Am 30. August 2010 hatte ich einen Hinweis auf die Arbeit des Künstlers Mats Staub erhalten. Er sammle seit Jahren Erinnerungen an Grosseltern und zeige vom 3. September bis 10. Oktober 2010 Teile davon im Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16 in Bern. Und im September werde auch sein Buch „Meine Grosseltern“
(Edition Patrik Frey) erscheinen. Es hiess dazu, diese Ausstellung
dürfte mich interessieren. Und das sei der Link: „erinnerungsbuero.net“.
Was ich da sehen und lesen konnte, packte mich. Ich fing auch einen Hinweis auf, der Künstler zeige sein Erinnerungsbüro am Zürcher Theater Spektakel
und lade ein, von den eigenen Grosseltern zu erzählen. Einer der
gesammelten Pressestimmen entnahm ich den Hinweis, das Erinnerungsbüro
könne noch bis zum 31. August auf der Landiwiese besucht werden. Also
noch heute und morgen, stellte ich fest. Das traf sich gut. Ich konnte
diese Ausstellung im letzten Moment besuchen. Der Ort war mir bestens
bekannt, und ich wusste, dass das Theater Spektakel noch gastierte. Ich liess alles liegen und fuhr an den See.
Als ich auf der Landiwiese ankam, fand ich nicht, was ich suchte.
Kein hölzerner Turm, wie er auf einer Filmsequenz im Internet zu sehen
war. Weder der diensttuende Wächter an einem der Eingangstore noch die
beiden Männer am Billettschalter wussten etwas von Erinnerungen an
Grossmütter oder von Mats Staub. Sie durchsuchten erfolglos das
umfangreiche Programmheft. Einer der beiden riet mir dann, im Container
der Organisatoren vorzusprechen. Dort vorne links neben der alte Weide
befinde sich ihr Büro. Und dort erfuhr ich dann, dass die von mir
gesuchte Ton- und Fotoinstallation im Vorjahr auf diesem Kulturplatz
eingerichtet worden sei. Richtig, sogar vor 2 Jahren, wie ich später
feststellte. Innerhalb jenes Pressetexts, der für mich wegweisend war,
wurde nur der 31. August, nicht aber die dazugehörige Jahreszahl
genannt. Das sprach für die Gegenwart. Darum befand ich mich zur
falschen Zeit an diesem Ort.
Ich war aber nicht vergebens gekommen. In diesem schlichten Büro
mit den unkomplizierten Menschen erhielt ich den Hinweis, die Zeitung reformiert (Kirchenbote
Kanton Zürich) habe sich in der neuesten Ausgabe Nr. 9 vom 27. August
2020 ebenfalls dem Thema der Grosseltern angenommen und über Mats Staub
berichtet.
Auf dem Rückweg suchte ich den grössten Zeitungs- und Zeitschriftenkiosk von Zürich auf und fragte nach der Zeitung reformiert.
Als Antwort erhielt ich, unabhängig voneinander, zweimal nur ein müdes
Lächeln. Was nicht zum Mainstream gehört und noch auf Religion hinweist,
wird belächelt, auch wenn es Format hat.
Ich habe weiter gesucht und bin in der evangelisch-reformierten
Predigerkirche in der Zürcher Altstadt fündig geworden. Dort lag die
Zeitung auf. Ich konnte ein Exemplar mitnehmen. Das erwähnte Thema
Grosseltern wurde auf 7 Redaktorinnen und Redaktoren aufgeteilt. Sie
erzählen in ihren Beiträgen die persönlichen Grosseltern-Geschichten und
illustrieren sie mit alten Fotos einfühlsam und spannend. Zu lesen auch
auf www.reformiert.info.
Von solchen Geschichten lasse ich mich gern ansprechen. Sie werten
sogar die eigenen auf und machen bewusst, wie einmalig sie sind und dass
wir ein Glied in einer unvorstellbar langen Kette sind. „Leben heisst
Ahnen haben“ steht über dem Dossier „Die Grosseltern“ in der erwähnten
Zeitung.
Und vom 3. September bis 10. Oktober 2010 zeigt nun das Museum für
Kommunikation in Bern die von mir gesuchte und wohl erweiterte
Ausstellung „Meine Grosseltern – Alte Geschichten in Bild und Ton“. Da sie vor 2 Jahren ausserordentlich viele Menschen anzog, dürfte sie auch jetzt wieder ein Magnet sein.
Das Thema Grosseltern wird gegenwärtig so positiv behandelt, weil
die „Alten“ heute viel Betreuungsarbeit leisten. Es wird von jährlich
100 Millionen Betreuungsstunden gesprochen. Ohne Grosseltern könnten
heute viele jungen Mütter ihre Berufsarbeit nicht ausüben.
Auch meine Mutter war auf ihre Mutter angewiesen, damit sie Geld
verdienen konnte. Wenige Wochen alt, kam ich zu ihr, als der 2.
Weltkrieg ausgebrochen war. Von einem Tag auf den anderen hatten meine
Eltern ihre Existenz verloren. Die Mobilmachung zog den Vater aus der
Familie fort. Er musste Aktivdienst leisten. 9 Monate dauerte sein
erster Einsatz. Eine Lohnentschädigung stand ihm nicht zu, weil er
Selbständigerwerbender war.
Bis zu Grosis Tod fühlte ich immer eine grosse Geborgenheit, wenn
ich sie besuchte. Die positive Kraft, die sie für mich ausströmte, blieb
ihr Leben lang erhalten. Ich führe es darauf zurück, dass erste
Lebenserfahrungen in ihrem Umfeld stattfanden. Sie kümmerte sich um
mich. Sie half mir auf die Beine. In ihrem Haus lernte ich laufen. Im
Winter zog sie mich auf dem Schlitten ins Dorf. Sie war für mich der
ruhige Pol, eine ausgeglichene und geduldige Frau und in diesem Sinn
eine starke Persönlichkeit. Sie brachte 9 Kinder lebend zur Welt.
Zwillinge starben vermutlich noch im Mutterleib. An ihrem Arbeitsplatz
in der Weberei liefen die Webstühle noch an einer Transmission und waren
mit Lederriemen verbunden. Ein mit einer kleinen Reparatur
beschäftigter Webermeister kam einem Transportriemen zu nahe, dieser
riss ihn in die Höhe und verklemmte ihn in der Transmission. Dieses
Unglück erlebte mein Grosi als schwangere Frau hautnah mit.
Wahrscheinlich tötete der Schock die im Mutterleib heranwachsenden
Kinder. Es stellten sich Blutungen ein. Tage später dann Wehen. Unter
schlimmsten Schmerzen kamen 2 Knaben tot zur Welt.
Grosis älteste Tochter hat diese Geschichte für die Familie
aufgeschrieben. Es heisst da: Heute würde eine so verunglückte Frau
sofort ins Spital gebracht. Damals gab ihr der Hausarzt ein
blutstillendes Mittel und überliess sie dem Schicksal. In diesem Bericht
wird auch noch davon erzählt, wie der Arzt dann nach der Geburt auf sie
gekniet sei, um die Nachgeburt auszukratzen. Eine fürchterliche
Prozedur, natürlich ohne Narkose.
Was haben die Frauen von damals alles aushalten müssen!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen