vorbei, der mir die entsprechende Übersicht hätte schenken können.
 
Ich war auf dem Weg nach Liebfrauen. Freute mich auf das letzte Referat der diesjährigen Vortragsreihe Geistesblitze „Das Ganz Andere“.
 
Diese Veranstaltungen sind Angebote der Kirchgemeinde zu Predigern, im Auftrag der reformierten Altstadtkirchen und der katholischen Kirchgemeinde Liebfrauen. Solchen Einladungen folge ich gern. Darum empfinde ich den Monat November lichterfüllt, auch wenn ihn andere oft als grau beschreiben.
 
Die unkomplizierten Kontakte zwischen Reformierten und Katholiken erweitern an solchen Veranstaltungen noch zusätzlich den Horizont. Sie haben auch schon Freundschaften geschaffen.
Als eindrücklichstes November-Erlebnis werte ich jetzt aber die Ranft-Wallfahrt zu Bruder Klaus. Unserem junger Pfarrer gelang es, eine zeitgemässe Form für sie zu finden. Eine Reise in die Nacht. Im Bus unterwegs.
 
Während der Fahrt durch den Autobahntunnel entstand für mich eine wohltuende Abgeschiedenheit. Wie in einer Kirche. Die Welt liessen wir draussen. Der Pfarrer hatte eine schlichte Andacht vorbereitet, und wir sangen das Bruder-Klaus-Lied. Ich staunte über uns alle, dass wir es noch singen können. Es hat seinen Sinn und seine Kraft immer noch in sich.
 
Während dieser Tunnelfahrt war die Sonne untergegangen. Wir fuhren in die dunkle Nacht hinein. Von meinem Sitzplatz aus zeigte sich mir der Verkehr. Seine Ordnungen, sein Lauf, die Beleuchtungen für den Strassenverkehr. Die Farben. Weiss strahlten Autos aus, die auf uns zukamen, rot jene, denen wir nachfolgten. Das ganze Bild: ein ruhig dahin fliessender Strom. Ohne Hektik. Alle, die ein Auto lenkten, kannten ihren Weg. Mit den Abzweigungen. Mit dem persönlichen Ziel und der Ordnung, es zu erreichen.
 
Ab Sachseln empfand ich die Landschaft geheimnisvoll, die Strassenbeleuchtung stark eingeschränkt. Aber wie vorher auf der Autobahn führten uns Wegweiser problemlos ans Ziel.
 
Zur unteren Ranftkapelle, wo wir gemeinsam für den Frieden beten wollten, führt ein schlangenförmiger Fussweg ungefähr 90 Meter in die Tiefe. Er ist nicht erleuchtet, doch die Augen haben sich sofort an die natürliche Dunkelheit gewöhnt. Stockdunkle Nacht empfing uns. Im oberen Drittel dieses Wegs begleiteten uns die Sterne. Im unteren Bereich hatte sich der Nebel festgesetzt. Er verzauberte das einzige Licht aus einer kugelförmigen Strassenlampe an der letzten Wegbiegung und warf seine Schatten an die Kapellenfront. Zusammen mit jenen der Eingangsüberdachung, der Kirchentüre und dem kreisrunden Oblichtfenster entstand von weitem der Eindruck, hier trete eine überirdische Person aus der Kapelle heraus und weise den Weg. Ob dieses Zusammenspiel an der Kapellenfront Komposition oder Zufall ist, erscheint mir nicht wichtig. Die Stimmung aber, die sie verbreitet, liess alles vergessen, was uns vor ein paar Stunden noch bewegt hat. Mitbeteiligt an ihr auch das Gebet um Frieden und die schlichte Eucharistiefeier.
 
Der Pilgerseelsorger im Flüeli-Ranft, übrigens früherer Pfarrer in Zürich-Altstetten, informierte noch, dass Jugendliche aus der Schweiz immer ab Mitte November und im Dezember in der Art einer Stafetten-Wallfahrt hierher kämen, um für den Weltfrieden zu beten.
 
Auf dem Rückweg zu Fuss durften wir dem goldenen Sternenhaufen am schwarzen Himmel nochmals begegnen. Es war ein aussergewöhnliches Erlebnis.
 

Sonntag, 26. Oktober 2014

Von reifen Samenständen und flugunfähigen Seevögeln

Es stürmte. Herbstwinde schüttelten Laub von den Bäumen. Ganz besonders hatten sie es auf das Hagebuchen-Wäldchen in meiner Umgebung abgesehen. Zeitweise sah es aus, als ob es schneie. Aber die Sonne schien und der Himmel sorgte für ein heiteres Blau. Mit im Spiel auch weisse Wolkenfrachten. Im Mittelpunkt die Früchte der Hagebuchen.


Als Letizia anrief, hatte ich schon eine Weile zugeschaut, wie auseinander gefallene Samenstände zur Erde fielen. Ich erzählte, was ich sah. Wie diese blattartigen Flügel zwirbelnd herunterfielen. Wie leicht sie seien und wie behutsam sie auf der Wiese landeten.
 
Etwas später rief Letizia erneut an. Offenbar hatte ich so begeistert rapportiert, dass sie in ihrem Umfeld ebenfalls nach fliegenden Samen ausschaute und mir darüber berichten wollte.
 
Inzwischen war es mir gelungen, Hagebuchen-Flügel als fliegende Objekte zu fotografieren. Dank der Windböen wurde es möglich, sie sogar am Himmel abzubilden.
 
Ich dachte an Helikopter, als ich sie fliegen sah. Auch an Segelflugzeuge, als sie der Wind süd- und nordwärts zwang. Dieser Sturm, der an verschieden Orten Bäume umfallen liess und grosser Schaden anrichtete, zeigte sich in meinem Umfeld gnädig. Ich sah keine Schäden. Und ich lernte viel von ihm.

Eine kleine Zahl solcher Fruchtstände landeten auf meinem Fenstersims und mehrere auch auf dem Balkon. Für sie war die Reise dort zu Ende. Ich holte eine Hand voll von ihnen zu mir ins Büro. Hier konnte ich sie ruhig anschauen. Alle trugen noch den Samen auf sich. Keiner ist verloren gegangen. Ihre Formen sind klar als dreilappige Flügel von den Hagebuchen-Samenständen erkennbar. Und doch ist jedes Blatt ein Original. Keines ist mit einem anderen deckungsgleich. Auf den ersten Blick könnte man ihre Form mit einem Kleid vergleichen. Oder als Symbol für Geborgenheit erklären, denn der Same, auch Nüsschen genannt, ist in einer kleinen Mulde festgewachsen. Diese Blätter sind nicht flach. Sie sind Gebilde. Wenn ich sie wende, erscheinen sie mir als Teil einer Glocke.
 
An jenem Nachmittag vollzogen sich Samenflüge etappenweise. Je nach Wind wurden sie nord- oder südwärts und auch im Kreis herum getrieben. Es müssen Millionen abgefallen sein. Die grüne Wiese ist nun braun gesprenkelt. Welcher Same wird keimen, wo darf ein neuer Baum wachsen? Interessant auch, dass die Samen am Flügelblatt haften und sich erst am Boden, vielleicht erst nach Regen oder Schnee, vom Blatt lösen. Sie brauchen das Blatt als Flugobjekt, damit die Samen in ein weites Umfeld verfrachtet werden können.
Die Blätter, die auf dem Fenstersims landeten, habe ich fotografiert und später auf meinen Schreibtisch gelegt. Da konnte ich sie in aller Ruhe betrachten. Sie waren von einem Geheimnis umgeben. An wen erinnerten sie mich? Plötzlich wusste ich es: An Pinguine, schwimmende Pinguine, wenn sich diese ins Wasser werfen und dort übermütig tauchen. Um schnell zu sein, strecken sie ihre Körper und die Form entspricht, wenn auch vielfach vergrössert, den Formen eines Blattes aus dem Hagebuch-Samenstand.
 
Ich sandte Letizia eine entsprechende Foto. Sie schrieb zurück
 
Ja Wahnsinn !
Ich seh die Pinguine schwimmen !!!
Sensationell.
 
Sie war dabei, als wir vor wenigen Tagen den Zürcher Zoo besuchten und auch bei den Pinguinen landeten. Wir beobachteten diese beim Anmarsch ins überdeckte, durchsichtige Bassin aus Glas. Ihr wackelnder Gang, ihr ganz eigener Charme, veränderten sich blitzschnell, als sie ins Wasser sprangen. Wie Kinder, die zu allerlei Lumpereien aufgelegt sind. Die Vitalität, die sie tauchend vorführten, verblüffte uns. Das war Energie pur. Und wir konnten zuschauen, wie sie ihre Körper vollständig veränderten. Die ausgezogene, neue Form, die fand ich dann ein paar Tage später, vielfach verkleinert, in den abgefallenen Hagebuchen-Flügeln
                                                                                              *
Pinguine werden übrigens als flugunfähige Seevögel bezeichnet.
 
Und die Samenstände reihe ich bei fliegenden Wesen ein, auch wenn sie vom Wind abhängig sind und sich nicht selber steuern können.

Montag, 13. Oktober 2014

Ausflug ohne zu fliegen. Reise mit Bahn und Postauto

Wir befanden uns im Zug Richtung Chur. Ein junges Paar hatte sich neben uns gesetzt. Die Frau wollte sofort wissen, ob sich der Platz auf der Seeseite befinde. Sie kenne den Zürichsee noch nicht, freue sich, ihn heute zu sehen. Einen Augenblick lang dachte ich, ihr meinen Fensterplatz anzubieten. Ich bemerkte aber schnell, dass ihr Freund keine Freude gehabt hätte. Ihre Frage beantwortete er mit einer bejahenden Geste, knapp und unmissverständlich uninteressiert. Er wollte nicht gestört werden, war mit dem iPhone im Gespräch. Er beschäftigte sich mit Zahlen, Bahnstrecken und Kilometern, die er der Frau von Zeit zu Zeit erläuterte. Es tönte dann, wie wenn er Reiseangebote testen wollte. Vielleicht machten die beiden an diesem Tag „Blauen“, fuhren los und entschieden unterwegs, wie die Reise weiterführen soll. Aber Reisefreude strahlte dieser Mann nicht aus.
Das Regenwetter und der graue Himmel verwehrten der jungen Frau den Kontakt mit dem See. Im Bereich zwischen Wädenswil und Horgen ZH wies ich darauf hin, dass wir hier dem Wasser nahe seien. Es sind Lieblingsorte, in die ich selber immer wieder gerne hineinschaue. Bei heiterem Wetter zeigen sich hier prächtige Bilder, sowohl Richtung Zürich als auch gegen den Obersee hin. Die junge Frau freute sie an diesem kurzen Einblick. Das war's dann.
Ab Ziegelbrücke erschien die Sonne. Wie wenn ein Lichtschalter bedient worden wäre. Einige Sekunden lang schauten auch unsere Mitreisenden auf und hinaus. Das Licht des Südens strahlte durch das Glarnerland. Ab da schien die Sonne auch auf unsere Schienen. In Chur erwartete uns ein blauer Himmel. Und weisse, flockige Wolken, die sich ständig in lustige Fratzen verwandelten. Grosser Andrang dann vor dem Postauto. Auch wir konnten noch zusteigen und letzte Plätze besetzen.
Der ¾ Stunden dauernden Fahrt mit Höhendifferenz von ungefähr 480 Metern verdankten wir eine beeindruckende Sicht in die Berglandschaft. Auf der Hinfahrt bediente der Postautokurs auch den Ort Trin GR und führte uns eine kleine Weile durch den Ortskern, entlang historischen Häusern. Eine Augenweide. Und vor der Ankunft in Flims-Dorf GR bemerkte ich kurz aber eindeutig im Flimser Wald den Caumasee.

