Sonntag, 20. November 2016

Nach der Beerdigung öffneten sich Türen und Tore

Es gibt Wünsche, die jahrzehntelang auf ihre Erfüllung warten. Unerwartet erwachen sie eines Tages und werden wahr. Primo erlebte kürzlich einen solchen, beinahe magischen Moment.

Die Beerdigung einer Verwandten aus seiner Grossfamilie fand in kleinem Rahmen statt. Wir trafen uns im Feld des Gemeinschaftsgrabes im Zürcher Friedhof Sihlfeld. Der Sohn der Verstorbenen und seine Frau waren aus den USA angereist. Eine Nichte, von ihrem Mann begleitet, war aus Deutschland nach Zürich gekommen. Dieses Paar kannten wir noch nicht.
Wir standen um das vorbereitete Grab. Da entdeckte ich am Boden abgefallene Blätter eines Parkbaumes, dessen Name ich immer noch nicht kenne. Ich hob eines auf und sagte mehr zu mir selbst als zu anderen, hier sei Leben und Sterben abgebildet. Es war eines von vielen. Sofort wurde ich verstanden. Jedes der abgefallenen Laubblätter trug nämlich neben dem vertrockneten Braun auch ein Stück lebendig wirkendes Grün.
Wenige Augenblicke später sah die Frau aus Koblenz ein vierblättriges Kleeblatt in der Wiese. Sie pflückte es und schenkte es mir.

Es fand keine religiöse Zeremonie statt. Und doch wurde die Lebensgeschichte einer Mutter sehr einfühlsam und liebenswürdig erzählt. Dankbar skizzierte der Sohn ihr Leben und wir Verwandte werden unsere persönlichen Erlebnisse mit ihr denkend dazugefügt haben.

Die Enkelin der Verstorbenen, ebenfalls in Amerika lebend, übergab ihrem Vater einen Text und bat ihn, jemanden zu bestimmen, der ihn am Grab vorlesen könne. Ihr war es nicht möglich, nach Zürich zu reisen. Sie liess ausrichten, dass ihr die Grossmutter diesen Reim beigebracht habe. Vermutlich hat sie ihn immer wieder hören wollen. Darum sollte er auch am Grab nochmals erklingen. Mangels anwesenden italienisch sprechenden Personen, wurde Primo gebeten, den Text L’orfano (La neve) di Giovanni Pascoli zu lesen. Er spricht aber nicht italienisch.
Bevor er zu lesen begann, sagte er, dass er als Italiener geboren worden sei. Kindergarten und ein Jahr Primarschule habe er in der Casa d’Italia erlebt. Der Umzug in die Schweizer Schule verhinderte dann eine weitere Entwicklung der italienischen Sprache.

Die Musikalität aber ging nicht verloren. Seine Seele hat sie am Leben behalten. Und gerade darum, dass der Text am Grab der Verstorbenen nicht übersetzt werden musste, konnten die klangvollen Worte wirken. Es war für alle ein berührender Moment.

Beim anschliessenden Mittagsmahl entstanden zwischen dem Verwandten aus Koblenz und Primo interessante Gespräche. Ihre Berufe wurden besprochen. Als Primo berichtete, dass er als selbständiger Möbelschreiner arbeite, wollte der Mann aus Deutschland wissen, ob ihm Möbel von Abraham und David Roentgen ein Begriff seien. Und das war dann Primos magischer Moment. Er erzählte, dass er vor 60 Jahren, zur Zeit seiner Berufslehre als Möbelschreiner auf David Roentgen und seine Luxusmöbel aufmerksam gemacht worden sei. Sein Lehrer in der Gewerbeschule zeigte den Lehrlingen Lichtbilder von Verwandlungstischen, Kommoden, Stühlen, Schatullen usw. Alles hochkarätige Kunstwerke, denen er immer nacheifern wollte. In späteren Jahren festigten jeweils Publikationen von Roentgen-Möbeln in der Schreinerzeitung die Begeisterung aufs Neue. Und manchmal mag er geträumt haben, das Roentgen-Museum doch einmal aufsuchen zu können.
Promenade in Koblenz
Und plötzlich ist der Weg dorthin gebahnt. Wir wurden nach Koblenz und nach Neuwied ins Roentgen-Museum eingeladen.

Unsere Gastgeber haben darüber sinniert, ob vielleicht die verstorbene Tante Leni dafür gesorgt habe, dass wir einander kennen lernten.

Und mehr noch staunten wir, als wir erfuhren, dass dieses Paar zu den Donatoren des Roentgen-Museums Neuwied gehört.

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