Montag, 13. November 2006

Handgemachte Räbenlichter für die dunkle Jahreszeit

Der Zug mit den Lichtern wird jedes Jahr grösser. Junge Familien schätzen die Räbenlichter-Umzüge mehr und mehr. Es ist eine besinnliche Manifestation, die in Zürich im November in vielen Quartieren ihre Tradition hat.

Da werden dann die Strassenlichter für die Dauer des Umzuges gelöscht. Verantwortliche aus den Quartiervereinen gehen mit Fackeln voran. Kinder in Begleitung der Eltern tragen die ausgehöhlten und mit Schnitzereien dekorierten, an Schnüren hängenden Räben (eine Sorte von Futterrüben) durchs Quartier. In ihnen brennt ein Licht. Die Feuerwehr ist dabei, und was uns allen immer ganz gut gefällt, sind jene Passagen auf sonst stark befahrenen Hauptstrassen, die für die Umzugsdauer nur den Fussgängern gehören dürfen.
Diesmal waren die Enkelkinder aus Paris angereist. Mena, die 4-Jährige, durfte ihre mitgestalteten Lichter tragen. Der Grossvater schnitzte nach ihren Vorgaben die Motive in die Räbenhaut. Einige der Dekorationen nannte Mena „artifices“, Kunstgebilde. Es gehörten wie immer Sonne, Mond und Namen dazu, aber auch Häuser, Bäume, Blumen. Mit einem Bleistift stupfte Mena winzig kleine Löcher in die Haut und brachte zu unserem Erstaunen einen strahlenden Sternenhimmel hervor. Letizia faszinierte uns mit einem Schneestern, den sie mit Hilfe einer Guetzliform (Gebäck-Ausstechform) auf die Räbe zauberte. Der Kinderwagen der kleinen Nora wurde auch mit Räbenlichtern dekoriert.
DieTee-Lichter in den ausgehöhlten Räben brachten ganz allgemein wieder viele Kunstwerke zum Leuchten. Da immer auch Mütter und Väter aus fernsten Ländern mitmachen, kommen neue Ideen dazu. Räbenlichter können nicht fertig gekauft werden. Sie müssen selber geschaffen werden. Gemeinschaftszentren bieten Hilfe an. Auch in Jugendgruppen werden Kinder angeleitet. Wir bewunderten auch diesmal wieder viele Techniken und sammelten Ideen fürs nächste Jahr. Die Räbenlichter-Tradition ist wirklich ein kulturelles Ereignis und mobilisiert die Phantasie.

Als ich heute Abend wieder am Röschibachplatz vorbei kam, war es dort ganz still, unwirtlich und dunkel. Es regnete. Hier stand der Umzug letzte Woche still. Eine Jazz-Band steigerte die Festfreude. Die Kinder staunten. Es war ein Zauber auszumachen.

Die Räben wurden selbstverständlich nach Gebrauch nicht fortgeworfen. Jetzt hängen sie am Balkon von Letizias Wohnung, wo der Umzug jedes Jahr durchkommt. Zwei sind in unserem Garten an Ästen der Kiefer aufgehängt und werden jeden Abend mit neuen Lichtern gefüllt. Obwohl bereits etwas geschrumpft, erfüllen sie weiterhin ihren Auftrag, Licht in die dunkle Jahreszeit zu bringen.

Freitag, 10. November 2006

La goutte d’or: Soziotope urbaner Kultur Zürich – Paris

Das Wort „Soziotope“ gefällt mir, und wo ich es erstmals gelesen und gleichzeitig umgesetzt erlebt habe, zeigte es mir seinen Inhalt.
Es besteht eine Stadtteilpartnerschaft zwischen Paris 18 („La goutte d’or“) und dem Zürcher Aussersihl-Quartier. Und aus ihr resultieren gegenseitige Ausstellungen und kürzlich ein Konzertabend mit Kindern aus den beiden Städten. Kinder aus über 20 Nationen sangen Lieder und musizierten, denn beide Quartiere sind multikulturelle Orte. Aus Paris unter der Leitung von Patrick und Louise Marty, aus Zürich von Sacha Rüegg.
Das Programm umfasste sogar einen „Blues de la goutte d’or“, die von den Pariser Kindern selbst kreiert worden sei. Zürich eröffnete das Konzert mit einem eigenen Rap und demonstrierte gleich zu Beginn das für die französischen Ohren vermutlich wie Kauderwelsch anzuhörende Schweizerdeutsch. So ging es hin und her. Zuerst die Chöre nach ihrer Herkunft einzeln, im zweiten Teil dann gemeinsam. Auch Joe Dassins „Oh Champs Elysées“ war zu hören und riss das Publikum mit. Packend dann alte Kinderlieder aus der Schweiz mit Jodel-Refrains und ganz eindrücklich der über 65 Jahre alte und an diesem Abend auferstandene, durchlüftete Schlager „Nach em Räge schiint d Sunne“ (Nach dem Regen scheint die Sonne). Da zeigte es sich, dass auch Weltstadtkinder begeistert jodeln können.
Auch das Konzert jener Kinder, die in der „Goutte d’or“ Musikunterricht erhalten, beeindruckte. Einen Riesenapplaus bekam der junge Trompeter, dessen unverfälschte, starke Töne weit ausstrahlten und über unsere Rücken rieseln liess.
Pfarrer Anselm Burr, der die Gäste in seiner Citykirche, dem „Offenen Sankt Jakob“ auftreten liess, steuerte noch eine Geschichte zu den Darbietungen bei. Er erzählte den Kindern, dass in dieser über 100 Jahre alten Kirche eine Persönlichkeit ganz zurückgezogen lebe und eine wichtige Aufgabe erfülle. Sie sei aber scheu, ängstlich und verletzbar und er wisse nicht, ob sie ihm den Wunsch erfülle, sich den Gästen kurz zu zeigen. Er bat uns, die Augen zu schliessen und nach einem Zeichen diese langsam und blinzelnd wieder zu öffnen. Da war dann eine Kerze entzündet und Burr lüftete das Geheimnis. Es sei die Stille, die hier lebe und vor der wir uns und unsere Darbietungen hören können. Sie ermögliche uns aber auch, in der Stille die Stille zu hören.
So habe ich das verstanden. Den französisch sprechenden Kindern wurde das Geheimnis in ihre Sprache übersetzt.
Aus der eigenen Jugend weiss ich, dass solche Erfahrungen prägend sein können. Musik als Mittelpunkt, Treffpunkt von Kindern und jungen Menschen verschiedenster sozialer Herkunft. Gemeinsame Erlebnisse. Gemeinsame Anstrengungen. Gemeinsames Unterwegssein. Das alles ist Horizont erweiternd, Gemeinschaft fördernd und offensichtlich Bestandteil der sozitopischen Kultur.
Ich danke allen, die solches ermöglichen. Den an diesem Abend Sichtbaren und offensichtlich von einem Charisma Begleiteten, aber auch jenen wichtigen Mitarbeitenden, die im Hintergrund wirken, wie es die Stille tut.

Dienstag, 31. Oktober 2006

Wenn die Mutteraufgabe als Beruf anerkannt wäre ...

Auch ich verfolge die Diskussionen um die Mütter, um das „Eva-Prinzip“ (Buchtitel), wie es Eva Herman mit ihrem Buch in die Welt gesetzt hat. Ich kann mir gut vorstellen, wie viel Unsicherheit jetzt wieder gesät wird.
 
Und ich erinnere mich an Beatrix, an eine Familienmutter zwischen 45 und 50, die mir im Frühjahr einmal erzählte, wie erschöpft und unglücklich sie sei. Neben ihren 3 Kindern im Primarschulalter hatte sie noch eine Freiwilligenarbeit in einer sozialen Institution übernommen und ihre Kräfte überschätzt. Eigentlich ist sie eine Bilderbuchmutter, die es schätzt, der ganzen Familie ein wohliges Zuhause zu schaffen. Das würde ihr grundsätzlich genügen, sagte sie mir. Aber sie fühle sich minderwertig, wenn sie in Gesellschaft keine Arbeit ausser Haus vorweisen könne. Sie weinte, als sie mir ihre Probleme schilderte.
 
Gestern habe ich sie wieder getroffen. Ich fragte nach, ob es immer noch weh tue, wenn die dumme Frage „Was machst denn Duuu?“ gestellt werde. Sie habe jetzt einen Ausweg gefunden, sagte sie verschmitzt. Sie antworte nun meistens : „Ich bin pensioniert und muss nicht mehr arbeiten.“ Da sei das Gegenüber dann irritiert und sie von weiteren Fragen erlöst. Da stimmt doch etwas in unserer Gesellschaft nicht, wenn sich solche Ausweichmanöver aufdrängen.
 
Am 27.10.2006 gesellte sich noch eine weitere Stimme, diesmal aus dem „Tages-Anzeiger“, zu den Aussagen von Beatrix. Im Beitrag „Die kurze Kinderphase geniessen“ las ich von einer jungen Mutter, wie ich solche Erfahrungen aus meinem eigenen Leben auch kenne: „Man wird nur über den Beruf wahrgenommen. Wenn ich an irgendeinem Anlass jemandem erzähle, ich sei Mutter und nicht arbeitsfähig, dann stoppt das Gespräch. Niemand fragt mich, welches Buch ich lese oder ob ich Hobbys habe.“
 
Diese Haltung, oft unter den Frauen selbst, ist in meinen Augen das grössere Problem als die Entscheidung eines Paares, wie Broterwerb und Familien-Management aufgeteilt werden. Es schafft seelischen Druck und schwächt das Selbstwertgefühl.
 
Es sollte sich in unserer Gesellschaft ein offeneres Denken entwickeln, in dem viele Variationen von Lebens- und Familienentwürfen Platz haben. Wir alle sind gefordert. Es gibt nicht nur eine gültige Entscheidung. Je mehr wir uns selber sein können, sind wir echt und stark. Dann fällt es auch leichter, die Verantwortung für unsere Entscheidungen selbstbewusst zu tragen.

Sonntag, 22. Oktober 2006

Folgen des Lichts: Schatten in Zürich und Ombres in Paris

Herbstnachmittag an der Zürcher Bahnhofstrasse. Die Sonne hat uns auch in der Stadt erreicht. Die Luft ist dunstig. Die tief stehende Sonne blendet. Die Menschen, die mir entgegenkommen, kann ich gar nicht richtig wahrnehmen. Sie sind verschwommen.

Aber ich werde aufmerksam auf die Schatten. Das Trottoir ist wild bevölkert von ihnen. Sie verdichten sich, gehen übereinander und wieder auseinander. Ich erkenne, kurze Augenblicke lang, Silhouetten von Köpfen, Körpern, Taschen, auch Veloräder machen an diesem Meeting mit.

Als Kinder sprangen wir unseren eigenen Schatten nach und konnten sie nie erreichen. Aber in jenen der Freundin hinein hüpfen, das gelang. Der eigene Schatten ist untrennbar an uns gebunden. Er ist eine Abbildung von uns, wenn auch abstrahiert oder verzerrt.
Die Ausstellung „Schatten für Kinder (be)greifbar“, hat mich für dieses Thema eingenommen und begleitet mich seither, wie es eben nur der Schatten tun kann. Er ist immer da, wo auch das Licht anwesend ist. Die Aufmerksamkeit den „ombres“ (Schatten) gegenüber, bereichert seither alle Wahrnehmung. Ich besuchte die Installation im Pariser Park de la Villette mit der 4-jährigen Mena. Zu Hause inszenierten wir an den folgenden Abenden dann im dunklen Korridor „ombres“ und kleine Schattenspiele mit Hilfe einer Taschenlampe.

„Ombres“ ist in meiner Familie nun ein geflügeltes Wort, hat eine ähnliche Wirkung wie das überrascht gerufene „Obacht!“. Unsere Beobachtung ist reicher, seitdem wir den Schattenwurf bewusster wahrnehmen und einander zeigen.

Wenn ein Phänomen für die Kinder fassbar dargestellt ist, finden auch Erwachsene leichten Zugang. Das habe ich erlebt und viele, vor allem faszinierte Väter, gesehen. Mena war besonders angetan von der weissen Wand, vor die man sich stellen und bewegen konnte. Sekunden danach zeigte sich darauf die eigene Silhouette, die alle vorgängigen Bewegungen in einem Gesamtbild vereinigte. Auch das gute alte Schattentheater war ein Anziehungspunkt. Mir ist die Darstellung, wie sich die Schatten auf unebenem Grund anpassen, in besonderer Erinnerung geblieben.

Im Ausstellungsprospekt heisst es zu diesem Thema: „Eine Ausstellung zur Beobachtung und zum Experimentieren mit den Phänomenen des Schattens, dem Schlüssel grosser wissenschaftlicher Entdeckungen und der Inspirationsquelle der Kunst.“

Ich bin gespannt, was ich aus diesem Thema noch alles schöpfen werde.

Hinweis
Die Ausstellung kann noch bis Dezember 2006 besucht werden. Adresse: Cité des sciences et de l’industrie, Parc de la Villette, 30, Avenue Corentin-Cariou, 75019 Paris.

Samstag, 14. Oktober 2006

Zürcher Multikulti-Stadtkreis 4: Die Madonna in der Barke

Velofahrt zum Helvetiaplatz. Der Morgen feucht, frisch. Nebel verhangen. Doch je näher ich dem Escher-Wyss-Platz komme, durchdringt die Sonne die Nebeldecke. Nur ein dünner Schleier bleibt zurück und verzaubert das Licht, das uns erreichen will. In feinste Partikel gebrochen, glitzert es jetzt rund um den Feuerball. Der Morgen beschert mir schon ein Schauspiel. Gratis. Ich frage mich, ob solche Lichtspiele zur Fata Morgana gehören. Und weiter gehts.
 
Der Markt auf dem Helvetiaplatz ist bereits belebt. Ich stelle mein Velo hier ab und gehe zu Fuss weiter. Da begegne ich einem jungen Mann, der aus einem Hof heraus kommt. Seine Kleider sind etwas schmuddelig, sein Gesicht umso heiterer. Vor einem parkierten Auto stoppt er, schaut sich im Fenster an, stellt die Mappe ab, zieht den Kamm aus der Hosentasche, kämmt sich, grüsst mich freundlich und geht beschwingt weiter. Ein Lebenskünstler? Vielleicht.
 
Auf dem Weg in unsere Werkstatt, die sich in diesem Umfeld befindet, entdecke ich an der Müllerstrasse die „Madonna in der Barke“. So nenne ich jetzt die Figur, die an der Hauswand des bei jungen Leuten beliebten Szene-Lokals „Daniel H“ angebracht ist. Die Hälfte einer hölzernen Barke simuliert ein gotisches Fenster. Auf einem Tablar im Bug-Bereich steht die blau und weiss gekleidete Madonna mit ihren offenen, schenkenden Händen. Frisch und unberührt erscheint sie im Kontrast zur Oberfläche des Schiffs. Dieses ist lindengrün gestrichen, aber vom Gebrauch arg zerschunden. An den abgewetzten Kanten schaut die darunter liegende Farbe, ein kräftiges Rot, hervor. Die Hausmauer ist in Rosa gehalten. Es wachsen hier auch kleinere Büsche. Eine Idylle. Es ist auch Licht installiert. Ich muss einmal an einem Abend hier vorbeikommen.
 
Wo hat dieses kleine Schiff seinen Dienst getan? Auf dem Mittelmeer? Einem Fischer gedient, der mit vielen Gefahren umgehen und in der Not auf die Madonna vertrauen gelernt hat. Ist es vielleicht ein Nachfahre, der dieses Gefährt vom Grossvater übernommen und in ein Land entführt hat, das keinen Meeranstoss kennt? Wie dem auch sei: Die Installation hat etwas Unaufdringliches, aber Authentisches an sich, ist nicht kitschig. Ein Wurf. Sie berührt mich und ich vermute, nicht nur mich.
 
Der Stadtkreis 4 ist einfach immer wieder für eine Überraschung gut.

Samstag, 7. Oktober 2006

Nachbars Katze, die ihre Beute am Limmat-Ufer fand

Ich sass am Esstisch, schaute in den Garten, trank den Morgenkaffee. Nachbars Katze sprang diagonal über unsere kleine Wiese und schwang sich wie ein Tiger über das niedere Gartentor. Schwupp. Zwischenlandung auf dem schmalen Weg, der unsere Gärten trennt und nochmals Schwupp über das gegenüberliegende Gartentor, dorthin, wo sie zu Hause ist. Ich hatte ihre Sprünge fasziniert beobachtet und bemerkt, dass sie eine Beute in der Schnauze trug. Eine grosse Beute, die ich aber nicht erkennen konnte. Keine Maus, keine Ratte. Diesen Fang wollte sie sicher ihrer Familie zeigen. Zeitung lesend, vergass ich das Gesehene. Doch Minuten später war sie wieder da, muss also mit gleicher Eleganz wieder ihre Sprünge vollführt haben.
 
Jetzt sehe ich das Beutetier mitten in unserer Wiese: Ein Erpel (männliche Ente). Verletzt ist er, versucht aufzufliegen, streckt seinen Hals, wie nach Atem ringend, in die Höhe. Will er vielleicht seine Verwandten zur Hilfe rufen und kann es nicht mehr? Ein Anblick, der traurig stimmt. Die Katze ist jetzt etwas zur Seite gewichen, hält aber die Ente in Schach. Wie ein Urzeiger wechselt sie ihren Platz. Einmal ist die Stunde voll, dann Viertel nach, dann die halbe Stunde, Viertel vor usw. So wandert der Räuber im Kreis herum. In der Mitte die geschundene Ente, die nicht fliehen kann.
 
Als ich die Nachbarin ansprechen kann, ist sie entsetzt. Sie erkundigt sich sofort bei einer Fachstelle für Wasservögel, was zu tun sei und dirigiert die Katze ins Haus zurück. Nicht mehr verfolgt, watschelt die Ente sehr langsam durch das nun offene Gartentor und erreicht innerhalb einer halben Stunde die Hauptstrasse. Fliegen kann sie nicht mehr. Inzwischen wissen wir, dass ihr Ende gekommen ist, dass Katzenbisse tödlich wirken. Dieser Ente hat vielleicht schon vorher etwas gefehlt, dass sie überhaupt gefangen werden konnte. So tröste ich mich.
 
Solche Kämpfe finden täglich zu Hunderten und unbeobachtet statt. Wir denken nicht daran. Aber wenn sie im eigenen Garten stattfinden, kann diese schonungslose Seite an der Natur nicht ausgeblendet werden.
 
Ich sehe Parallelen zu den Machtkämpfen der Menschen. So ist das Leben. Kampf und Leiden sind inbegriffen.

Dienstag, 3. Oktober 2006

Audiagogin erläuterte Bau und Funktion unseres Gehörs

Das habe ich nicht erwartet, dass ein Referat mit dem Titel „Ganz Ohr“ mein Gehör so stark sensibilisieren könnte, dass ich plötzlich Hintergrundgeräusche und das, was ich wirklich hören will, viel besser auseinander halten und Stille umfassender geniessen kann. Es geschah ohne irgendein Training, allein als Folge eines anschaulichen und spannenden Referats. Frau Gigi Ménard, dipl. Audiagogin (Schwerhörigenlehrerin), sprach im Turmzimmer der Zürcher Predigerkirche über das Hörorgan als das sozialste Sinnesorgan und wie wir Hörstörungen besser verstehen können.
 
Alle Erläuterungen liessen sofort eine grosse Ehrfurcht aufkommen. Ein Staunen über dieses Wunderwerk aus dem Zusammenspiel von Aussen-, Mittel- und Innenohr. Daran beteiligt war ein handliches Rechteck aus durchsichtigem Kunststoff, in dem die 3 Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel) eingegossen waren. Dieses in Händen zu halten, liess Grösse, Perfektion und Vollkommenheit erfassen. Aber noch mehr faszinierte mich die Gehörschnecke vom Ausmass einer kleinen Erbse aus dem Innenohr.
 
Hörstörungen können entstehen, wenn in den Gängen dieser winzig kleinen Schnecke Nervenfasern absterben. Dann findet der eintreffende Ton seine ihm eigene Frequenz nicht mehr. Solche nicht mehr ansprechbare Vokale werden dann anders wahrgenommen. Ein „i“ werde als „u“ und ein „e“ als „o“ gehört. Es nützt also nichts, wenn wir mit Schwerhörigen besonders laut reden und meinen, sie müssten uns doch verstehen. Die Hörbehinderung wird nur noch mehr bewusst.
 
Verständlich wird, dass uns alte Menschen manchmal erstaunt und fragend zuhören, aber nicht zugeben wollen, dass sie uns nicht verstanden haben. Aber da liegen dann die Missverständnisse begründet. Wer einfach ja sagt, um nicht eingestehen zu müssen, dass er oder sie nicht verstanden hat, stimmt vielleicht etwas zu, was gar nicht gewollt ist. Hören und verstehen gehören unabdingbar zusammen. Fehlt das Verstehen, ist eine Person von den andern abgetrennt, also in der Isolation und kann weder über ihr Befinden etwas mitteilen, noch irgendwelche Gedanken austauschen.
 
Ein Hörgerät kann Isolation verhindern. Auch die Referentin bedient sich einer solchen Hilfe, hat sie frühzeitig akzeptiert und wird gerade darum als kompetent und als Vorbild wahrgenommen. Schwerhörigkeit könne übrigens vererbt werden.
 
Als ich dieser Tage im Kanton Nidwalden mit einer Seilbahn wieder ins Tal zurückfuhr und mein linkes Ohr noch mit dem Druckausgleich beschäftigt war, hörte ich eine Weile nicht mehr gut. Diesmal nahm ich den Vorgang ganz bewusst wahr und freute mich, als das Ohr wieder offen und für alle Schwingungen normal zugänglich geworden war. Und ich stellte mir vor, welche Teile an meinem Gehör gerade Schwerarbeit geleistet haben.
 
Und was Frau Ménard noch unterstrich: Das Aussenohr sei grundsätzlich selbstreinigend. Niemand solle mit Wattestäbchen, Zahnstochern, Stricknadeln oder ähnlichen Werkzeugen in ihm herumstochern. Der kleine Finger allein genüge für die Reinigung. Es reiche, wenn wir nach dem Bad oder der Haarwäsche den Kopf zur Seite neigen, das Ohr am Läppchen leicht ziehen und leicht ausschütteln. Zu viel Reinigung ist schädlich, regt nur übertriebene Schmalzproduktion an.
 
Mehr Informationen bei www.pro-audito.ch

Mittwoch, 20. September 2006

Pariser Hinterhöfe: „Geteilte Gärten“ und exotische Bäume

Die Frühstücks-Lektüre von heute führte mich – schwupps – nach Paris. Der „Tages-Anzeiger“ berichtete heute von den „Geteilten Gärten“, die in der Seine-Stadt nun zum Kult geworden seien.

Brach liegende Parzellen werden nach diesem Bericht seit 2001 als Gärten genutzt, sind Alternativen zu den bekannten Parkanlagen und beleben Hinterhöfe und ungenutzte, noch nicht zubetonierte Grundstücke. Das System scheint einfach: „Wer einen ‚Geteilten Garten’ will, muss ein Stück Land finden und einen Verein gründen. Die Stadt liefert die Erde, den Zaun und den Wasseranschluss“, heisst es in diesem Aufsatz vom 20.9.2006. Die Bezeichnung „geteilt“ verstehe ich dahin, dass nicht einer allein einen solchen Garten erblühen lassen kann.