Nach der Ankunft meldete sich ein Problem. Meine Uhr konnte die exakte Zeit nicht mehr angeben. Sie ging hintennach. Die Batterie war erschöpft. Auskunft, wo wir einen Uhrmacher finden könnten, erhielten wir dann vom Kellner im Hotel-Restaurant Bellevue. Hier wurde uns ein feines Mittagessen serviert. Mit uns in der schönen Täferstube tafelten auch andere Gäste. Alle zusammen befanden wir uns in Gesellschaft mit Tieren. Genau gesagt mit Tierpräparaten (Kopf und Geweih) von Steinbock, Gemse, Hirsch, Reh mit Kitz und einem Jungfuchs. Sie beobachteten uns von den Wänden herab. Eine illustre Versammlung. Verstanden habe ich sie als Anlehnung an das Steinbock-Wappentier des Kantons Graubünden.
Der Besuch beim Uhrmacher in Flims-Waldhaus empfanden wir schlussendlich als Zugabe an Übersicht. Auf dem Rückweg fühlten wir uns auf einem Balkon, schauten von Flims-Waldhaus nach Flims-Dorf hinüber und auch an die Felswand des Flimsersteins. In einem gigantischen, unvorstellbaren Bergsturz verlor er vor ungefähr 9500 Jahren einen wuchtigen Teil seiner Gestalt. Dieser Stein zerbrach, kollerte hinunter in den Rhein und gestaltete mit ihm in unzählbaren Jahren schliesslich die Ruinaultaschlucht.
 
Es war der grösste alpine Bergsturz, der in der Schweiz stattfand. Für alle Lebewesen in seinem weiteren Umfeld muss es der Weltuntergang gewesen sein.
 
Jetzt steht der Flimserstein ruhig und auch majestätisch da. Alle Abbruchstellen und Schrunden zeigten an diesem heiteren Tag ihre von Wind und Wetter geschliffenen Oberflächen. Erstaunlich die Partien, auf denen Tannen wachsen können. Woher ernähren sich diese aufrechten, gesunden Bäume? Wie schafften sie es, sich in diesem Gestein zu verwurzeln? Dieses Geheimnis gaben sie uns nicht preis. Primo konnte sich kaum von ihnen trennen.
Auf dem Rückweg nach Flims-Dorf kam eine gebeugt gehende Frau auf uns zu und fragte, ob wir bereit wären, ihr zu helfen. Ich dachte zuerst, dass sie um Geld bitten wolle. Nein, so war es nicht. Sie fragte nur, ob wir den für sie zu schwer beladenen Abfallsack zur öffentlichen Abfalltonne tragen könnten. Es fehle ihr die Kraft dazu. Primo übernahm diese Aufgabe sofort. Und ich erkundigte mich, was ihr fehle. Sie war von einem rasenden Automobilisten angefahren und unverschuldet schwer verletzt worden. Sie kann kaum mehr aufrecht gehen und das Gleichgewicht halten. Sachte fragte ich nach, ob sie noch hoffen und glauben könne, dass sich etwas zum Guten ändere. Eigentlich nicht, antwortete sie traurig. Aber solche Hilfe, wie sie jetzt gerade von uns erfahren habe, die gebe ihr Kraft.
 
Nach Flims gekommen waren wir wegen der gegenwärtigen Plakatausstellung. Dass diese im viel besprochenen Gelben Haus gezeigt wird, freute uns sehr. Ein ursprünglich altes Haus (Gelbes Haus genannt) wurde vor Jahren schon vom Bündner Architekten Valerio Olgiati ausgekernt und zum Museum gestaltet. Immer, wenn ich eine Abbildung von ihm sah, wünschte ich mir, es einmal zu sehen, vielleicht sogar zu betreten. Das Haus, wie es dasteht: Eine Wucht. Da bin ICH. Schaut nur hin. Lasst euch von meinen Proportionen einnehmen. Schaut auf meine Fenster, auf ihre Zahl und Anordnung. Beachtet den weissen, rauen Verputz. Schaut auf das Ganze.
 
Dieses Haus verkörpert das Wesentliche.

Die Ausstellung war denn auch ergreifend. Weil es sich grösstenteils um ein Wiedersehen handelte. Noch immer betrachten wir die Plakatgrafik von einst als Kunst, zu der alle Menschen Zugang hatten. Grösstenteils unter dem Einfluss der Hochkonjunktur entstanden, strahlen diese eine Stilsicherheit aus, die seinesgleichen sucht. Sie strahlen auch Lebensfreude aus. Das ist unsere persönliche Sicht. Wir sind mit solchen Bildern erwachsen geworden. Auch andere Museumsbesucher reagierten ähnlich, empfanden die Bilder wie gute, alte Freunde. Lange verweilten wir in diesem Haus in Gesellschaft mit 140 sorgsam gehüteten Plakaten. Ganz besonders erinnerten wir uns an jenes, das für Flims gestaltet worden war. Der Titel: Die Springerin über dem Flimser Caumasee. Das Bild einer schönen Frau, die in den Bergsee springt. Vielleicht ist es das berühmteste Plakat der gesamten Ausstellung. Ich kannte es schon, als ich noch lange nichts von Flims oder vom Caumasee gehört hatte.
 
Die Rückreise nach Chur dann im Eiltempo, ohne Fahrt durch Trin. In der Postautohalle erwarteten uns 2 meiner Nichten. Mit ihnen und den Eltern durften wir noch den Abend verbringen. Die Mädchen servierten uns ein feines Nachtessen wie im Grand Hotel.
 
Und auf meine Uhr kann ich mich wieder verlassen. Ich nenne ihre Zeit jetzt Flimserzeit. Im besten Fall solange, bis die erwähnte neue Batterie auch wieder den Geist aufgibt. Möglich ist auch, dass sich noch vorher eine andere, neue Geschichte obenauf schwingt, die ich nicht rasch vergessen möchte.

Dienstag, 30. September 2014

Am Obertorturm in Aarau wartete der Zufall auf uns

Der Rundgang im Kunstmuseum Aarau beflügelte uns. Wir folgten der Ausstellung HEUTE IST MORGEN mit Werken von Sophie Taeuber-Arp. Ihre Talente sind in mehr als 300 Exponaten zu bewundern. Die Arbeiten der 1889 geborenen Künstlerin strahlen als Offenbarungen ganz besonders in unsere Gegenwart aus.
 
Auf dem Rundgang dieser Ausstellung ist mir wieder einmal aufgegangen, wie lange ein Werk reifen muss, bis es verstanden wird und wegweisend sein darf. Vergleichbar mit dem Wachstum von Pflanzen und Bäumen.
 
1989, im Zusammenhang mit einer Ausstellung in Bern, schrieb Alice Baumann noch in der Annabelle zum Schaffen von Sophie Taeuber-Arp: Trotz ihrer grossen Kreativität wird sie zu Lebzeiten nie richtig bekannt.
 
Ihr Unfalltod von 1943 verhinderte es.
 
Zu ihren Werken wurde aber Sorge getragen. Nur darum ist es möglich, dass sie jetzt ausstrahlen und uns begeistern können. Es scheint, dass sich kein Objekt über den zugewiesenen Ausstellungsort beklagt. Das Kunsthaus hat ihnen grosszügig Plätze zugewiesen. Und der Künstlerin erweist es Bewunderung und Respekt.
 
Die umfassende Ausstellung zeigt die Vielfalt ihres künstlerischen Schaffens. In ihren Werken geht es um Form, Farbe, Material, Design, Malerei, Zeichnung, Plastik, auch Architektur und ganz besonders um textile Kreationen. Gewobenes, Gesticktes und Perlenkrallen-Arbeiten. Ihre Werke sind subtil, dem kleinsten Detail liebevoll verpflichtet. Ich fühlte in allem etwas Lebendiges, wie es nur das Handwerkliche in sich tragen kann.
 
Sophie Taeuber-Arp war anfänglich Lehrerin an der Zürcher Kunstgewerbeschule und hat im Geheimen als Tänzerin und Gestalterin an der Da-Da-Bewegung teilgenommen. Ihre Arbeiten sind deshalb in erster Linie didaktische Lehrgänge, die bis heute prägend wirken, aber erst jetzt als Kunst verstanden werden.
 
Als wir uns aus dem Kunsthaus verabschiedeten – wir hatten uns noch im Museumscafé gestärkt und uns dort mit Gästen aus Basel unterhalten –, dachten wir ans Heimfahren.
 
Draussen empfing uns ungemütliches Wetter. Der Kontrast zur Ausstellung hätte nicht grösser sein können. Der Himmel schwarz. Regen. Doch plötzlich hatte sich die Sonne auch noch ins Bild gesetzt und in mir den Wunsch geweckt, den dazugehörigen Regenbogen zu suchen. Er zeigte sich aber nicht. Dort, wo er hätte auftreten müssen, regnete es vielleicht nicht mehr. Oder er versteckte sich hinter den Häusern, vor denen wir ausschauten und warteten. Wir gingen weiter Richtung Obertor. Und schon regnete es wieder in Strömen. Unter dem Vordach eines Geschäftshauses blieben wir stehen. Und warteten. Und hörten auf einmal Carillonklänge. Das Glockenspiel ertönte aus dem Turm, dem wir gegenüberstanden. Dem Obertorturm. Eine Überraschung. Es erreichten uns bezaubernde Melodien, passend zu all den Werken, die wir vorher bewundert hatten.
 