Das schöne Bild zur Reportage zeigt einen farbigen, wild romantischen Gartenfleck, umgeben von typischen Pariser Wohnhäusern und am Rand ein Baum, der alles Wachstum zu beschützen scheint. Sein gefiedertes Blattwerk ist mir sofort aufgefallen. Entstammt er vielleicht einer Akazienfamilie?
Dann wäre er mit der Seidenakazie, auch Schlafbaum genannt, verwandt. Diesen habe ich im Juli im Gelände der grossen Klinik Bichat in Paris entdeckt. Da standen eine ganze Reihe dieser Exoten und fächelten mir einen milden Duft zu. Ich staunte, hatte noch nie so grosse und doch so zart gebaute rosafarbene Blütenquasten gesehen. Ich fotografierte sie, aber sie entzogen sich mir lange. Der leiseste Wind bewegte die extrem feinen, seidenen Fäden unaufhörlich. Die Kamera konnte nur eine Art Aquarell abbilden. Einmal, bei kurzer Windstille, gelang es dann doch, dieses Blütenwunder festzuhalten. Die genaue Bezeichnung dieses Baums konnte ich dann beim Botanischen Garten in Zürich erfragen. Es handelt sich um die „Albizia julibrissin“, auch Seidenakazie genannt. Im Internet sind viele Abbildungen von ihr zu finden. Es wurde auch mitgeteilt, dass ein solcher Baum auf dem Gelände des Botanischen Gartens Zürich stehe und in heissen Sommern auch bei uns blühe. Der Baum stamme ursprünglich aus Asien.

Letzte Woche habe ich einige Exemplare auf dem Friedhof Küsnacht Dorf entdeckt. Dort zieren diese schönen Fremdlinge das Gemeinschaftsgrab. Das gefiederte Blattwerk ist Licht durchlässig, nimmt dem Ort die Düsternis und Strenge. Und der Name Schlafbaum passt wohl ausgezeichnet in einen Friedhof.
Auch in Paris werden jetzt aus den Blüten Bohnen gewachsen sein. Dort stehen die Albizia-Julibrissin-Bäume neben der Maternité und begrüssen die Neugeborenen, wenn sie aus der Klinik entlassen werden.

Diese Bäume haben mich damals als wartende Grossmutter angesprochen. Sie kitzelten meine Nase, führten mich beim Fotografieren im Kreis herum. Sie lachten vielleicht über mein Erstaunen. Auf jeden Fall werden sie ewig mit der Geburt von Nora in Verbindung stehen. Und wer weiss, vielleicht wollten sie mir orakeln, dass das Neugeborene ein heiterer Mensch werde, so beweglich wie ihr filigranes Blattwerk und so feinfühlig und stark wie die Seidenfäden der Quaste.

Freitag, 8. September 2006

China-Garten: Im Herbst „Drei Freunde im Winter“ besucht

Ein paar geheimnisvolle Sätze als Einleitung:

„Die Mauer trennt die äussere, profane Welt vom künstlerischen, idealen Mikrokosmos im Garteninnern – bietet aber auch Schutz vor ungebetenen Besuchern.“

„Neun Nagelreihen und die rote Farbe des Tores sind in Z.-Ch... ursprünglich dem Kaiser vorbehalten.“

„Felsformationen sind wie die Knochen im Körper: Sie geben dem Garten erst Halt.“

„Sobald man den Pavillon betritt, verdoppelt der Wasserspiegel die Gebäude und vermittelt so eine neue Sicht des Raumes.“

„Der Sechseckpavillon suggeriert die luftigen Höhen mit dem Schneetreiben im Winter.“

Der Teichrand ist mit Weiden gesäumt, die im Winde wiegend an die Biegsamkeit und Anmut von Tänzerinnen erinnern.“

Diese Beschreibungen entnahm ich dem Prospekt für den „Chinagarten Zürich – Drei Freunde im Winter“. Die Symbolik nennt drei Bäume, die dem Winter trotzen: Die Föhre, der Bambus und die Winterkirsche.