Als das Spiel verstummte und wir noch eine Weile auf eine Fortsetzung gewartet hatten, gingen wir weg. Und kamen gleich wieder zurück. Wir hörten, dass erneut gespielt wurde. Und nach einer weiteren Pause verhielten wir uns nochmals unwissend, gingen weg und kamen wieder. Es waren wenig Leute unterwegs, und wir meinten, wir seien überhaupt die einzigen, die diese feinen Klänge auffingen.
 
Primo hatte in der Zwischenzeit entdeckt, dass im Turm eine Lampe brannte. Er folgerte, dass uns diese dann ankündige, wenn das Konzert zu Ende sei. Noch bevor es im Turm dunkel geworden war, kamen zwei Frauen an uns vorbei. Sie sassen schon länger mit aufgespannten Schirmen auf der Bank an der Bushaltestelle. Wir hatten sie nicht weiter beachtetet. Jetzt aber sprach uns eine der beiden an und informierte, das Konzert sei beendet. Sofort hörte ich aus ihrem Sprachklang heraus, dass wir uns kennen müssen. Wir nannten unsere Namen. Grosses Erstaunen und Freude. Die damalige Begegnung in unserer Schreinerei-Werkstatt liegt mindestens 20 Jahre zurück.
 
In der Zwischenzeit hatte der Glöckner vom Obertorturm die Lampe gelöscht, ohne dass wir Zeit gehabt hätten, darauf zu achten. Er kam unerwartet auf uns zu. Und es stellte sich heraus, dass er der Partner jener Frau geworden ist, die uns angesprochen hatte. Sie war ebenfalls für das Konzert hierher gekommen. An ihrer Seite eine Frau, die vor kurzem im Spitalbett auf das Carillonspiel aufmerksam wurde. Und mehr darüber wissen wollte. Der Wunsch wurde ihr erfüllt. Darum sassen die Frauen auf der Bank nebenan.
 
Auch mein Wunsch wurde postwendend erfüllt. Hubert Schäpper, Glöckner von Aarau, sandte mir einen Beitrag aus der Zeitschrift 1A!Aargau, der sein Amt als städtischer Glockenspieler beschreibt.
 
Ihm kann ich Wissenswertes entnehmen und mitteilen: Hubert Schäpper, Lehrer und Musiker, übt das Amt des städtischen Carilloneurs seit 40 Jahren aus, sei wahrscheinlich der dienstälteste Glockenspieler der Schweiz. Offensichtlich mit Leib und Seele mit dieser Aufgabe verbunden. Die Melodien spiele er auswendig, und die 187 Treppenstufen sei er schon über tausendmal hochgestiegen.
 
Dass wir ihn spielen hörten, verdanken wir dem Eidgenössischen Bettag, der an jenem Sonntag gefeiert wurde. Sein Spiel erklingt immer dann, wenn Aarau besonders festlich oder besinnlich ausstrahlen soll. An städtischen und kirchlichen Feiertagen.
 
Über den Oberturm lese ich, dass dieser bis ins 19. Jahrhundert als Wach- und Verliessturm benützt worden sei. Viele Verbrecher wurden hier eingesperrt. Zuständig für das Wohl der Gefangenen war der Turmwärter, der mit seiner Familie oben im Turm in einer kleinen Wohnung gelebt habe.
 
Während wir den Carillonklängen lauschten, entdeckte ich an der Südfront des Turms die Darstellung des Totentanzes. Eine markante Arbeit des Künstlers Felix Hoffmann. Gut erhalten, gut verständlich. Uns mahnend, dass Leben und Tod nicht voneinander zu trennen sind.
 
Abschliessend danke ich Freund Zufall wieder einmal öffentlich für ein Geschenk. Für seine Zugabe. Je länger je mehr begreife ich, dass er uns nur erreichen kann, wenn wir nicht ständig von fixen Programmen und Terminen bestimmt sind.