Ein paar Schritte nur durch den kleinen Gang der oben erwähnten Mauer und wir sind in China angekommen. Die Inschriften würden auf die Eigenart und Kultur Yunnans hinweisen, erfahre ich ebenfalls aus dem Faltblatt.

Dann aber lege ich es zur Seite, wie immer, wenn ich mit Gästen von auswärts hier ankomme. Wir sind es nicht gewohnt, diese hohe Kultur über symbolische Worte ganz zu verstehen, wohl aber wirkt sie ganzheitlich auf uns und stimmt uns heiter. Natur und Kultur sind hier vereinigt, zeigen uns ihre schönsten, vornehmsten Seiten und entführen uns in fremde Sphären. Die Blickpunkte, Sichten und Durchsichten sind mannigfaltig und die Farbspiele wirken wie Musik. Es fällt mir immer wieder auf, wie die Besuchenden, von dieser Atmosphäre berührt, stille werden. Niemand muss hier sagen, verweilen sei wichtig. Bäume, Bauten und Wasser tun das auf ihre Art.

Gestern war ich wieder einmal in diesem China, das die Partnerstadt Kunming der Zürcher Bevölkerung vor 13 Jahren als Dank für technische und wissenschaftliche Hilfe beim Ausbau der Kunminger Trinkwasserversorgung und Stadtentwässerung geschenkt hat.

Diese Oase verdient es, dass im Blogatelier auf sie aufmerksam gemacht wird.

Der Chinagarten befindet sich auf der Blatterwiese an der Bellerivestrasse in Zürich und ist von Ende März bis Mitte Oktober täglich von 11 bis 19 Uhr geöffnet und z. B. mit dem Limmatschiff (bis Zürichhorn) angenehm zu erreichen.

Freitag, 1. September 2006

Schlagzeilen, die zum Sinnieren animieren: „Bin ich ICH?“

Bekanntlich bin ich etwas wortsüchtig. Ich fange gerne Schlagzeilen auf und mache mir meine Gedanken dazu. Heute nun, im Tram Nummer 4 in Zürich, erhasche ich die Frage: „Haben Sie einen bestimmten Grund für das Gesicht, das sie gerade machen?“

Was soll das? Vor dem Aussteigen entnehme ich dem dazugehörigen Prospekt-Behälter ein Reklameblatt mit einer weiteren Frage: „Bin ich ICH?“ Spannend. Aber erst zu Hause habe ich dann die nötige Ruhe, um das Gedruckte zu lesen. Es ist nichts anderes als der Spielplan des Zürcher Schauspielhauses mit einzelnen Zusammenfassungen von Gastspielen, die im „Schiffbau“ oder „Pfauen“ zu erleben sind. Aber keine direkten Bezüge zu den Fragen, die mich angesprochen haben.

Gut gemacht, Werber. Mich habt ihr im Sack.

Die Fragen muss ich also selber beantworten. Und der Spiegel, der mir zeigen würde, wie ich gerade aussehe, fehlte auch. Ich sähe meine Regungen auch im Theater nicht, wenn ich den verlockenden Aufführungen folgen würde. Aber Anregungen zum Sinnieren sind sie schon. Wie schaue ich aus? Wie nimmt mich das Gegenüber wahr? Es können immer nur kurze Sequenzen sein, die etwas ausdrücken, was mich gerade beschäftigt. Bekanntlich purzeln Gedanken hin und her. Bedenkenswert auch, dass wir gar nicht immer gleich aussehen können.

Im Theater wird mit dem Leben abgerechnet. Es wirft schonungslos Fragen auf, wühlt uns auf, um uns und unser Verhalten besser zu erkennen. „Bin ich ICH?“ ist eine Frage nach der Lebensaufgabe. Bin ich die, die ich sein soll oder eifere ich Wunschbildern nach?

Wenn ich mich sein kann, wird sich das in meinem Gesicht ausdrücken. Nicht als Momentaufnahme, sondern als eine innere, wohltätige Ruhe.

Ob diese allen gefällt, sei dahingestellt. Für die, die den Kampf lieben, ist sie wohl zu langweilig.